Die Gesellschaft wird immer depressiver: Die erhobenen Daten sind ziemlich eindeutig und sie beziehen sich nicht nur auf Deutschland, sondern auf Europa und die gesamte industrialisierte Welt. Dabei leben wir in recht stabilen Verhältnissen, insbesondere in Europa.
Was also ist anders geworden, in den letzten Jahren und Jahrzehnten, so anders, dass immer weitere Teile der Gesellschaft darauf zunehmend depressiv reagieren?
Zunehmende Unsicherheit
Eine Veränderung ist die zunehmende Unsicherheit, durch einen schleichenden Wegfall etablierter Strukturen und Weltbilder.
Beispiel Familie
Die meisten jungen Menschen haben auch heute noch (oder: gerade heute wieder?) eher traditionelle Wünsche: Familie, Treue, Haus und Garten, zwei Kinder und Hund. Das Institut rheingold spricht in seiner Jugendstudie 2010 in diesem Zusammenhang von der „Generation Biedermeier“. Innerlich zerrissen, sehnen sie sich nach Tradition und Privatheit. Doch die Lebensrealität, die die junge Generation am eigenen Leib erfährt, sieht anders aus. In Großstädten wird bereits jede zweite Ehe wieder geschieden, die Familie als Ort der Beständigkeit ist in Gefahr.
Beispiel Beruf
Eine Berufskarriere wie in den Vorgängergenerationen ist heute eher untypisch. Leiharbeit, Beschäftigungen im Niedriglohnsektor, mangelnde Anerkennung der beruflichen Leistungen und diverse Praktika sind ein Zeichen dieser Entwicklung. Die ehemals klassische Vorstellung in jungen Jahren in einen Beruf einzusteigen und in diesem dann bis zur Rente zu arbeiten, ist immer seltener zu verwirklichen. Die Realität sieht zunehmend so aus, dass man während des Lebens den Job wechselt und sogar mehrere Beschäftigungen gleichzeitig hat.
Unter dem Stichwort „Flexibilität“ wird heute in der realen Beschäftigungswelt oft genug verstanden, dass man zu jeder Zeit, an jedem Ort, jede sich bietende Gelegenheit annimmt. Dass bei diesem Modell, das nicht selten mit Umzügen und Unsicherheiten zu tun hat, die Familie auf der Strecke bleibt, ist ein Nebeneffekt, der oftmals in eine Abwärtsspirale führen kann.
Beispiel finanzielle Sicherheit
Oft reichen die vielen Jobs aber nicht aus, um eine halbwegs sichere finanzielle Grundlage zu erwerben, das eigene Haus und vor allem die Planung der Nachkommen fallen dann schon mal, entgegen den eigentlichen Wünschen, unter den Tisch.
Der Blümsche Klassiker der „sicheren Renten“ mutiert eher zur vagen Hoffnung, als zu einem Garanten, der der wachsenden Verunsicherung etwas entgegenstellen kann.
Beispiel Weltbild
Auch im Weltbild bröckeln Elemente, die uns verbinden, vor allem büßen sinnstiftende Instanzen zunehmend ihre Autorität ein. Wagen wir einen Blick in die Vergangenheit, so standen vor 100 Jahren noch die klassischen Autoritäten hoch im Kurs: Pfarrer, Ärzte, Lehrer, Politiker. In Zeiten von bekannt gewordenen Skandalen von gewalttätigem und sexuellem Missbrauch, wachsender Transparenz und Informationsmöglichkeiten durch das Internet haben sie ihre ehemalige Stellung weitgehend verloren, was damit allerdings zugleich für ihre sinnstiftenden und wertevermittelnden Möglichkeiten gilt.
Doch auch moderne Möglichkeiten der Orientierung lassen uns im Westen im Stich: Wissenschaft, Technik und die Demokratie scheinen an ihre Grenzen zu geraten, zumindest wenn es um Stabilität und Orientierung geht. Blicken wir wieder zurück: Anfang der 1970er war man voller Euphorie: Den Mond erobert, die Antibiotika wirkten, Mittel gegen die großen Krankheiten, so dachte man, nur eine Frage von Zeit und Fortschritt, Energiesorgen kannte man noch nicht.
Politik, eine weitere sinnstiftende Instanz, verliert insgesamt an Zustimmung. Über annähernd 20 Jahre vereinten die beiden großen Volksparteien etwa 90 % der Stimmen auf sich, bei hoher Wahlbeteiligung. Seit 1980 sinkt die Zustimmung bei wachsendem Desinteresse der Wähler.
Wer Freund und Feind war, war je nach politischer Ausrichtung zwar unterschiedlich, aber eindeutig. Man wusste, wo die „Guten“ und die „Bösen“ saßen, heute ist man sich diesbezüglich nicht mehr sicher, unsere Empfindung von Welt ist komplexer geworden.
Beispiel Zukunft
Wenn dann auch das Bild der Zukunft eher düster als rosig gemalt wird – man braucht nur die Stichworte Klimawandel, Finanzkrise, Terrorismus, Rohstoffe und Demographie zu nennen -, mag man einen Eindruck von der Zerrisenheit und Verunsicherung der Jetztzeit haben und nachempfinden, warum sie sich ins Private zurückziehen möchten oder auf die wachsenden Anforderungen bei sinkenden Orientierungsangeboten, tendenziell depressiv reagieren und das auch, wenn der Bauch voll ist und kein Krieg herrscht.
Quellen:
- Neuro24, Depression
- Haben Depressionen wirklich zugenommen – oder werden sie nurhäufiger erkannt, diagnostiziert und behandelt?, H.-U. Wittchen
- rheingold, Jugendstudie 2010