Sie haben es nicht begriffen
Viele Politiker haben die Unruhe in der Bevölkerung lange Zeit übersehen oder, was wahrscheinlicher ist, nicht sonderlich ernst genommen. Jetzt wo ihnen Aggression und offener Hass entgegenschlägt, können sie nicht mehr leugnen, dass in letzter Zeit einiges schief gelaufen ist und nachdem sich die sozial Abgehängten bereits als notorische Nichtwähler von der Gesellschaft, die auch ihre ist, abwandten, wurden die Sorgen der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und einer zunehmend ungewissen Zukunft immer größer und zuletzt kündigten auch die ehedem staatstragenden Wutbürger die Gefolgschaft.
Die Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit der Deutschen waren bereits Indizien, aber auch hier unterschätzt man die psychologische Eigenschaft die man „innere Kündigung“ nennt und aus Firmen kennt. Innere Kündigung meint, dass man in einem Betrieb seiner Arbeit nur noch im Modus „Dienst nach Vorschrift“ nachkommt und ansonsten desinteressiert und nicht selten maximal frustriert ist. Das bedeutet aber, dass diese Menschen nachhaltig sauer sind und dies nun bezogen auf ihr Land, das sie oft nicht mehr als ihres empfinden. Es hat sich das Gefühl eingenistet, dass man es bei Politikern um eine abgehobene Kaste handelt, die mit allen unter einer Decke stecken, außer mit der Mehrzahl normaler Bürger, die sie eigentlich vertreten sollten.
Auch hier ist es vermutlich nicht das eine Ereignis, das den Ausschlag gab, sondern eine ganze Kette von Frustrationserlebnissen. Was als moderat, unaufgeregt und pragmatisch gelobt wurde wird nun als willkürlich und führungsschwach gedeutet. Vielleicht ist vieles zu beliebig geworden, vielleicht ist im Zeitalter der Transparenz ja etwas zu oft an die Öffentlichkeit gedrungen, dass und wie man Gesetze einfach durchwinkt, vielleicht hat man sich ein paar mal zu oft mit der Wirtschaft ins Bett gelegt und den Bürger die Zeche zahlen lassen. In besseren Zeiten wäre das vielleicht auch nicht groß aufgefallen, aber wie anfangs gesagt, sind die Zeiten gar nicht mehr so rosig, sie werden zumindest nicht so empfunden.
Es gibt Gewurschtel und Gemauschel, man hat das Gefühl, dass man die Kleinen hängt, und die Großen laufen lässt. Das Gezerre um TTIP machte noch mal klar, dass die Bürger nicht langer bereit sind, sich passiv etwas aufdrücken zu lassen, was sie nicht kennen, was die Politiker auch nicht kennen, von dem man aber glauben soll, dass es allen hilft. Dass mit der Beglückung der Wirtschaft auch die Beglückung der Bevölkerung einher geht, ist ein Versprechen, das man vor 20 Jahren noch glaubte, heute weiß man, dass es die Wirtschaft nicht groß kümmert, wie es den Menschen geht. Streng genommen ist das auch nicht ihre Aufgabe, aber es sollte die der Politik sein.
Das wirkt alles zu aalglatt und abgezockt, um Vertrauen zurück zu gewinnen, was ohnehin schwer genug ist. Hier wäre höchste Sensibilität angezeigt, ob wir die erleben werden und ob das „Wir haben verstanden“ einfach eine nützlich-flotte Werbebotschaft ist, die ein Einsehen verpsricht, was man nicht hat, bleibt abzuwarten.
Die Krise der Demoskopie und was man daraus lernen kann
Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Demoskopie in der Krise ist. Die Bürger sind nicht mehr so einfach ausrechenbar und die selbstsichere Gelassenheit, die man beim Brexit und der Wahl von Trump zum US-Präsidenten an den Tag legte, erwies sich als falsch. Ob nun postfaktisch oder sonst wie, wir wissen, wie die Wahlen ausgingen, eine Fortsetzung ist denkbar. Dabei scheinen auch die Zuschreibungen, dass es sich bei den Wählern der sogenannten Rechtspopulisten um abgehängte, ungebildete, männliche, weiße Landeier handelt nur sehr bedingt richtig zu sein. Die Menschen scheinen aktuell das Gefühl zu haben, dass es ihnen lieber ist jemanden zu wählen, der einfach anders und nach Möglichkeit ganz anders ist (oder erfolgreich so tut, als ob), als das Gewürge länger zu ertragen.
Wie schon erwähnt verstärkt sich so ein Effekt zu Massenregressionen und die sind dann in der Tat schwer aufzuhalten. Und Massenregressionen sind moralische Regressionen, die Menschen verdummen ja nicht auf einmal, aber ihre Fähigkeit moralisch zu differenzieren ist für eine Zeit dahin.
Der Bürger als dauernde Gefahr
Ein anderer Punkt ist, den Bürger als andauernde Gefahr zu sehen, als jemanden, der irrational ist und den es gilt, im Griff zu halten, dem man zumindest nicht zu viel zutrauen darf. So geht man schlechtestenfalls mit Kindern um, und selbst denen versucht man Schritt für Schritt mehr Verantwortung zuzutrauen, aber doch nicht mit erwachsenen Menschen. Dass man Menschen, die man fortwährend so behandelt, dann irgendwann unmündig und kindlich macht, ist im Preis mit drin.
Schon vor Jahren hörte ich, in vielleicht nicht repräsentativen Umfragen, dass viele Bürger auch durchaus zu Opfern bereit sind und Durststrecken zu überstehen, wenn man ihnen reinen Wein einschenkt und etwas zumutet. In den Köpfen scheint sich aber eine Idee festgesetzt zu haben, nämlich, dass man dem Bürger nur ja nicht die Wahrheit zumuten darf. Es wird taktiert und angedeutet, im Wahljahr werden die üblichen Wahlgeschenke verteilt und längst gilt man als naiv, wenn man Politiker nach ihrer Wahl, an die vor der Wahl abgegeben Wahlversprechen erinnert – es ist dann immer der Zwang der Verhältnisse. Das ist eine auf Lug, Truug und Misstrauen aufgebaute Grundkonstellation.
Traut uns was zu, wir würden sogar mitmachen, hätten aber mindestens die Idee eine echte Wahl zu haben!
Statt dessen scheint das für die Mehrzahl der Politiker von heute ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Regressionen wirkt man nicht dadurch entgegen, dass man Menschen wie unartige Kinder behandelt, dadurch stärkt man regressive Tendenzen eher.
Moral kann man nicht einklagen … und dennoch
Gegen Moral wird bisweilen der Einwand erhoben, man könne sie, im Gegensatz zu Gesetzen, nicht einklagen. Das ist richtig, aber es besteht auch kein Zwang Gesetze und Moral gegeneinander auszuspielen, im Gegenteil, sie bedingen und ergänzen einander. Wenn jemand moralisch unten durch ist, selbst wenn er juristisch freigesprochen ist, so ist das alles andere als belanglos. Das dürfte auch die Kanzlerin gemerkt haben, die nach ihrem jahrelangen Dauerabo als beliebteste Politikerin nun in der Wählergunst abgeruscht ist. Und das ist beileibe noch kein Erdrutsch gewesen, es geht noch deutlich schlimmer, so dass Moral eine durchaus außergesetzliches potentes Mittel für die Feinjustierung ist und sogar einen schweren Bann verhängen und jemanden zu unerwünschten Person machen kann.
Wenn man Menschen erzählt, dass sie tun und lassen können, was sie wollen ist das nicht immer ein Gefühl von grenzenloser Freiheit, oft ist es auch ein Gefühl des Desinteresses. Menschen wollen auch Ordnung und Struktur, nicht alle und längst nicht alle im gleichen Maße. Doch zwischen einer Zwangsstörung oder völligem Losgelassensein, liegt noch ein breiter Raum, den man nutzen kann, derzeit nutzen ihn vor allem diejenigen Populisten bishin zu Extremisten, die keinerlei Beißhemmungen haben und nur zu gerne Orientierung geben.
Es muss ja nicht kleinkariert und spießig sein. Wem Moral (oft ist das, was man unter Moral versteht Hemmung und Restriktion) zu bieder und langweilig ist, der ist berufen kreative Wege wagen und die Bevölkerung mit in die Entscheidungen einzubinden, statt den Populisten das große Wort zu überlassen. An Möglichkeiten und (teils sogar bewährten) Vorschlägen würde es nicht mangeln, wie wir in Der gesunde Menschenverstand ausführten.
Die Unfähigkeit Mythen und Visionen zu entwickeln
Denn auch das ist ein Manko der Politik, ihr fehlt es derzeit an Visionärem, ja, es war in Deutschland einige Jahre chic, den Spruch des Altkanzlers Schmidt, wer Visionen hätte, solle zum Arzt gehen, allzeit parat zu haben. Dabei gibt es eine Sehnsucht nach dem Wir, nur zerfällt diese in Splittergruppen und jeder meint, sein kleines Wir sei stellvertretend für alle (für „das Volk“), aber das ist es wohl im Moment: ein Wir finden wir nicht, kein europäisches, nicht einmal ein deutsches. 2017 könnte zum erneuten Sorgenjahr werden, je nach dem, wie die Wahlen in Frankreich ausgehen und auf Beruhigungen der Art, was ganz sicher nicht passieren wird, sollte man nicht zu viel geben. Die Wege aus der Krise, werden sicher nicht mit Wunschdenken gepflastert sein.
Gerade an gesamteuropäische Leistungen der Vergangenheit könnte man anknüpfen, die Geschichte Europas ist reich und bunt: Die Wiege der Demokratie steht hier tatsächlich, ebenso wurde das Individuum hier erfunden, das Aufkommen einer starken Wissenschaft und sogar eine sich wechselseitige Koalition zwischen Religion und Wissenschaft, das alles ist Europa, von künstlerischen Meisterwerken, technischen Neuerungen und nicht zuletzt einer systematischen Psychologie ganz zu schweigen. Was wäre das Projekt für eine neues Europa?
Europa steht unter Druck, ist, wie wir spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 wissen, keine Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und ist im Grunde immer das am besten gewesen, was es vorher war, eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die früher auch EWG hieß. Aber Europa ist, anders als die USA oder Australien, eine Gruppe von Nationalstaaten mit je eigener Geschichte, Tradition und Sprache und den Menschen verordnet worden. Doch neben den Zerfallstendenzen (wurde der Grexit noch angedroht, war der Brexit freiwillig, ein Frexit und Czexit könnten vor der Tür stehen und irgendwann ist Europa dann sicher nicht mehr das, was es vielleicht nie so richtig war) könnte man neue Ziele beschreiben.
Ein Europa 2.0 müsste seine Bewohner mitnehmen und nicht einfach nur eine Wirtschaftsgemeinschaft sein, die den Handel zwischen den europäischen Staaten erleichtert, denn viele Menschen verbinden mit ihrer Region, in der sie wohnen etwas, aber nichts mit den Werften von Rotterdam, den Wäldern Böhmens oder Lissabon. Für mehr Sicherheit würden viele vermutlich das Warten an Grenzen wieder in Kauf nehmen und nicht nur Europa ist hier gespalten, die meisten Länder selbst sind da in sich uneins.
Wo ist der große, stolze Entwurf, dass wofür Europa in Zukunft stehen könnte? Denn eines geht mit Sicherheit schief: Europa zu einer bevölkerungsmäßig alternden Festung zu machen, in der versucht wird, aus der Vergangenheit zu leben und das, was man noch hat irgendwie abzusichern. Das ist ein Konzept, was, mal abgesehen von der moralischen Komponente auch zielsicher zur schlechten Laune führt. Die Menschen sind dann nicht mehr kreativ, sondern ein greiser Kontinent verwaltet sein Erbe und Kahneman lehrt uns, dass in dieser Situation die Menschen extrem konservativ werden und jedes Risiko meiden. Schon deshalb kann Verwaltung nicht dass Thema sein, sondern ein neuer Anreiz muss her.
Statt dessen Wirrwarr. Wenn es stimmt, was Egon Bahr sagte, dass es in der Politik keine Freunde, sondern nur Interessen gibt, sollte man auch so handeln und kommunizieren, dass es eben so ist. Es ist gut möglich, dass es im Konzert des Weltganzen nur annähernd optimale Interessenmaximierung nach spieltheoretischen Muster (das kreieren von Win-Win-Situationen) gibt, aber dann sollte man auch emotionslos nach der Optimierung von Interessen handeln. Im Moment ist davon aber nicht viel zu sehen, sondern wir sind Zeugen einer albernen gut/böse Rhetorik, die in sich inkonsistent ist (warum liefert man Waffen in Krisengebiete, aber erwartet von anderen Anstand?), aber auch strukturell ist kein roter Faden zu erkennen. Denn Saudi-Arabien Waffen zu liefern könnte eben mit Interessenpolitik erklärt werden, erklärt wird statt dessen aber gar nichts, sondern man sieht sich, fast etwas beleidigt, von Autokraten umzingelt, demnächst auch in den USA, wo das Urteil über den künftigen Präsidenten schon vor dessen Amtsantritt gefallen ist. Gerade in Europa müssten wir es besser wissen, erwarteten wir doch vom Vorgänger Obama im Vorfeld, dass er übers Wasser laufen wird, die Bilanz von acht Jahren Obama ist unterm Strich allenfalls durchwachsen.
Aber Interessenpolitik und Beleidigtsein ist ebenfalls etwas, was sich ausschließt. Wenn man nüchtern auf Optimierungen peilt muss man eben professionell mit allen klar kommen, ob sie einem nun passen, oder nicht, oder man rückt wirklich Werte und Moral in den Vordergrund, muss dann aber auch selbst einiges erklären und eventuell verändern. Der oben erwähnte Krisenberichterstatter und Autor Hans Christoph Buch ist im Laufe seiner Arbeit in diversen Kriegsregionen zu der Ansicht gekommen, dass es keine Einpoligkeit von gut und böse gibt, schon gar nicht in Krisengebieten, wir sind schnell in diese Richtung orientiert und unterstützen doch klammheimlich Systeme, die wir an sich böse finden oder lassen Machthaber über Nacht fallen, mit denen wir gestern noch Geschäft machten, die uns nützlich waren. Doch eine Orientierung hin zu immer mehr halbherziger Moral und immer mehr halbherziger Interessenpolitik, führt eher zu Lähmungen.
Der bange Blick nach Amerika unterstellt, dass dort ein großes Kind sitzt, das komplett unberechenbar ist, Gunnar Jeschke im freitag favorisiert hingegen eine andere Lesart. Statt darauf zu warten, was anderswo passiert könnte man in Sachen europäischer Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Energiepolitik mal ernst machen, statt dessen auch hier viel Halbherzigkeit, die im bürokratischen Dickicht untergeht. Die Kinder sitzen in Europa und schauen darauf, was Papa Amerika macht, statt sich um ihr Schicksal selbst zu kümmern. Europa sieht sich konfrontiert mit jemandem der Interessenpolitik knallhart durchzieht und wenn Europa nicht mehr nützlich ist und gebraucht wird … Wie lautet die Antwort Europas darauf?
Krisen gibt es genug. Ein Trias aus Globalisierungsfolgen, die eben auch in Deutschland nicht nur Gewinnern kennt, Klimawandel und demographischen Verwerfungen: Youth Bulge in Afrika und Arabien und ein alterndes Europa fliegt uns demnächst mit Ansage um die Ohren. Renten sind das nächste große Thema, das dafür sorgen könnten, dass auch noch die Alten verprellt werden. Man hört Beschwichtigungsformeln und jetzt wo wieder Wahlen sind gibt es wieder Geschenke, die Rentner gehen noch zuverlässig zur Wahl, sind sie saturiert kann man noch mal vier Jahre weiter wurschteln.
Man rechnet mit dem Optimum, dann mag das irgendwie aufgehen mit der Rente, ein realistisches Rentenkonzept muss aber auch einen Plan B und C bereithalten. Es ist nicht undenkbar, dass Europa wirklich taumelt. Wenn Frankreich austritt und Italien pleite geht und die Wirtschaft kriselt, dann müssten die Karten neu gemischt werden. Was dann? Und dass demnächst Roboter die Pflege übernehmen ist allenfalls unter Science Fiction zu verbuchen. Doch das alles sind politikinterne Fragen, hier soll es überwiegend um ihre psychologische Komponente gehen.