Demo gegen Stuttgar 21

Stuttgart 21 war die Geburtsstunde der Wutbürger, in der Ältere dominierten. © SAV Sozialisitisch3 Alternative under cc

Das Land ist politischer geworden – oder?

Die Lust am Streit ist für viele Menschen in unserem Land tatsächlich neu. 70 Jahre ohne Krieg, die letzte größere Revolte der 68er ist nun auch schon fast 50 Jahre her, die (zum Glück) friedliche Revolution im Osten über ein viertel Jahrhundert. Das Volk, das so viel Unglück über Europa brachte war rehabilitiert und wurde nach und nach zum Zugpferd Europas. In leisen und diskreten Schritten und wie durch ein Wunder gewann Deutschlands Wirtschaft wenige Jahre nach dem verlorenen Krieg an Dynamik in kaum gekannter Art.

Was zurückblieb war das Bild vom etwas spröden Deutschen. Gründlich, pünktlich und ordentlich zwar, aber viel mehr war dann auch nicht zu holen. Auch das entsprach nicht so ganz der Realität und bei der WM 2006, dem Sommermärchen, sah die Welt ein anderes Gesicht von Deutschland. Petrus spielte mit, das Wetter war gut, die WM eine große Party, die Welt war zu Gast bei Freuden und obendrein sind „wir“ auch noch Papst geworden.

Nur vier Jahre später „definierte Dirk Kurbjuweit den „Wutbürger“ unter Bezugnahme auf die zu diesem Zeitpunkt aktuellen Debatten um Thilo Sarrazin und das Stuttgarter Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 als wohlhabenden konservativen Menschen, der „nicht mehr jung“, früher gelassen und „staatstragend“, jetzt aber „zutiefst empört über die Politiker“ sei.“[5]

Wahlmüdigkeit war bis dahin das Attribut, das man den Deutschen zurecht zuschrieb. Wir hatten ausgedehnte Diskussionen darüber, dass die Deutschen politisch desinteressierte Nichtwähler werden und was man tun könne, um sie wieder zu mobilisieren. Dieser Trend scheint zumindest tendenziell gebrochen, bei den letzten Wahlen stieg die Beteiligung (auf niedrigem Niveau) leicht an. Und nicht nur das, unser Land scheint deutlich politischer geworden zu sein.

Aber ist das wirklich politisches Interesse, was sich da in „Wutbürgern“ und „besorgten Bürgern“ artikuliert? Was sich da als politische Bewegung ausgibt ist tendenziell eher eine, die die Nase von Politik gestrichen voll hat. Die Verachtung die Politikern entgegenschlägt, ist heute eklatant und weißt ebenfalls Züge einer Regression auf:

„Zu den Merkmalen eine massiven Gruppenregression gehören die lustvolle Gier nach Grausamkeit, die Entmenschlichung außenstehender Gruppen, primitive Selbstidealisierung, Konventionalität und Gedankenlosigkeit, Neid und Zerstörungswut – mit anderen Worten: sowohl die Merkmale von Patienten mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, insbesondere des malignen Narzissmus, als auch die Kennzeichen regressiver Großgruppenpsychologie.“[6]

Mit Politik im Sinne einer gestaltenden Kraft hat das nicht viel zu tun, es ist Protest, der die Neigung hat zum Selbstzweck zu werden, weil sich regressive Enthemmung zu einem Teil einfach auch gut anfühlt. Und falls man doch der Meinung ist, dass unser Land politischer geworden ist: Geholfen hat es uns zumindest nicht.

Echokammern und Blasen

Von Echokammern und Blasen ist derzeit viel die Rede, gemeint sind Welten, in denen man sich einrichtet, in denen man mit Bekanntem konfrontiert wird. Auch regressive Bewegungen zerfallen nach den immer gleichen Mustern in neue Gruppen, die auf einem primitiveren Organisationsniveau funktionieren, auf dem Ambivalenzen nicht toleriert werden und auf dem es nur ganz oder gar nicht, Freund oder Feind gibt. Doch man braucht keine Regressionen dazu, unsere Welt wird bereits vorselektiert durch Algorithmen, die uns immer weniger mit der Welt, aber immer mehr mit der Welt unserer Interessen konfrontiert. Was zunächst durchaus attraktiv klingt, hat nicht nur einen Haken, wie wir in Personalisierte Daten ausführten.

Und es führt eben dazu, dass man nur noch Bekanntes konsumiert. Das war früher auch nicht wesentlich anders, aber dadurch, dass sich ein immer größerer Teil des Lebens heute im Internet abspielt, bekommt er durch dasselbe eine größere Relevanz.

Das Internet zeigte aber schon seit Jahren eine deutliche Tendenz zur Emotionalisierung, schon bevor der Wutbürger die Bühne betrat. Bereits die Diskussionen um das Thema Willensfreiheit zu Beginn der Jahrtauschendwende, verlief im Internet sehr emotional und stellte den Auftakt zu dem eher politisch (wenn auch nicht parteipolitisch) motivierten Vorstoß einer szientistisch-atheistischen Stoßrichtung vor, die zunehmend aggressiver auftrat. Das war lange vor der Flüchtlingsdiskussion, deren Ausläufer, die mit Diskussionen nichts mehr zu tun haben, wir inzwischen erleben.

Darum Werte!

Wenn das eine die inhaltliche Komponente ist, dann ist der Bereich Internet, Blasen und Echokammern der andere und ein eher struktureller Ansatz. War man früher auch unterschiedlicher Meinung, so gab es bei allem Streit noch immer verbindende Elemente und Praktiken und wenn es nur der „Tatort“ oder das „Fußballspiel“ des Vorabends war. So gab es immer schon exklusive Bereiche, in denen man für sich oder mit wenigen anderen zusammen war und öffentliche Bereiche und Interessen, die man mit vielen anderen teilte. Es bleibt abzuwarten, ob das Internet auf lange Sicht neue Gemeinsamkeiten schafft und irgendwann die Top Ten bei Youtube ein ebensolches verbindendes Thema werden, wie die Zeitungsschlagzeilen oder Fernsehblockbuster vergangener Tage.

Wenn, wie aufgezeigt, der Unmut in etlichen Bereiche nachvollziehbar ist, dann wird die Frage umso dringender an welchen Werten wir uns zukünftig orientieren wollen. Das wird keinesfalls von oben nach unten diktiert, die wütendenden Proteste des letzten Jahres haben durchaus in Politik und Medienlandschaft ihre Spuren hinterlassen. Doch Protest ist die eine Sache, eine neue Ordnung und ein aktualisiertes Wertefundament zu schaffen, eine andere.

Eliten und Masse

Gegenwärtig richtet sich Wut neben den Flüchtlingen, in einem mindestens so starken Maße gegen die Politik und noch umfassender, gegen die Eliten, wie es heißt. Das ist in mehrfacher Hinsicht unklug, aus mindestens drei Gründen:

  • Die Verachtung der Elite und ihr wichtigster Haken

Wer alles auf die sogenannten Eliten schiebt, betreibt vor allem eine Selbstentmündigung. „Die da oben machen sowieso was sie wollen“, darf kein lähmender Reflex werden, denn unser durchaus schützenswerter Anspruch ist, dass die Politik den Bürger zu dienen habe. Das ist zwar ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, aber keinesfalls sind wir devote Befehlsempfänger wie in einer Diktatur. Das sollten jene bedenken, die beglückt nach „law and order“ rufen.

Die Erfindung des Individuums ist ein originärer Schritt unserer Kultur und obendrein stark mit dem Christentum verknüpft. Die Werte zu denen viele wieder, nicht ohne guten Grund, zurück wollen sind mehr als oft gedacht, von den Darstellungen in den letzten Jahrzehnten einseitig verzerrt worden.[7]

  • Die Verachtung der Elite und ihr zweitwichtigster Haken

Die Beschwörung geheimer und allwissender Mächte hat als andere Seite der selben Medaille oft eine angstvollen Überschätzung jener beschworenen Mächte im Schlepptau. Das ist eine unrealistische Einschätzung, die einerseits zu Gefühlen der Ohnmacht, andererseits zu Enttäuschung und Wut führt, wenn sich herausstellt, dass auch die allwissenden und geheimen Mächte nicht zaubern können. Es gibt genügend Informationen über Irrtümer, Fehleinschätzungen und Nichtwissen auf Seiten der sogenannten Eliten, dass wenig Grund besteht, von einer geheimen Planung und allmächtigen und allwissenden Strippenziehern auszugehen.

Macht hat viele Komponenten und neben der organisierten und verborgenen Macht gibt es eben auch die Macht des Einzelnen und diese zu unterschätzen und kleinzureden ist die größte Versicherung von Mächtigen. Das entspricht ungefähr dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit in der Psychologie. Wenn man den Mächtigen oder Eliten weniger zutraut und zumutet, so ist auf der anderen Seite auch die Enttäuschung nicht so groß, wenn sie mal keine Lösung finden oder Antwort haben. Man könnte ihnen dann im besten Fall helfen und die andere Seite könnte lernen, Hilfe anzunehmen.

  • Falsche und echte Eliten

Eine kurze Anmerkung noch zum Begriff der Elite. Meines Erachtens wird der Begriff aktuell etwas inflationär benutzt. Ich würde Elite stärker im Sinne einer Leistungselite verstehen wollen, also Menschen, mit besonderen Fähigkeiten und es ist schön, wenn Menschen diese Fähigkeiten haben und durch besondere Leistungen positiv auffallen. Der Begriff wird aber stark im Sinne einer herrschenden Klasse oder Schicht verstanden, oft auch nur im Zusammenhang mit viel Einkommen, was ich persönlich nicht mit Elite identifizieren würde. Problematisch sind oft die Menschen, die reich, mächtig und unfähig sind, aber wer die Elite attackiert und damit Menschen meint, die Spitzenforschung oder -kunst betreiben, tut sich und anderen keinen Gefallen.

Fehler der Politik

Meine Kernthese ist, dass wir bei der Lösung unserer gesellschaftlichen Spannungen und Probleme sehr häufig die psychologische Komponente dramatisch unterschätzen. Psychologen kommen zu Wort, wenn wieder mal das vermeintlich Unerklärliche erklärt werden soll. Ein Amoklauf, ein bizarres Verhalten, aber selten, wenn es darum geht, die Strömungen und Zusammenhänge der normalen Gegenwart zu verstehen. Manchmal geschieht die Ablehnung psychologischer Erklärungen aus ideologischen Gründen, manchmal aus schlichter Unkenntnis. Selbst bei ideologischen Motiven muss man keine Böswilligkeit unterstellen, ich erlebe es häufig als einen Mangel an Übung und auf der anderen Seite eine gewissen Routine darin, Probleme aus gewohnten und vielfach auch geforderten, weil die eigene Klientel befriedigenden, Perspektiven einzunehmen.

Nun zu den Problemen im Einzelnen:

Die Unterschätzung der Moral

Es ist nicht so, dass man gegen Moral wäre. Wir reden heute wieder von Werten, beklagen den Verlust der Zivilcourage, der Tugenden und des Anstandes, die Kaltherzigkeit und den Egoismus in der Gesellschaft. Man würde gerne die Uhr zurückdrehen, sogar jenen Protestwählern, die nicht stramm rechts sind darf man positiv unterstellen, dass sie neben Angst und Verunsicherung auch ein gewisse Sehnsucht nach einer im besten Sinne geordneteren Welt haben. Und auch viele Politiker reiben sich verwundert die Augen und wissen nicht so recht, wie ihnen geschieht, würden, wenn sie könnten, sicher ebenfalls die Uhr zurückdrehen. Nur kann man das eben nicht.

Was man nicht versteht, ist, wo die Moral in all ihren Spielarten denn auf einmal hin ist. Und die Antwort ist, dass Moral kein Vogel ist, der über Nacht ausgebrochen und weggeflogen ist, sondern dass es sich dabei um ein Drama in mehreren Akten handelt. Der vielleicht wichtigste Punkt taucht gleich an mehreren Stellen auf, der Ausfall des Ödipuskomplexes. Ausführlich ist das in Warum wir den Ödipuskomplex brauchen ausgeführt worden. Das Kernargument ist, dass der dominante Vater das Kind zwar in den Komplex hineinführt, aber ihm damit gleichzeitig auch Schutz vor den anderen Autoritäten und Stimmen des Lebens gibt, wie Massenmedien, Schulen, Peergroups und politische Führer.

Nun kann man sagen, das sei doch gut, je mehr Stimmen, Meinungen, Sichtweisen das Kind kennen lernt, umso besser. Das stimmt aber nur bedingt, denn Psychologen haben immer und immer wieder herausgefunden, dass die Abwesenheit des Vaters und damit die Unterstrukturierung der Psyche gegenüber der als lastend empfundenen Dominanz das weitaus größere Problem ist. Letzteres entspricht in etwa einer neurotischer Struktur und ist sowas wie eine psychische Grippe. Ernst, aber das Immunsystem kommt meistens selbst damit klar. Eine schwere Persönlichkeitsstörung ist mindestens in den schwereren Formen so etwas wie psychischer Krebs. Erstens bösartig, zweitens schafft das psychische Immunsystem es in der Regel nicht alleine, sondern die Abwehrmechanismus der schweren Persönlichkeitsstörungen (Leugnung, projektive Identifikation) sorgen dafür, dass die psychische Spaltung vertieft wird und die Ich-Schwäche erhalten bleibt oder sogar verstärkt wird. Das ist kein Kindergeburtstag, das wächst sich auch nicht aus und es führt zu einem Strudel von Aggressionen, Entwertungen und Idealisierungen auf primitivem Niveau. Und … es unterminiert die Moral. Moral ist Selbstverpflichtung, ist die Bereitschaft sich auf Werte festzulegen und festlegen zu lassen. Auch das ist kein Selbstläufer, womit wir gleich bei der nächsten Schwierigkeit sind.

Intelligenz und Moral

Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen Intelligenz und Moral. Intelligenz ist eine Pionierlinie der Entwicklung, eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass es zu moralischer Entwicklung kommt. Oder in den Worten des Moralpsychologen Lawrence Kohlberg: „Alle moralisch fortgeschrittenen Kinder sind gescheit, aber nicht alle gescheiten Kinder sind moralisch fortgeschritten.“[8]

Gemeinhin hat man die Idee, mit Intelligenz und Bildung würde sich Moral schon von selbst einstellen, aber sich zu bilden setzt bereits bestimmten Eingenschaften voraus, wie Disziplin, Fleiß, Frustrationstoleranz die man heute nicht so ohne weiteres voraussetzen darf und selbst schon Tugenden sind, die man erlernen muss. Auch für die Konzepte zur Demokratisierung von Gesellschaften sind Brunnen und Bildung nicht genug, wobei Brunnen als Platzhalter für die Abdeckung grundlegender Bedürfnisse steht. Das Scheitern diverser Demokratisierungsversuche ist aktuell gar nicht mehr das Thema, heute reden wir von der Krise, manchmal vom Ende der Demokratie.

Das Verstehen von Spielregeln alleine reicht nicht. Psychopathen verstehen die Spielregeln der Gesellschaft sehr gut und nutzen sie zu ihren Gunsten, wenn sie sehr intelligent sind, macht sie das eher gefährlicher. Moral entwickelt sich in Stufen und man kann keine dieser Stufen überspringen. Die Problematik oft auch linksliberaler Ansätze liegt darin, dass ihnen die Stufe des Gehorsams, die nur eine von vielen ist, auf der niemand verharren soll, unsympathisch ist und sie wider alle Erkenntnisse doch meinen, auf Gehorsam könne insgesamt verzichtet werden, dies sei nur reaktionärer Affekt.

Ken Wilber hat immer wieder zurecht darauf hingewiesen, dass die pluralistische Kritik an der Moral sich selbst den argumentativen Boden entzieht, denn von einer hohen moralischen Warte aus negiert man den Entwicklungsaspekt der Moral und so wird das Projekt, was sich im besten Fall gegen Biederkeit und Kadavergehorsam richtet zum Kraftfutter für Narzissten, die in der Überzeugung leben, oft, weil ihre Eltern sie das glauben machen, alles an ihnen sei perfekt. Hier drückt keine väterliche Autorität mehr, hier züchtet man Schlangen an der eigenen Brust, hier haben perfekte Eltern selbstverständlich auch das perfekte Kind.

Als sei das alles nicht schon kompliziert genug, verkennt man aber noch eine Komponente:

Die Unterschätzung der Entschlossenheit

Es ist zwar durchaus so, dass in der Entwicklung der Moral höher gleich besser ist, aber es bedeutet moralisch besser. Man ist nachdenklicher, reflexiver, abwägender, hat mehr im Blick als den eigenen Vorteil oder die eigene Gruppe. Besser heißt komplexer, zur Einnahme von anderen Perspektiven in der Lage und ebenfalls zur Anerkennung und Würdigung dieser anderen Perspektiven. Höher ist gleich besser ist gleich komplexer. Was man dabei aber verkennt, ist die Kraft der Entschlossenheit. Die können moralisch entwickelte Menschen auch besitzen, aber um entschlossen zu sein, muss man nicht zwingend moralisch hoch entwickelt zu sein.

Mit einer großen Gruppe von zielgerichteten Entschlossenheit auf dem Niveau konventioneller Moralentwicklung kommt man politisch weit, weiter sogar, als mit abwägenden und reflexiven Menschen. Klare Kante, klare Freund- und Feindbilder, das ist moralisch seicht, aber effizient, wenn man Menschen hat, die eine Bewegung tragen sollen. Doch der Effizienz in der Durchsetzung von Ideen folgt immer eine Phase der Umsetzung des Neuen und wenn man da nicht auch komplexere Charaktere hat, regrediert das Neue schnell auf ein Niveau von paranoiden Konstellationen, die im Grunde niemand will, weil sie die Freiheit der Individuen beschränkt.

Auch deshalb sollte man den Begriff der Eliten nicht entwerten, wir brauchen moralische Eliten die das verstehen und beherzigen. Doch der Eindruck den man hat, ist leider ein anderer. Politikbashing ist nun wirklich nicht das, worum es hier gehen soll, davon haben wir derzeit mehr als genug. Aber selbst wenn man wohlmeinend ist, setzt sich ein Eindruck fest: