Perfektionismus ist das Krankheitssymptom unserer Zeit und Kultur!
Die Depressionen haben, nach einem kurzen und seit Jahren erstmaligen Rückgang 2013, wieder zugenommen. Die Zahl der schweren Persönlichkeitsstörungen steigt weiter an. Eltern fühlen sich zunehmend gestresst. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer spricht von der „Generation Angst„.
Gleich ob die Zahlen weiter steigen oder die Sensibilisierung erhöht ist, immer mehr Menschen fühlen sich unter Druck, unter einem, den sie sich selbst auferlegen, dem Gefühl perfekt sein zu müssen. Perfektionismus als Symptom verbindet all die eingangs erwähnten Störungen und Empfindungen.
Dabei hat der Perfektionismus zwei Gesichter. Zum einen die lustvolle Freude an der Selbstvervollkommnung. Der Funken Eros, Vertikalspannung, Drang zur Verbesserung in der Evolution, von dem im Grunde niemand genau weiß, warum er überhaupt da ist. Ein Motor des Kosmos. Im Privaten, das kurze Glücksgefühl, ein Moment des Stolzes, oft sich selbst genügend, in der Freude an der Perfektion um der Perfektion willen.
Das andere ist eine rastlose und gehetzte Suche nach immer mehr Optimierung. Da geht noch was. Streng dich an. Mehr! Gib dir Mühe, sei kein Verlierer, kein Opfer! Jeder Gedanke wie der Peitschenhieb auf einen Galeerensklaven. Freude und Glück spielt hier keine Rolle, mehr die chronische Angst zu versagen, Fehler zu machen, einfach nur gut oder schlimmer durchschnittlich statt perfekt zu sein. Wer so unterwegs ist, ist auf der Suche nach Lob und Anerkennung, nicht selten um ein labiles Selbstbild zu stabilisieren.
Allein so wird das nichts, denn dieser Perfektionismus versucht sich vor Kritik zu schützen, dem eher zwanghaft neurotischen Gefühl, etwas nicht gründlich und gewissenhaft genug gemacht zu haben oder dem eher narzisstisch gekränkten Gefühl, nicht der Beste zu sein. Doch diese vermeidende Ängstlichkeit, ein Weltbild, das nur die Extreme von Sieg oder Niederlage kennt, ist andauernder Stress. Dabei wird der Perfektionismus als solcher als ein attraktives Laster angesehen, es wird nicht wirklich als schlimm empfunden, wenn man als perfektionistisch gilt, im Vorstellungsgespräch würde man es vielleicht sogar erwähnen. Selbst die Modediagnose Burnout wird offenbar stolz getragen.[1]
Zwanghafter und narzisstischer Perfektionismus
Beide teilen „ein hohes Ich-Ideal, ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis und einen geradezu getriebenen Charakter im Verhältnis zu ihrer Arbeit“. Die Unterschiede bestehen in dem zwanghaften Streben nach Perfektion und der narzisstischen Forderung danach.
- Der Zwanghafte ist: detailverliebt, respektiert Autoritäten, entwertet andere nicht, ist bescheiden und hat rigide Moralvorstellungen.
- Der Narzisst: missachtet gewöhnlich Details, hat Probleme mit Autoritäten, ist entwertend, anmaßend und korrumpierbar.[2]
Perfektionismus auch im Privaten
Perfektionismus in der Arbeit ist die eine Sache, normalerweise ist das Zuhause der Ort, an dem man entspannen kann. Nicht nur wegen der immer umfassenderen Erreichbarkeit via Smartphone und der Erwartung, jederzeit und gerne zur Arbeit zu erscheinen, wird die Grenze zwischen Beruf und Privatem aufgeweicht. Der Stress geht zu Hause gleich weiter, auch hier muss mindestens die Fassade glänzen. Wem der Spagat zwischen Beruf und Familie nicht gelingt, der wird mit Ratgebern zur Work-Life-Balance beglückt, das nächste Programm, das man doch bitte mal eben absolvieren kann. Schließlich kann man sich auch effizient entspannen.
Das, was man eigentlich mal wieder machen müsste, weiß man. Die Lektüre über einen entspannenden Spaziergang wird dann auch gerne gelesen, komischerweise seltener praktiziert. Wie Karin Jäckel in ihrem Buch „Störfall Schule: Unsere Kinder: Durchgereicht und abgewickelt?“ berichtet, sind bereits Kinder einem sicher wohlmeinend perfektionistischen Programm unterworfen: Vom Reiten zum Karate zur Nachhilfe, sinnvoll, nur es ist nicht ihres, sie dürfen nicht sie selbst sein und ständig erzählt ihnen jemand, der es angeblich besser weiß, wie man Fehler vermeidet, anstatt sie selbst welche machen und eigenständig daraus lernen zu lassen.
Statt ihre Phantasie und Kreativität zu erproben, sagt man ihnen schon früh, wie sie schneller höher kommen. Ob sie das eigentlich wollen, wird selten gefragt, oft ist der Lebensweg schon durchgeplant, „wir wollen doch nur dein Bestes“.
Perfektionismus in der Familienplanung
Natürlich wollen Eltern nur das Allerbeste. Schon weil sie perfekte Eltern sein wollen. Gerade heute, wo das oft einzige Kind zur perfekten Zeit geboren werden muss. Idealerweise zwischen Karrieresicherung und der Zeit, wo die biologische bedingte Gefahr für Missbildungen einer späteren Schwangerschaft anwächst. Das Diktat der Ökonomie greift auch hier, Karriere zuerst, doch alles andere soll natürlich auch nicht leiden, Partner, Kind, Figur und Leistungsfähigkeit.
Dabei ist in der Psychologie recht klar, was die perfekte Mutter ausmacht. Sie muss nicht perfekt sein, nicht alles überwachen und im Blick haben, nicht jede Lebensregung des Kindes beäugen, sondern in erster Linie emotional halbwegs gelassen sein. Was wirklich Gift für Kinderseelen ist, sind Spitzenaffekte, wenn sie zu häufig erlebt werden. Wenn Mutter in normal sorgenvoller Zuwendung dem Kind die Welt und seine Empfindungen erklärt, sind das die besten Startchancen für das Leben.
Auch der perfekte Vater ist unperfekt. Der abwesende oder zu entmachtete Mann ist problematisch. Der manchmal gefürchtete, aber geachtete Vater war einer, an dem Kinder sich reiben konnten und mussten, auch wenn er manches an Feinfühligkeit vermissen ließ. Dieser Platz ist in Gesellschaft und Psyche frei geworden und wird nun eingenommen durch Massenmedien, Peergroups und charismatische Führer, Väter versuchen derzeit eine neue Rolle zu finden.
Quellen:
- [1] Raphael M. Bonelli, Perfektionismus – Krankheit unserer Tage, 2014, http://www.i-daf.org/aktuelles/aktuelles-einzelansicht/archiv/2014/12/21/artikel/perfektionismus-krankheit-unserer-tage.html
- [2] Salman Akhtar, Deskriptive Merkmale und Differentialdiagnose der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, 1989, in Otto F. Kernberg und Hans-Peter Hartmann (Hrsg.), Narzissmus: Grundlagen Störungsbilder Therapie, Schattauer 2006, S. 252 f