Vier Menschen als Raketen

Magritte, ein Meister der Illusion, als Rakete. © Ian Burt under cc

Wenn wir von Realität und Phantasie reden, dann ist deren Gewichtung zunächst relativ klar. Realität, das ist unser Anker, sie steht auf Seiten der Vernunft, gilt irgendwie auch als eine Art Lebensziel: „Werd‘ endlich realistisch.“ „Hör auf zu träumen, komm‘ mal in der Realität an.“

Aber Realität ist nicht das dröge Anbeten des Status quo, sondern Realität heißt auch zu begreifen, dass wir keine Computer mit Ohren sind, sondern immer auch fühlende, phantasiebegabte Wesen, solche, die übrigens oft sehr wenig in „der Realität“ leben (genauer: in dem oft verkürzten Bild, was man sich von „der Realität“ macht), sondern, die Vergangenem nachhängen, über die Zukunft phantasieren und darüber, wie sie wohl ankommen, was andere über sie denken, ob sie sich richtig oder falsch verhalten haben. Kurz, wir sind Wesen, die immer auch in Möglichkeitsräumen unterwegs sind. Und das nicht nur für fünf Minuten am Wochenende oder wenn man mal nicht einschlafen kann, sondern in einen riesigen Bereich des Lebens. Die Realität ist, dass wir den größten Teil des Tages in Phantasiewelten spazieren, tagträumen, auch wenn wir immer wieder zu Knotenpunkten gelangen, die wir mit anderen teilen.

Die sogenannte Phantasie nimmt einen viel größeren Raum ein, als wir meinen, nur hat sie keinen guten Klang, auch in der Psychologie nicht. Phantasie, das klingt so flatterhaft, unerwachsen, nach Flausen, bloßen spontanen Endrücken, nichts, was von Dauer wäre. Diese Gewichtung verdanken wir in einem hohem Maße Freud, der stark auf die Stimme der Vernunft setzte und auf die zweifellos vorhandene Kraft deutender Ansätze. Eine Herausforderung stellen demgegenüber Ansätze dar, die mehr auf die Kraft von Imagination, Phantasie, Kreativität setzen und nicht alle Gleichungen in Richtung Vernunft und Realität auflösen wollen. Es geht nicht um den ewigen Kampf, sondern um die Frage, wie man beide Aspekte unseres Soseins sinnvoll ergänzen kann.

Realitätsprüfung

Die Realitätsprüfung ist ein neben der Identitätsdiffusion das andere bedeutende Kriterium in der psychologischen Diagnostik. Unter Realitätsverlust versteht man im psychologischen Sinne in etwa das, was man im Alltag auch darunter versteht. Jemand ist verrückt, psychotisch würden Psychologen sagen, man kommt nicht mehr zu ihm durch, er lebt (im Moment) in seiner eigenen Wahnwelt. In Ansätzen kann man diese Welt verstehen, sie ist nicht nur irre, sondern hat durchaus ihre eigene Logik, nur lässt die selten Korrekturen und Dialoge zu.

Die klassischen Elemente des Realitätsverlustes sind das Sehen von Bildern, die niemand anders sieht, Stimmen, die niemand anders hört und Größen- oder Schuldphantasien. Dazu gehört, dass man in Zeit, Raum, zum Ort oder zur Person nicht orientiert ist. Wer glaubt er sei Jesus, Alexander der Große, die Jungfrau Maria oder mit seinem Schutzengel spricht, um den sollte man sich zu dessen eigenem Schutz erst mal Sorgen machen. Doch immer wieder erleben Menschen merkwürdige Momente in Gipfelerfahrungen, mitunter hören sie Stimmen oder sehen Bilder ohne psychotisch zu sein.

Es kann sein, dass jemand im Rahmen einer Pseudohalluzination durchaus rational ansprechbar ist und sich selbst fragt, ob das was er sieht real ist oder nur seine Einbildung. Stimmen hören weit mehr Menschen, als man dachte und es ist eher die Art wie man mit ihnen umgeht, als die Tatsache, dass man sie hört, die entscheidet, ob jemand psychotisch ist, oder nicht.

Die Realitätsprüfung ist auch dann nicht misslungen, wenn man sich auffällig verhält. Das entscheidende Kriterium ist, ob man empathisch mit der gesellschaftlichen Normalität ist. Das heißt nicht, dass man sie befürworten muss, sondern dass man wissen sollte, wie eine Verhaltensweise in der Gesellschaft, mindestens im Mainstream, ankommt. Wer also eine abweichende Verhaltensweise zeigt und weiß, dass er dadurch Irritationen hervorruft, ist vielleicht ein bunter Hund, aber nicht psychotisch. Wer hingegen, auch bei einer taktvollen Nachfrage nicht darauf kommt, dass das eigene Verhalten überhaupt anstößig, sonderbar oder irgendwie verrückt wirken könnte, der leidet unter Realitätsverlust. Die schweren Formen sind für alle Menschen leicht zu erkennen, die Differentialdiagnose der subtilen Formen, die atypischen Psychosen müssen getestet werden.

Soviel Realität muss sein, wird aber auch stets vorausgesetzt. Wenn wir einem anderen Menschen begegnen, gehen wir davon aus, dass er die Welt im wesentlichen so wahrnimmt wie wir, sieht, dass das vorne ein Haus steht, weiß, was mit der Frage nach der Uhrzeit oder dem Weg gemeint ist und auch, wie man sich in der Öffentlichkeit bewegt und benimmt. Wir gehen stillschweigend davon aus, dass das funktioniert und sind schwer irritiert, wenn jemand diese gesellschaftlichen Grundlagen überhaupt nicht teilt.

Realität als Ideologie

Etwas anderes ist es, wenn jemand, oft mit heftigem Nachdruck, betont genau so und nicht anders sei die Realität. Was diese Menschen eigentlich meinen ist, dass das ihre Lesart von Realität ist, der man bitte nicht widersprechen soll. Auch ihre Sicht ist eine mögliche Interpretation, allerdings reagieren Menschen, die mit einer gewissen Rigidität von Fakten, Wahrheit und Realität reden allergisch auf Begriffe wie „Interpretation“, „Lesart“ oder „Deutung“, ihnen ist es wichtig, dass ihre Art die Welt zu sehen real ist und damit die einzige vernünftige Möglichkeit dieselbe zu betrachten. Gerne benutze Wendungen in diesem Zusammenhang lauten „Tatsache ist, …“, „Fakt ist, …“, „So ist das eben!“ oder auch „So einfach ist das!“ Hier wird kein Widerspruch geduldet, will man nicht zu den „Realitätsverweigerern“ gehören. Ein kategorialer Fehler. Diese Interpreten meinen (normativ), man dürfe etwas nicht anders sehen, man kann es (deskriptiv) nämlich durchaus, wie ihnen jeder zeigt, der ganz einfach anderer Meinung ist.

Doch so leicht wir uns im Alltag darüber verständigen können, so teuflisch ist es im Detail, wenn man der Frage, wo die Realität endet und die Phantasie beginnt wirklich nachgeht. Dicke Bücher wurden und werden darüber geschrieben und man kann die Frage nicht mal eben im Vorbeigehen klären, weil bereits unsere Sinneswahrnehmung Interpretation und keine reine Abbildung des „da draußen“ in mir ist, weil kulturelle Vorgaben unsere Wahrnehmungen verändern, weil mit den Affekten/Gefühlen und der Sprache zwei Kommunikationssysteme in uns verbacken, weil wir semantisch immer mit Assoziationswolken agieren, statt mit präzisen Einzelbegriffen, weil wir psychologisch immer in Projektionen leben und philosophisch unser Welterleben ganz wesentlich von den Vorannahmen (Präsuppositionen, Prämissen) abhängt, die wir von unserer Umwelt präsentiert bekommen.

Rationalität und Irrationalität

Gerne werde bestimmte Denksysteme auch als irrational bezeichnet und darin liegt bereits eine Wertung, unter anderem auch die, dass Rationalität stets besser als Irrationalität sei. Und irgendwie auch der Realität näher. Aber wieso sollten rein rationale Konzepte für Wesen, die eben nachweislich alles andere als rein rational sind, so prima passen? Das mag für Supercomputer oder bestimmte gesellschaftliche Systeme der Fall sein, aber wir sehen aktuell, dass man sich auch zu Tode optimieren kann. Das System mag immer effizienter werden, nur der Mensch bleibt dabei immer häufiger auf der Strecke. Alles wird immer besser, man fühlt sich nur nicht wohler. Hier klafft eine gehörige Lücke.

Rationalität und Emotionen sind kein Widerspruch, können aber einer sein. In einem psychisch gesunden Menschen sollten sie weitgehend übereinstimmen und es sind die Emotionen, die bestimmte Eckpunkte unseres Erlebens markieren. Manche Dinge mag man scheinbar grundlos gut oder überhaupt nicht leiden. Das läuft unter Geschmacksfragen. Diese kann man vielleicht in einzelnen Punkten rational herleiten, doch nicht immer ist das der Fall. Vielleicht ist man vom Wickeltisch gefallen, als es in der Wohnung nach Fisch roch und seit dem mag man keinen Fisch mehr, das könnte, muss aber keine Erklärung sein. Bestimmte Namen, Menschen, Situationen evozieren vielleicht frühere, ähnliche Erfahrungen, aber auch das kann genausogut unserem Wunsch geschuldet sein, lieber irgendeine Erklärung zu haben, als keine.

Emotionen sicher innere Beteiligung, Kommunikation und sie motivieren uns. Die Rationalität der Emotionen wird derzeit wieder stärker beleuchtet. Das Affektsystem ist eine evolutionär recht junges System und insofern auch ein hochdifferenziertes. Es ist sehr nützlich, aber man kann die Gleichung unseres Lebens vermutlich so wenig nach der Seite auflösen, dass Emotionen immer recht hätten oder eine tiefere Wahrheit repräsentierten, wie zur anderen Seite, dass Emotionen stets ein Irrtum, ein Ausdruck der Irrationalität des Menschen seien, den es zu überwinden gelte. So einfach ist es dann doch nicht. Ob die eigene Rationalität der Emotionen eine ist, die man in Algorithmen erfassen und berechnen kann, ist alles andere als ausgemachte Sache. Man weiß halt nicht, welche Mischung von Emotion und Kognition den nächsten Terroristen, Heiligen oder Spitzensportler ausmacht. Was den einen motiviert, frustriert den nächsten, wo der eine seine Freiheit genießt, wird der andere orientierungslos und verunsichert.

Neben der wiederentdeckten Rationalität der Emotionen, gibt es auch eine Art Irrationalität rationaler Systemen, auch wenn das erst mal ein Widerspruch ist. So waren beispielsweise die Konzentrationslager der Nazis ein Ausdruck zutiefst rationaler Planungen gewesen, logistisch optimiert, nur eben jeden Rest an Menschlichkeit ausblendend. Die Menschlichkeit ist aber keine reine Denkleistung, sondern eine grundsätzliche Fähigkeit zum Mitgefühl, die im besten Fall auch in ideologischen Systemen nicht zerstört wird. Begriffe wie Vernunft, Klugheit oder gesunder Menschenverstand implizieren bereits, dass es um mehr als instrumentelle Vernunft und reine Rechenleistung geht, sondern auch emotionale Impulse beinhaltet.