Das richtige Leben hört sich manchmal so an, wie eine Drohung, wenn wir jemandem sagen, er solle erst mal erwachsen werden.
Oder realistisch und endlich aufhören zu träumen. Das richtige Leben scheint etwas zu sein, in dem man ankommen kann und muss. Aber was macht das oder richtige oder echte Leben eigentlich aus?
Dieser Frage und wann man dort angekommen ist, kann man sich vielleicht, wenn man sie nicht direkt beantworten kann, über den Umweg nähern, indem man jene benennt, die im richtigen Leben noch nicht angekommen sind. Kinder zum Beispiel. Sie sind vielleicht herrlich unverstellt, oft im spielenden Moment versunken, aber wir wissen ja gerade, dass das richtige Leben eben kein Spiel ist. Ist doch so, oder?
Ab einem bestimmten Alter ist man dann oft auch wieder raus. Vom Archetypus des oder der alten Weisen ist nicht viel übrig geblieben in unserer Gesellschaft, in der die vornehmste Aufgabe der Alten ist, bitte nicht dement zu werden und niemandem zur Last zu fallen. Denn dann sind sie definitiv raus, aus dem richtigen Leben, vielleicht aber auch schon mit der Pensionierung. Manche laufen dann zwar zur Höchstform auf, beginnen ein Studium, machen die lange geplante Weltreise oder mischen sich aktiv irgendwo ein, andere genießen einfach ihren Lebensabend, aber ist das noch das richtige Leben? Denn das richtige Leben ist auch kein Spaß, hört man manchmal.
Behinderte Menschen, vor allem geistig behinderte, die sind auch raus, gesteht man ihnen doch zu oder unterstellt es ihnen, am richtigen Leben nicht teilnehmen zu können, jedenfalls nicht so richtig.
Ist das richtige Leben also einfach das Arbeitsleben? Vorher ist alles mehr oder weniger Spaß oder Probelauf. Kita, Schule, Uni und dann, dann geht es so richtig los, wenn man seinen Bachelor hat oder die Lehre beginnt. Wobei die, die ‚was Richtiges‘ lernen und machen natürlich bessere Karten haben auch im richtigen Leben anzukommen. Was Richtiges ist dann oft was Handfestes, wo man, also so gut wie jeder, sich was drunter vorstellen kann. Tischler oder so. Das hat was Ehrliches, Echtes. Wobei natürlich schon die Frage ist, ob man wirklich begeistert ist, wenn das eigene Kind auf die Idee kommt, eine Tischlerlehre machen zu wollen. Kann man ja immer noch, wenn man nichts Besseres (falls man das sagen darf) gefunden hat. Wobei das ja sehr echt ist, genau die Garten- und Landschaftsbau. So nahe an der Natur, irgendwie ja auch schön, wichtig und sinnvoll, aber das richtige Leben fordert ja auch den richtigen Verdienst und das richtige Ansehen.
Gewiss, es fordert auch, dass man diese wertenden Unterscheidungen in gute und schlechte Berufe eigentlich so nicht trifft. zumindest nicht so offen. Ist ja auch wirklich schön, so was Handfestes. Es wäre ja zumindest nicht schlecht, wenn man erst mal versucht, noch ein wenig weiter zu kommen. Aber Arbeit, die bringt einem dem richtigen Leben näher. Handfest ist dabei durchaus gut, aber das heißt dann weniger mit dem Schraubenschlüssel oder der Schippe in der Hand, sondern mit Stift oder Laptop. Das ist schon eher was Richtiges. Denn, das richtige Leben erfordert auch, dass man realistisch ist und endlich aufhört zu träumen. Man muss ja auch mal an die Zukunft denken, man wird ja nicht jünger.
Nicht jede Arbeit ist richtige Arbeit
Waldarbeiter, Klempner und Installateure machen zwar schon echte Arbeit, aber zum richtigen Leben gehört durchaus, dass man das Bessere nimmt, wenn man das Bessere haben kann. Schwitzen kann man auch im Fitnessstudio, das muss nicht bei der Arbeit sein. Wenn man sich auch ein wenig nach – naja ‚unten‘ – abgrenzen will, zumindest der Nachwuchs soll es ja besser haben und die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht, so gibt es auch noch andere Berufe, die die Teilnahme am richtigen Leben doch eher ausschließen.
Künstler zum Beispiel, ganz schlecht. Brotlos, versponnen, wofür denn? Man kann ja auch privat und so, am Wochenende und lieber was Anständiges lernen. Philosoph ist auch nichts. Klar, wenn man das Philosophendasein elegant mit medialer Präsenz verknüpfen kann, dann geht das schon, aber einfach so dasitzen und denken? Das ging damals schon los, Thales vom Milet, ganz alter Grieche, wurden von der thrakischen Magd ausgelacht, weil er gen Himmel blickend in den Brunnen fiel und zwar die Erkenntnis des Fernen begehrte, dabei aber das Naheliegende übersah, was durchaus nicht ohne tieferen Sinn ist. Er wird uns nachher noch mal begegnen.
Aber das hat der Philosoph mit dem zerstreuten Professor gemein, sie schweben irgendwie in anderen Sphären, sind aber – wenigstens dem Klischee nach – für das richtige Leben verloren. Zu trottelig, zu lebensfern, zu ungeschickt. Lebt im Elfenbeinturm, die Haare zerzaust und weiß nicht, was ein Glas Gurken kostet. Überhaupt so Geisteswissenschaftler, das ist irgendwie ungreifbar, besser ist Ingenieur oder Ärztin. Oder was mit Lehramt oder Jura, das kann man wenigstens gebrauchen.
Beginnt das richtige Leben, wenn man Kinder bekommt?
Man könnte das meinen, denn schon die Arbeit zwingt zu einer gewissen Regelmäßigkeit und Disziplin, Kinder natürlich auch, wenn man ihnen gerecht werden möchte. Ein oder mehrere Kinder zu haben, ist dann eine Aufgabe für ungefähr zwei Jahrzehnte. Alles wird anders, die Eltern reifer und verantwortlicher, vorher hat man sich noch die Hörner abgestoßen, wie man so sagt, nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt der viel mit dem richtigen Leben zu tun hat, so zumindest in der Theorie.
Praktisch haben Psychologinnen das untersucht und kamen zu anderen Ergebnissen. Die Punkte Offenheit, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, die bei den Big Five die Reife messen, ergeben aber ein ziemlich durchwachsenes Bild, das sich unterm Strich so zusammenfassen lässt, dass Alter und Geschlecht die Reife eines Menschen stärker beeinflussen als die Elternschaft. Eltern mit Anfang 20 sind andere, als mit Mitte 30.
Kinder zu bekommen macht nach dieser neuen Studie (ein ältere kam zu anderen Ergebnissen) jedenfalls nicht automatisch reifer und eine gewisse Reife scheint etwas damit zu tun zu haben, dass man mitten im Leben steht.
Man spürt schon, dass man im richtigen Leben angekommen ist
Aber vielleicht ist es mit dem richtigen Leben ja auch ähnlich wie bei Freude, Stress, Schmerzen, Orgasmen, Verliebtheit oder Gipfelerfahrungen. Man kann am besten selbst sagen, ob man so etwas erlebt hat und wenn man es erlebt hat, kann man die Frage auch ziemlich sicher beantworten. ‚Waren Sie je verliebt?‘ Wer es war, der weiß es, wer herumlaviert und sagt, das käme drauf an, was man so unter Liebe versteht, war es eher noch nicht. So könnte es auch beim richtigen Leben sein, man spürt schon, wenn man dort angekommen ist.
Wenn man sich seiner Verantwortung für das eigene Leben, die anderen, die Gesellschaft und die Erde bewusst wird und diese auch wahrnimmt, dann ist man angekommen. Allerdings scheint einen doch vieles wieder raus zu kicken. Das richtige Leben ist eben ein realistisches und die Realität ist für viele (noch immer) irgendwo da draußen. Träumen sollte man nicht zu viel, dabei sind unsere Tagträume gar nicht selten, sind Realität und Phantasie gar nicht so schroff von einander getrennt, wie man meinen sollte.
Vielleicht machen eigene Kinder die Menschen nicht unbedingt reifer, aber eine längere Beziehung scheint es doch tun, oder? Manche stellen sich unter Beziehungen andauernde Verliebtheit vor und beenden nach jedem erneuten Rausch der Hormone dieselbe vor dem abebben, auf der Suche nach dem neuen, immer währenden Kick. Doch auch Beziehungen die den Sprung von der Verliebtheit zur Liebe (mit Überschneidungen) schaffen, haben einen hohen unrealistischen Anteil und müssen ihn haben. Beziehungen sind immer auch Idealisierungen des anderen, Bilder von dem, was der andere sein könnte. Aber auch Bilder und Visionen davon, was wir mal zusammen erleben werden. Die Möglichkeitswelt deren enge Zugehörigkeit zur Realität mit Husserl und Heidegger ausgerechnet zwei Philosophen gefunden haben, sehr spät übrigens, wenn man es philosophiegeschichtlich einordnet, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Eine intime Beziehung ohne Idealisierung zerfällt oder wird zur nur noch funktionalen Beziehung, in der man sich über die Erfordernisse des Alltags austauscht und in dem etwas darüber Hinausgehendes immer mehr ausgedimmt wird. Wenn das die Version des richtigen Lebens ist, sollte man lieber einen Bogen darum machen.
Bin ich noch drin?
Der Alltag ist voll von Angeboten, die uns immer wieder rauskicken. Neben Träumereien und Künsten haben auch Bücher nichts mit dem richtigen Leben zu tun. Vielleicht noch der eine oder andere Ratgeber, ein historischer Krimi zum entspannen, aber zu sehr sollte man sich nicht in Bücher vergraben und der Ausdruck ‚Bücherwissen‘ klingt manchmal etwas abfällig und ist auch so gemeint. Denn das richtige Leben findet man eben nicht zwischen Buchdeckeln, es findet außerhalb davon statt.
Auf der anderen Seite haben die sozialen Medien ihren festen Platz ja nicht nur auf dem Smartphone von uns sondern eben auch in der Lebenswelt. Alle paar Minuten schauen sehr viele darauf, um sich in virtuellen Welten zu treffen, eine Welt der oft mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, als dem eben noch so genannten richtigen Leben.
Aber wo finden Social Media, Bücher, Tagträume, Kunst, Musik, Philosophie und Meditation und dergleichen denn nun eigentlich statt, wenn nicht hier im Leben? Warum ist es echter zu essen als zu denken? Auto zu fahren als zu meditieren? Wir können die Realität gar nicht vermeiden, wir können den Kontakt zu ihr gar nicht kappen, es gibt nur unterschiedliche Arten und Wege die Realität wahrzunehmen oder sich in ihr zu bewegen und von keinem können wir sagen, er sei realer als ein anderer.
Natürlich gibt es Lug und Trug, Illusionen und Irrtümer, Lügen und Täuschungen und auch den Begriff des Realitätsverlustes kennt man in der Psychiatrie und Psychologie. Aber selbst beim Realitätsverlust verliert man nicht die Realität, sondern den Bezug zur herkömmlichen Deutung der Dinge, die die aller meisten teilen. Bei Halluzinationen ist noch halbwegs offensichtlich, dass da jemand etwas sieht, was nicht da ist, was die anderen also nicht sehen, aber schon die Frage, wann eine Deutung überzogen ist, ist ja umstritten. Eingebettet in die Realität sind sie alle, nur nicht in jene, die von den meisten anderen Menschen erlebt wird. Das ist nicht folgenlos, eine Psychose ist schon eine ernste Sache, aber eben auch eine verflixt reales Geschehen.
Auch Irrtümer und Lügen haben ja eine Wirkung, bei der Lüge ist diese ja sogar beabsichtigt, ein Irrtum ist zwar nicht vorsätzlich, Folgen hat er dennoch und beide natürlich im richtigen Leben, wo auch sonst? Man kann das richtige Leben gar nicht vermeiden. Es ist von Anfang bis Ende gespickt mit dem, was für manchen gar nicht dazu gehören soll.
Das beginnt mit unserer Tagesroutine oder einer Sonderplanung, im Grunde ein virtuelles Geschehen in der der Ablauf für heute gedanklich vorweggenommen ist. Arbeit, Einkauf, Kinder wegbringen, zur Uni und dann das, was man sonst noch so macht, dabei hat man schon aufs Smartphone geschaut. Hat man einen besonderen Termin, denkt man darüber nach, wie dieser wohl laufen wird, wie lange das wohl dauert, man plant und spielt alles durch … im Geiste. Man denkt vielleicht über einen Streit von gestern nach, spielt noch einmal alles durch, schätzt ein, was das wohl jetzt bedeutet. Es fällt einem ein, bei wem man sich auch mal wieder melden müsste, überlegt, was man heute wohl anzieht und so weiter. Das richtige Leben ist gespickt mit Gedankenspielen über dies und das, auch wenn wir nicht Sudoku lösen, keine Philosophen oder Mathematiker sind.