Armeestiefel in Reih und Glied

Notwendigkeit, Normalität, Normopathie, normaler Wahnsinn? Symbol für Tote des Irak-Einsatzes. © soundfromwayout under cc

Das Ziel von Psychotherapien ist häufig die Ermöglichung der Teilnahme am normalen Leben, wobei automatisch die Frage auftaucht, wie Normalität eigentlich definiert wird. Freuds altes Diktum der Wiederherstellung der Liebes- und Arbeitsfähigkeit ist besser als es klingt. Doch die Psychoanalyse hat selbst einen in der Öffentlichkeit gar nicht so stark registrierten Wandel hinter sich, von der Ich-Psychologie zur Objektbeziehungstheorie, bei der, wie der Name schon sagt, auf die Normalität von Beziehungen Wert gelegt wird.

Zwei Arten Normalität

Psychische Normalität hat zwei Aspekte. Zum einen der Durchschnitt dessen, was die Gesellschaft so macht und denkt, die Normalität von Otto Normalverbraucher und Marianne Musterfrau. So will natürlich niemand sein, aber ungesund ist es erst mal nicht, außer in einer Gesellschaft, die selbst schon krank ist, was eine unvermeidliche Folge tyrannischer und diktatorischer Systeme ist. Dennoch ist diese Definition von Normalität nicht sonderlich brauchbar, denn, wenn die Mehrheit einer Bevölkerung einen Social Media Account, Karies oder Übergewicht hat, so ist diese Normalität doch nicht in allen Fällen erstrebenswert, schon gar nicht als therapeutisches Ziel.

Der zweite Aspekt ist die Darstellung der Normalität als Ideal. Ideal bedeutet hier nicht Perfektion, sondern die Bedingungen dessen erfüllend, was man für ein wünschenswertes Ziel hält – ähnlich dem gesunden Menschen in den Anatomiebüchern der Medizin. Es gibt ihn eigentlich nicht, doch er steht für den gesunden Idealtypen, an dem man sich therapeutisch orientiert. In diesem zweiten Sinne verstanden, hängt ein psychischer Idealzustand immer ein wenig außer Reichweite, aber man weiß wenigstens, wo die Reise in etwa hingeht.

Psychische Normalität kann man in kurzer Form so zusammenfassen, dass sie gegeben ist, wenn ein Mensch sich traut, seine im besten Fall reflexiven Vorstellungen und Meinungen geltend zu machen, während er die Ansprüche anderer zugleich erkennt und anerkennt und über eine hinreichende Affekt- oder Impulskontrolle verfügt. Man sollte ein stabiles und kohärentes Bild von sich und für das eigene Leben wichtigen anderen Menschen haben und zu leichten Idealisierungen in der Liebe fähig sein. Zudem, wenn man ein prinzipiell veränderbares, aber in der Situation verlässliches Wertefundament hat, das nicht unerfüllbar ist. Wenn man sich traut, seine kreativen und sexuellen Bedürfnisse zu formulieren und zu leben, Kritik angemessen und auf den konkreten Inhalt bezogen (statt gegen den ganzen Menschen gerichtet) zu äußern und wenn man selbst Kritik annehmen und sich gegen exzessive, gegen einen selbst als ganze Person gerichtete, Kritik angemessen zur Wehr setzen kann. Wenn man sich für Lebensbereiche interessiert und engagiert, die über eine reine Ichbezogenheit hinausgehen, also ein Interesse an Fragen und Werten der Gesellschaft, Politik, Philosophie, Wissenschaft oder Religion hat.

Ein fragiles Gleichgewicht, was man nicht überstülpen kann, in allen Bereichen kann man Teile davon erreichen oder den Weg dahin antreten.

Normalität und Normopathie

Ist psychische Normalität immer gut? Die Frage klingt merkwürdig und hängt ebenfalls davon ab, welche Definition von Normalität man wählt. Neben dem Begriff der Normalität gibt es den der Normopathie, der auf der psychologischen Ebene die Bedeutung hat, dass etwas so normal ist, dass es krank ist. Gemeint ist der Mensch, der sich keine Individualität, keine Ecken und Kanten und damit letztlich kein Ich leistet. Lieb, brav, überangepasst, werden solche Menschen offenbar lange Zeit nicht einmal krank und, folgt man bestimmten Psychotherapeuten wie Wolf Büntig, in der Folge oft sehr schwer.

Die anzustrebende Normalität ist also implizit immer die des reifen Ichs, so dass die Formel, einen Menschen zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft machen zu wollen, und überhaupt der Blick auf Funktionalität, bestenfalls eine Durchgangsstation ist, denn über kurz oder lang ist es gesünder, die Werte und Normen der Gesellschaft auch hinterfragen zu können, statt ihnen nur brav zu folgen oder sie ebenso blind abzulehnen – für den einzelnen und die Gesellschaft.

Eine Warnung des Philosophen Karl-Otto Apel sei hier jedoch angebracht: Wer glaubt, Kritik und Hinterfragen seien billiger Selbstzweck, lässt den einen Irrtum hinter sich, nur um in den nächsten zu rutschen. Anfängliche Kritik an den Zuständen, wie sie gerade sind, ist bestenfalls die Ouvertüre, doch man muss den Skeptizismus auch vollbringen oder zu Ende denken (oder in Kohlbergs Version, die Zwischenstufe 4 ½ überwinden) und den reinen Sophismus hinter sich lassen, will man nicht in den Selbstwiderspruch rutschen, dass man die konventionelle Moral und etablierte Normalität im Namen einer Ethik kritisiert, die dann nicht sagt, wie es weiter gehen könnte.

Quellen:

  • Otto F. Kernberg, Narzißmus, Aggression und Selbstzerstörung, 2004, dt. 2006, Klett-Cotta, S.22f
  • Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Suhrkamp 1998, S.660