Kurz nach dem Beginn des neuen Jahrtausends beherrschte eine breit und intensiv geführte Debatte, die es in sich hatte und hat, nicht nur die akademische Welt, sondern auch die Gazetten. Die Frage nach der Willensfreiheit war das Thema, es rückte durch das plötzliche Interesse an der Neurobiologie unvermittelt in den Blickpunkt.

Wir wollen uns dieser spannenden Diskussion, die bis heute andauert, ausführlich widmen.

Der Streit

Mann vor Wolken beim Sonnenaufgang

Sind wir so frei, wie wir uns fühlen? © Ewen Roberts under cc

Ausgelöst wurde der Streit durch eine Neuinterpretation eines alten Experiments des Physiologen Benjamin Libet. In diesem Experiment ließ Libet Menschen spontan Entscheidungen treffen, zugleich bat er sie, sich, im Moment ihrer Entscheidung, den Zeigerstand einer speziellen Uhr zu merken. Zur allgemeinen Überraschung zeigte sich, dass das Gehirn der Probanden bereits vor der bewussten Entscheidung Aktivitäten zeigte, die später als neurologisches Korrelat von Entscheidungen interpretiert wurden. So wurde der Schluss gezogen, nicht das Ich entscheide, sondern das Gehirn des Menschen. Und da das Gehirn letztlich nur ein Organ ist, wie Leber oder Milz, unterliegt es biologischen Funktionsmechanismen, die durch die Natur bestimmt und als objektive Abläufe naturwissenschaftlich beschreibbar sind.

Kurz gesagt, mit der Willensfreiheit ist es, aus dieser Sicht, nicht weit her. Die Idee, der Mensch würde frei entscheiden, ist eine Illusion. Ja, mehr noch, auch unser Ich ist letztlich eine Illusion, hervorgebracht von unserem Gehirn. Das war ein krachender Aufschlag.

Der Return ließ nicht lange auf sich warten. Es waren die Philosophen, die schnell in die Gegenposition gingen, was nicht verwundert, ist doch das Thema ein klassisch philosophisches. Und so wurde an dem Experiment fast alles kritisiert, was man finden konnte, vom Aufbau, über die Datenmenge und am meisten die Deutung.

Die Kontrahenten

Es sind oft Namen von Rang, populär oder populär geworden durch die Debatte, ein „Who is Who“ der Neurobiologie, der Philosophie, der Psychologie.

Wolf Singer, Gerhard Roth, Jürgen Habermas, Dieter Sturma, Christian Geyer, Peter Bieri, Otto Kernberg, Thomas Fuchs, Ansgar Beckermann, Thomas Metzinger, Eugen Drewermann, Eric Kandel sind nur einige Stimmen, die an der Kontroverse um die Willensfreiheit teilgenommen haben, von klassischen Positionen ganz abgesehen.

Positiv war, dass bei der Neuauflage des Themas wirklich kaum ein Stein auf dem anderen blieb, andererseits war die Diskussion nicht frei von Eitelkeiten und schriller Polemik. Doch es gab immer wieder auch ausgleichende Stimmen und so nach und nach lichtete sich der Qualm etwas.

Alt oder neu?

Im Grunde sind Fragen nach der Willensfreiheit sehr alt und so treffen wir hier auf Positionen des Buddhismus (Ichlosigkeit), von Sigmund Freud (der Mensch ist nicht einmal Herr im eigenen Haus), philosophische und neuerdings neurobiologische, die miteinander ringen, aber auch im Dialog stehen.

Die „Fakten“

Hier sind wir bereits an einem wichtigen Punkt. Unter Fakten wird häufig verstanden, wie die Dinge sind. Doch in der Neurobiologie sieht man nicht Fakten, sondern hat es mit Daten aus Experimenten zu tun, die erst noch interpretiert werden müssen, auch dann, wenn die faszinierenden Darstellungen bildgebender Verfahren einen anderen Eindruck suggerieren. Man sieht nicht wie ein Gehirn „denkt“, sondern man sieht lokale Durchblutungssituationen, von Bereichen, denen man bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Das freilich oft so differenziert, dass Rückschlüsse erlaubt sind.

Das Bild in der Öffentlichkeit

Es gibt häufig in der öffentlichen Darstellung eine grob verzerrte Sicht auf den Ausgang der Diskussion um die Willensfreiheit. Die Hirnforschung, so wird oft sehr lapidar behauptet, habe bewiesen, dass der Mensch keinen freien Willen hat.

Dabei wird oft unterstellt, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Determinismus und der Möglichkeit frei zu sein gibt. Entweder man ist determiniert, auf die eine oder andere Art festgelegt, so heißt es, oder frei – etwas anderes gibt es nicht.

Diese Auffassung bedarf einer erheblichen Korrektur, der wir uns in den folgenden Artikeln dieser Serie in Schritten zuwenden.