Der gefährliche Verzicht auf das Verständnis der Innenwelten

Regenbogen über Wald

EIn paar Träume und Visionen täten mal wieder gut. © Kevin M Klerks under cc

Wo die konservativen Kräfte stur auf Wirtschaftswachstum um jeden Preis setzten und sich dabei nicht eingestehen, dass die neoliberalen Versprechungen nicht gehalten wurden und vielfach auf Kosten der Familien gingen, machen linksliberale Strömungen so gut wie alles an äußeren Faktoren fest. Die Psyche kommt bei ihnen vor, aber viel zu oft im Sinne der Einbahnstraßendeutung, dass das Sein und das Bewusstsein bestimmt. Brunnen und Bildung, der Rest passiert dann schon irgendwie von selbst. Aber da stimmt was nicht. Es geht geht uns ja so gut wie nie. Dennoch ist die Stimmung mies, mindestens angespannt. Wer das leugnet, lebt mit geschlossenen Augen und Ohren.

Dass wir alle undankbar sind und auch höchstem Niveau meckern, ist eher eine Deutung, die verkennt, dass technischer Fortschritt längst nicht mehr gleichbedeutend mit einer Verbesserung des Lebens ist, wie es bei der Waschmaschine ganz sicher mal war. Doch die größeren Gefahren lauern innen, in der zerfallenden Struktur von Psychen. Auf eine Kurzformel gebracht: Mit fragmentierten Psychen ist kein Staat zu machen. Das ist deshalb so, weil ihr Interesse sich fortwährend um sie selbst dreht. Der psychologische Ausdruck für eine fragmentierte Psyche ist die Identitätsdiffusion und die Ich-Identität ist in ihrer psychologischen Bedeutung kaum zu unterschätzen.

Gleichzeitig ist aber auch eine kulturelle Orientierung für das Individuum identitätsbildend:

„Vamik Volkan (1999) hat dargelegt, wie nationale Identität schon früh in die individuelle Ich-Identität durch Sprache, Kunst, Sitten und Gebräuche, Speisen und vor allem transgenerationale Weitergabe von Narrativen historischer Triumphe und Traumata als Teil eines gemeinsamen Kulturguts eingewoben wird. Die individuelle Vielfalt der Menschen, die sich im Umfeld des Kindes und jungen Erwachsenen bewegen und die durch gemeinsame kulturelle Traditionen verbunden sind, trägt so zur Stärkung der Ich-Identität bei: Die Beziehung zu unterschiedlichsten Objekten lässt unterschiedlichste Selbstrepräsentanzen entstehen, die über gemeinsame Merkmale verbunden sind und die im Zuge der Entwicklung von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position integriert werden müssen.“[9]

Führen wir die Stränge nun zusammen. Wenn innerhalb der Familien die Möglichkeit den Ödipuskomplex zu erleben fehlt, fehlt ein Teil der Schutzes vor allerlei Einflüsterungen und einem Stimmenwirrwarrr, das später, auf dem Boden einer integrierten Psyche, eines stabilen Ich sehr hilfreich und befruchtend sein kann, bei der Ich-Schwäche aber verheerend wird.

Und die Menschen suchen nach Antworten, Richtungen und Orientierung. Es bleibt unterreflektiert und weitgehend unbeantwortet, warum wir Probleme mit islamistischer Orientierung eben nicht direkt bei den Einwanderern, sondern in der zweiten oder dritten Generation haben, bei Menschen, die eigentlich viel besser integriert sein sollten. Sie sind es nicht, weil wir ein Wir Gefühl, das spürbar macht, was es bedeutet, einer von uns zu sein, nicht positiv entwickelt und entworfen haben. Aber auch wachsendes links- oder rechtsradikales Gedankengut beobachten wir verstärkt in den letzten Jahren – und nicht erst seit der Flüchtlingskrise – in einer Zeit in der immer wieder verkündet wird, es ginge uns so gut wie nie. Radikale Gruppen geben den Menschen die Orientierung, die wir ihnen nicht geben können oder wollen.

In solchen Phasen wären klare Worte wichtiger denn je, die wirklich auf neue Ziele und Perspektiven hinweisen und nicht auf Sicht fahren. Was wir erleben sind Regressionen, die mehrere Schweregrade annehmen. In der Psychologie ist der Zusammenhang zwischen politischen, gesellschaftlichen und psychischen Faktoren bekannt, nur in der Politik wird er offenbar ignoriert, an den Rändern zugunsten des Lieblingsfeinbildes. Am rechten Rand ist es „der (islamische) Ausländer“ und die linken Kräfte und Verschwörungen, die das Land destabilisieren wollen, am linken Rand der Kapitalismus/Neoliberalismus und die und die rechten Kräfte, die ihn protegieren, in der Mitte ein achselzuckendes „Weiter so“, uns geht es doch allen so gut wie nie zuvor.

Die zerfallenden Psychen sind ein großes Problem, das sie in direkter Wechselwirkung mit gesellschaftspolitischen Veränderungen stehen:

„Zahlreiche Faktoren, ob einzeln oder in Verbindung miteinander wirksamen, können den Wechsel einer herrschenden gesellschaftlichen oder politischen Ideologie in Richtung eines paranoiden Fundamentalismus beschleunigen, insbesondere in einer Kultur in der es eine große Bereitschaft für Rassismus und kriegerische religiöse Auseinandersetzungen gibt. Zu diesen Faktoren gehören schwere gesellschaftliche Traumata, wie z.B. die Niederlage in einem Krieg oder der Verlust nationaler Territorien, wirtschaftliche Krisen, die Bedrohung durch feindliche Gruppierungen im Innern oder durch äußere Feinde, die Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten oder unterdrückten Klasse. All diese Bedingungen können die Regression der Gruppe zu einem gewalttätigen Mob oder einer Massenbewegung machen.

Zusammenfassend können wir festhalten: Zu den vielen verschiedenen Faktoren, die die massive Regression einer Bevölkerungsgruppe auslösen können und gesellschaftlich sanktionierte Gewalt sowie den Zusammenbruch aller bislang gültigen Moralvorstellungen und zivilisierten menschlichen Umgangsformen nach sich ziehen, gehören

  • unverarbeitete soziale Traumata,
  • fundamentalistische Ideologien,
  • primitive, insbesondere maligne narzisstische Führung,
  • eine effiziente, rigide Bürokratie sowie
  • die durch eine Finanzkrise oder gesellschaftliche Revolution hervorgerufene Auflösung herkömmlicher gesellschaftlicher Strukturen und der damit verbundenen Aufgabensysteme.

Bracher (1982) hat dargelegt, dass staatliche Kontrolle der Wirtschaft, der Streitkräfte und insbesondere der Medien, die Machtübernahme durch eine totalitäre Führung zusätzlich fördert.“[10]

Entwicklung verläuft in Stufen, die Entwicklung verschiedener innerer Stufen läuft nicht direkt parallel sind aber oft voneinander abhängig. Wenn die Psyche nicht entwickelt ist, bedeutet das vor allem, dass Defizite bei der Ich-identität und der Moral (Empathie, Selbstverpflichtung) vorliegen und dieses Wechselspiel geht wie folgt:

„In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Psychopathologie widerspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer „messianischen“ Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Psychopathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Autonomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten – all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität lässt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“[11]

Dass Stufen und Hierarchie (und letztlich dann auch das Elitäre) so einen negativen Beigeschmack haben, ist der sicher irgendwann mal gut gemeinten, aber letztliche falschen Idee geschuldet gewesen, dass wir nie wieder einem völkischen Elitarismus wie in der Nazizeit verfallen dürfen. Doch dieser Elitarismus war eben einer der verordnet wurde. Über Nacht galten die einen unbegründet als Herrenmenschen, die anderen als Untermenschen, begründet wurde das nie anders, als zirkulär, was heißt: Man fühlt sich überlegen, weil man meint man wäre besser. Aber entwickelter zu sein, heißt in der Psychologie integrierter zu sein, empathischer zu sein, sich verpflichtet zu fühlen und forciert im Grunde all das, was eine aufgeklärte und faire Gesellschaft anstrebt. Nicht gegen Stufen und Hierarchien sondern durch sie und mit ihnen.

Eine rigide und totalitäre Führung so wie eine primitive Psyche bedingen einander wechselseitig, so dass der Blick nach Innen, auf die Psyche der Menschen und ein Verständnis der Vorgänge mehr als geboten ist.

Unterschätzung der schweren Persönlichkeitsstörungen

Eine Zunahme schwerer Persönlichkeitsstörungen bedeutet psychologisch ein Zerfall von integrierten Psychen (oder die Unfähigkeit solche je zu bilden) und gesellschaftlich eine Zunahme narzisstischer und/oder paranoider Tendenzen in der Gesellschaft, immer verbunden mit einer Zunahme von aggressivem Misstrauen und/oder einem rücksichtslosen Interesse an Spaß in einer Art dekadenter Endzeitstimmung. Wenn diese Gruppen nun den Staat vor sich hertreiben, geht das in die Richtung eines totalitären Regimes, ausgehend von einer Regression der Bevölkerung. Darum ist es wichtig die Zunahme der narzisstischen und paranoiden Tendenzen in der Bevölkerung sehr ernst zu nehmen und sie nicht nur als Psychomarotte anzusehen.

Dabei ist es entscheidend folgende Punkte zu differenzieren:

Die Zunahme schwerer Persönlichkeitsstörungen

Ärgerlicherweise sind die Zahlen hier kontrovers. Man sieht die Veränderungen schon längst in der Gesellschaft, aber es gibt Untersuchungen die besagen, dass die Zahl der schweren Persönlichkeitsstörungen gar nicht sonderlich gestiegen ist. Andere Studien, wie etwa von der amerikanischen Narzissmusforscherin Jean Twenge sprechen von einen gewaltigen Zuanahme und sie macht vor allem das Internet in dem auf einmal jeder ein Superstar sein kann, vor allem je exhibitionistischer er sich darstellt (die Jungen krass, die Mädchen nackt) dafür verantwortlich, während der niederländische Psychologe Eddy Brummelman, vor allem die „parental overvaluation“ die Überbewertung oder Überschätzung der Kinder durch ihre Eltern als einen klarer Indikator für eine dramatische Zunahme des Narzissmus, vor allem unter Jungen sieht.[12]

Tenor: Wenn das Kind der Star ist und im Grunde nichts mehr falsch machen kann, dann fällt das elterliche Korrektiv weg. Das passt gut zu der Idee mit der Abwesenheit des Ödipuskomplexes: Da war der Vater dominant, das Kind musste sich später aus der Umklammerung befreien und vom Jungen zum Mann werden, hatte dafür aber auch Schutz und Orientierung, Vater und Mutter wussten wo es lang ging. Durch die Entwertung des Mannes und des Vaters kommt es hier zu kleinen Königen und Prinzessinnen in den Familien, in denen der Vater entweder kaltgestellt ist, was mitunter durch die zunehmende Patchwork Struktur weiter forciert wird oder sogar aktiv mitmacht, dann werden Eltern zu Helicopter-Eltern, die ihren kleinen Superstar auf Rosen gebettet sehen wollen.

Es gibt zumindest neuere Trends, die Brummelman Studie ist von 2015, die eine (dann drastische) Zunahme schwerer Persönlichkeitsstörungen anzeigt, aber davon zu unterscheiden sind noch einmal Regressionen in der Bevölkerung und man muss diesen Unterschied verstehen.

Massenregressionen

Massenregressionen sind zunächst passagere Effekte, bei denen an sich gesunde und integrierte Menschen in einen regressiven Strudel geraten können der ihre an sich moralisch entwickelten Ansichten und Einstellungen mitreißt, bis auf die Moral eines vorpubertären Kindes. Eine Welt in der es nur richtig oder falsch, gut oder böse, ganz oder gar nicht gibt, in der die Fähigkeit Ambivalenzen zu tolerieren – ein Zeichen psychischer Reife und das Tor zur Humanität – suspekt oder gar als Verrat erscheinen.

In diesem regressiven Klima ist die Zahl von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen nicht mal entscheidend, da Regression bedeutet, sich – meistens kurzzeitig – so zu verhalten, als ob eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt, dass Thema der Massenregression wurde in Massenpsychologie angesprochen. Bei einigen Menschen können sich Regressionen auch chronifizieren, so dass die dauerhaft auf dem verminderten Niveau bleiben, andere tauchen mehr oder minder unbeschadet aus regressiven Phasen wieder auf.

Narzisstische und psychopathische Ideale

Neben der Zahl der manifesten Diagnosen und der kaum zu erfassenden Zahl von Regressionen haben wir noch mit einem weiteren Element zu tun, dem Einsickern von narzisstischen Idealen in die Gesamtbevölkerung. Neben Jean Twenge ist es Bonelli, der darauf hinweist, dass immer mehr Menschen erkennen, dass sie Narzissten sind, das aber an sich gar nicht weiter schlimm finden. Die Gesellschaft sei halt so, da müsse eben jeder selbst schauen, wo er bleibt, lauten Antworten von jungen Studenten.

Dass es gut und normal ist, dass jeder mal zuerst auf sich selbst schaut ist ein Trend, den szientistisch orientierte Atheisten gesellschaftsfähig gemacht haben. Noch heute glauben wir Floskeln, wie die, dass die Hirnforschung bewiesen habe, dass es den freien Willen nicht gibt und wir alle genetisch bedingte Egoisten seien und mehr als ein reziproker Altruismus, der freundlich ist um irgendwann gleiches oder mehr zu erhalten, nicht drin sei, beides Treppenwitze, die gut zusammen passen und die der Biologismus uns beschert hat.

Psychopathie ist selbst eine harte Variante des Narzissmus und selbst psychopathische Ideale wie demonstrative Rücksichtslosigkeit, kalte Gleichgültigkeit und soziales Desinteresse als Steigerung sozialer Kälte und Härte sind für einige sexy.

Gegen Regressionen hilft klare Führung. Klare Führung heißt nicht Diktatur, denn das wäre wieder ein psychopathisches Ideal, sondern es könnte auch die klare Ansprache ein, dass Europa sich reformiert und die Bürger mehr in die Verantwortung geholt und beteiligt werden, wenn es mit der gemeinsamen Idee Europa ernst gemeint ist. Alles in allem spricht viel dafür, dass Europa, wenn es eine Zukunft haben will, mit einer Stimme sprechen sollte und ansonsten als Konglomerat von Kleinstaaten bald massiv an Bedeutung verlieren wird, angesichts der aufkommenden Riesen wie China und Indien, die bald die Weltpolitik viel stärker dominieren.

Wie im einzelnen die Lösungen aussehen, ist an dieser Stelle gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Zusammenhänge zwischen Innen und Außen, Gesellschaft und Psyche, Individualentwicklung, Psychopathologie und Politik verstanden und anspruchsvoller diskutiert werden, als das bisher der Fall ist. So sind in 2017 Wege aus der Krise denkbar und möglich, Zeit wird es allmählich.

Quellen und Fußnoten:

  • [1] vgl. auch Fossa über GWUP
  • [2] Arhtur Koestler zitiert in: Manfred Lütz, Bluff! – Die Fläschung der Welt“, Droemer 2012, S. 150
  • [3] Hans Christoph Buch in der WDR5 Sendung Tischgespräche, vom 21. 12. 2016
  • [4] Max Gitelson, zitiert in: Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 301
  • [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wutb%C3%BCrger
  • [6] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 332
  • [7] Die Kritik am Christentum ist in vielen Teilen gut und richtig, bei allem dem sollte man die anderen und oft unbekannten Seiten nicht vernachlässigen, die man z.B. in dem Buch Arnold Angenendt „Toleranz und Gewalt“ dargestellt findet, „Die Erfindung des Individuums“ wird von Larry Siedentop nachgezeichnet.
  • [8] Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp 1996, S. 33
  • [9] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 330
  • [10] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 331
  • [11] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta, 1998 S.297f
  • [12] vgl. Raphael M. Bonelli, Männlicher Narzissmus: Das Drama der Liebe, die um sich selbst kreist, Kösel 2016, S. 90ff