Helden des Alltags klingt ein wenig großspurig, denn was ist schon dabei, seinen Alltag zu bewältigen? Eine Menge! Im Alltag bestehen zu können, ist die Grenzscheide, deren Erreichen auch in der Psychotherapie angestrebt wird, wenn es darum geht, den Menschen primär liebes- und arbeitsfähig zu machen. Man kann dies als Reduzierung verstehen, aber auch als Sprungbrett. Ist das gesichert, kann es in Eigenregie weiter gehen. In einer Weise am Leben teilnehmen zu können, die als normal bezeichnet werden kann, klingt vielleicht etwas bieder, aber nur, solange man nicht auf dem Schirm hat, wie ungeheuer komplex das Alltagsleben eigentlich ist.
Regeln über Regeln, soweit das Auge reicht. Wenn man fragt, wo die denn stehen, dann ist das schon ein Teil der angesprochenen Komplexität, nirgends. Es gibt Verkehrsregeln und vielleicht ein paar explizite Regeln für den Arbeitsplatz, aber nirgends steht geschrieben, wie man sich in einer Supermarktschlange zu verhalten hat und doch gibt es da bis ins feinste abgestimmte Regeln.
Die Warteschlange an der Supermarktkasse
Die Regel Nummer 1 ist einfach, man stellt sich hinten an und wartet geduldig. Doch diese Regel kennt zig Interpretationen und Variationen. Etwa, wenn im Supermarkt noch weitere Kassen existieren, wird irgendwann der Fünfte in der Schlange nervös, beginnt demonstrativ suchend um sich zu schauen, halblaut oder laut zu fragen oder zu moppern, ob man denn nicht mal eine weitere Kasse aufmachen könne, denn klar ist auch, hier, an der Kasse, muss es schnell gehen. Das Pläuschchen an der Kasse ist, wenn überhaupt, kurz zu halten, wenn man dabei nicht vergisst, die gekauften Sachen einzupacken. Jedenfalls in Ballungsräumen, im Dorf kann das anders aussehen.
Häufige Regeln sind, dass man, wenn man den Einkaufswagen bis oben voll hat, denjenigen vor lässt, der nur ein oder höchstens drei Teile hat. Ganz daneben ist es, sich vorzudrängeln, Verdächtige bekommen das auch schnell zu spüren, es sei denn, sie gehören zu einer seltenen Gruppe derer, die eine Aura der Gefahr verströmt, mit denen man sich besser nicht anlegt. Da kann man dann hinterher lästern, „Unverschämtheit sowas“, aber besser nicht während dessen. Das ist längst nicht alles. Wie auf zu viel Gedrängel reagiert wird, auf Oma, die es passend hat oder auf Kunden, die ‚versehentlich‘ noch was im Wagen vergessen haben, und dass man der Kassiererin anerkennend zunickt, wenn sie diejenigen fragt, ob „das auch von uns ist“, ist geregelt.
Nicht explizit, es gibt keine Zettel am Eingang auf denen steht, wie man sich hier zu verhalten habe, statt dessen erkennt man die Regeln induktiv, das heißt, aus der mehrmaligen Beobachtung des ähnlichen Verhaltens, wird auf übergeordnete Regeln geschlossen und dabei sind sogar Differenzierungen möglich, etwa, ob man notorische Drängler zurechtweist oder unterstützt.
Wieder anders ist die Lage im Fachgeschäft, gleich ob es da Computer oder Gemüse gibt. Da gehört das intensivere Gespräch mit dem Kunden zum guten Ton und wird sogar erwartet, es macht einen Teil des sozialen Beziehungsgefüges aus, bei seinem langjährigen Verkäufer auch Privates zu erzählen, man kennt sich.
Small Talk oder wie privat man wird
Der Small Talk ist eine halbritualisierte Form der ersten Annäherung. Die Frage, wie es einem geht ist dabei nicht zu ernst zu nehmen, sondern man antwortet, dass es einem gut geht, oder deutet Gegenteiliges dezent an, so dass der andere entscheiden kann, ob er nachfragt oder ritualisiert weiter macht und ein paar aufmunternde Floskeln verteilt. „Kopf hoch. Wird schon.“ Ob und wem man mehr erzählt, unterliegt auch einem feinen Regelwerk, abhängig davon, wie gut man sich kennt. Vielleicht schon, in einer Mischung von beruflich und halbprivat, über Jahre. Dann entscheidet man auch, wann man mehr erzählt, von Krankheiten, Schicksalsschlägen und Glücksfällen, je nach dem, wie lang und eng man sich kennt und wie es gerade zeitlich passt. Wann man vom Small Talk ins Privatere einsteigt, ist eine Ermessenssache, aber auch diese ist zum Teil geregelt, es wäre unangemessen der Metzgereifachverkäuferin beim zweiten Einkauf die eigene Lebensgeschichte zu erzählen.
Wie man sich bei den Eltern der ersten Liebe präsentiert, beim Vorstellungsgespräch, ins Fast Food- oder feinere Restaurants geht und dort benimmt, für alles das und mehr gibt es ein Spektrum des in einer Gesellschaft angemessenen Verhaltens, von der Kleidung bis zur Sprache.
Offizielle und inoffizielle Regeln
Wer seinen Führerschein macht, lernt die Regeln des Straßenverkehrs. Die braucht man für die Fahrprüfung, danach nie wieder. In den ersten Wochen fährt man noch wie gelernt, doch nach und nach bemerkt man, dass man mit dieser Fahrweise im realen Verkehr nicht so recht weiterkommt. Es klappt schon, nur gibt es parallel zur Ebene der offiziellen Regeln noch inoffizielle. Die meisten Autofahrer fahren etwas schneller als die Richtgeschwindigkeit vorgibt. Welches Zeitfenster man hat um an einer Ampel loszufahren, ist auch geregelt. Gemütlich zu fahren, ist mindestens in größeren Städten fast ein Affront.
Bis auf gröbste Eckdaten ist die Erziehung von Kindern sehr weitreichend den Eltern überlassen. Dennoch stehen Eltern natürlich andererseits andauernd unter öffentlicher Beobachtung durch andere Eltern, erwünschte Erklärungen und unerwünschte Belehrungen von diesen inklusive. Die Entwicklung der Kinder wird beäugt, wann es was können müsste, wird erklärt und verglichen, besonders unerfahrene Eltern erfahren wenigstens diese Anmerkungen reichlich.
Je nach dem, wo man wohnt, bekommt das Thema Nachbarschaft eine besondere Bedeutung. In den Ballungsräumen mancher Innenstädte wohnt man dicht an dicht, oft ohne sich überhaupt zu kennen, in anderen Regionen hat die Nachbarschaft eine viel höherrangige Gewichtung, auch diesbezüglich gibt es eigene Regeln, die man im Vorbeigehen lernt. Und so geht es fröhlich weiter, oft sind die stillen Regularien erstaunlich differenziert und durchziehen mit ihren stummen Erwartungen und Vorschriften ganze Lebensbereiche. Auch für privateste, wie die Liebe und Partnerschaft, die Verwandtschaft, die Lebensphase von der Kindheit bis zum Alter und noch darüber wie man seine Haustiere behandelt und wo man einkauft, gibt es ungeschriebene Gesetze, die mitunter soziale Schichten definieren und trennen.
Soziale Kompetenz
Soziale Kompetenz nennt man die Fähigkeit sich in diesem Wust von ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln zurecht zu finden. Wir sind Helden des Alltags, weil wir in den allermeisten Fällen dieses Regelwerk beherrschen und uns seinen Umfang gar nicht recht bewusst machen. Für uns ist es irgendwann einfach normal ständig umzuschalten, ob man einkauft, Nachbar ist, Mutter, Angestellte, Freund, Straßenverkehrsteilnehmer und natürlich sich in Online-Foren oder Social Media Gruppen bewegt, die wieder ihre eigene Dynamik haben.
So vielseitig und facettenreich die einzelnen Segmente auch sind, ebenso geregelt sind oft Vorstellungen von der gelungenen Gesamtbiographie oder einzelner Abschnitte daraus. Gerade in Deutschland ist es schwer, die einzelnen sozialen Milieus zu verlassen, entgegen dem, was man glauben sollte und möchte. So wird das Schicksal der Kinder oft durch die Schichtzugehörigkeit der Eltern mitbestimmt. In der Akademikerfamilie ist vergleichsweise klar, dass auch die Kinder Karriere machen werden, während Empfehlungen für höhere Schulen Arbeiterkindern oft verwehrt bleiben.
Dazu gehört neben der sozialen Einordnung durch die Umgebung, oft auch eine prinzipielle Erfolgs- oder Misserfolgsorientierung der Eltern. Wenn ein Kind aus der Unterschicht sich doch aufs Gymnasium verirrt und dort Schwierigkeiten bekommt, sind die Eltern oft geneigt, es sofort von der Schule zu nehmen, die Sache scheint klar: man hat’s versucht, es ist eben nichts für unser Kind, Schuster, bleib bei deinen Leisten. Wenn anders herum das Kind aus sozial höheren Kreisen dieselben Leistungen bringt und Schwierigkeiten hat, sind die Eltern oft der Auffassung, dass das nur ein momentaner Durchhänger ist, das Kind sich aber sicher sehr bald wieder fangen wird. Das ist eine ganz andere Grundstimmung, die viel ausmacht.
Doch auch diese Unterscheidung zwischen Erfolgs- oder Misserfolgsorientierung folgt einem inneren Drehbuch, dessen stille Regeln wir verinnerlicht haben, die uns auch noch ‚vorschreiben‘, wo wir richtigerweise einkaufen: Großfraktion Bioladen oder Discounter, auch hier mit Brüchen und Zwischenstufen.
Noch die scheinbar privatesten Bereiche sind gesellschaftlich geregelt. Wenn wir krank werden, lautet eine stille Übereinkunft, dass man Kranke, ja nach Grad ihrer Erkrankung in vielerlei Hinsicht schont und man sich zudem um andere Dinge, wie lästige Besuche oder Unternehmungen herumdrücken kann, der sogenannte sekundäre Krankheitsgewinn. Auch das ist wiederum ein Drehbuch mit vielen komplexen Unterkapiteln, in einigen Kreisen gehört es fast schon zum guten Ton, dass man auch krank zur Arbeit geht und Kolleginnen die „auf Psyche/Rücken machen“, sind gerade noch geduldet, wenn sie zur angemessenen Zeit wieder funktionieren. Auch wie man richtig krank ist gehört zur stillen Choreographie. Die Antizipation gesellschaftlicher Erwartungen ist zwar verschieden ausdifferenziert, gehört aber zu den Basics psychosozialer Erwartungen. Nichts anderes ist die bekannter Realitätsprüfung, die Menschen mit akuter Psychose nicht bestehen.
Der Umgang mit den Regeln
Hier können und sollen nicht alle Regeln des Alltags aufgeführt werden. Sinn und Zweck dieses Beitrags ist nicht eine vermeintliche Überregulierung zu kritisieren, sondern, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was es bedeutet, an einen so komplexen Konstrukt wie dem banalen Alltag teilzunehmen und teilnehmen zu können. Das ist nicht irgendeine Leistung, sondern eine konstante Höchstleitung, an der viele scheitern, nicht nur Menschen mit irgendwelchen Einschränkungen, sondern auch gerade jene, die als in Teilen hochbegabt oder gar als Genie gelten.
Die Spannung zwischen kognitiver oder kreativer Höchstleistung und schroffen Brüchen zum Alltag ist altbekannt. Nicht nur der schrullige Professor, den irgendwie jeder kennt, der im Alltag unbeholfen und etwas ungelenk wirkt, auch das Wunderkind Mozart ist ein populäres Beispiel des kreativen Genies mit merkwürdigem Sozialverhalten. Der Bogen reicht bis zur uralten Anekdote des Philosophen Thales, der in dieser von einer Magd verspottet wurde, weil er zum Himmel schaute und dabei in einen Brunnen stürzte, also das Ferne sah und das was vor seinen Füßen lag nicht erkannte, was die Situation vom wirren Spezialisten in den Kanon einführt.
Gar nicht so selten findet man auch heute noch Menschen, die im alltäglichen Leben Schwierigkeiten haben, aber auf einigen Gebieten zu Höchstleistungen fähig sind. Im extremen Fall sind das sogenannten Inselbegabungen oder Savants, die geradezu darüber definiert sind mit dem Alltag nicht klarzukommen, dafür aber isolierte Spitzenleistungen zu bringen. Fast kann man den Eindruck haben, dass Spitzenleistungen auf bestimmten Gebieten mit Einbußen auf anderen zusammengehen, aber es gibt auch Ausnahmen von der Regel. Der Umkehrschluss ist allerdings meistens falsch. Nicht jede Schwierigkeit im Sozialverhalten ist automatisch ein Indikator für eine Hochbegabung, diese sind und bleiben hochgradig selten, aber dennoch vollbringen wir alle im Alltag großartigere Leistungen, als wir selbst glauben, weshalb der Ausdruck Helden des Alltags kaum überzogen ist.
Vieles ist heute einfacher geworden …
Die Welt hat sich verändert. Das tut sie eigentlich ständig, weshalb diese Aussage banal ist, aber sie tut es schneller und die parallele digitale Revolution durchzieht zudem noch alle Lebensbereiche. Das hat vieles vereinfacht und vieles erst ermöglicht, manches aber auch komplizierter gemacht. Wie in Generationenfragen und Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell? schon breiter ausgeführt, haben sich die Ziele und Einstellungen geändert. Vieles drehte sich vorher um den häuslichen und familiären Bereich und war von der Zuversicht gespeist, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird.
Wissenschaftliche und technische Neuerungen bedeuteten fast direkt Erleichterungen des Lebens, es gab eine Fortschrittseuphorie, die fast alle Schichten durchzog. Es gehörte zum guten Ton, mit Stolz zu zeigen, was man hat, die Statussymbole waren der dicke Bauch, die dicke Zigarre, das eigene gute Auto und Haus und die schicke Einrichtung, wenigstens auf schick gemacht.
Die Geschlechterrollen der damaligen Zeit waren mitunter äußerst klischeehaft, was heute unfreiwillig komisch anmutet, so galten als Muttis größte Träume damals, dass es der Familie schmeckt, die Wohnung sauber und die Wäsche weiß ist. Das Wirtschaftswunder wurde von dem nächstem großen gesellschaftlicher Bruch abgelöst, der 68er Bewegung, die viel Licht und auch einigen Schatten brachte, nicht umsonst wünschen sich konservative Kräfte mitunter die 50er Jahre zurück, in denen die Welt noch heil und überschaubar schien.
So simpel manches damals klang und so nachvollziehbar der Wunsch war, etwas daran zu ändern, so klar waren doch auch die Ziele der damaligen Zeit. Mit Stolz zu zeigen, was man hat und dass man es geschafft hat, gilt heute eher als prollig bis obszön, obwohl die Statussymbole sich nur verändert haben. Deutschland bleibt ein Land der Klassen, das sozial sehr undurchlässig ist. Es gehört ebenfalls zum guten Ton so zu tun als wisse man das nicht, oder sei zumindest empört darüber, wobei man gleichzeitig oft nichts dagegen hat, wenn alles bleibt, wie es ist.
… und vieles schwieriger
Denn das Leben wird als vergleichsweise kompliziert empfunden. Depressionen, Burnout und Ängste sind Krankheiten unserer Zeit mit den Möglichkeiten des Selbstmanagements steigt natürlich zugleich auf die Verpflichtung das Leben auch selbst zu managen. Bekam man bis in die jüngere Vergangenheit das Fernsehprogramm noch vorgesetzt und richtete zum Teil sein Leben danach aus, sind diese Zeiten vorbei. Die Formate sind mehr geworden und über Mediatheken und zusätzliche Bezugsquellen allzeit verfügbar, die Stars der Zeit kommen nicht nur aus dem Fernseher, sondern aus der Online-Welt. Manche machen ganze Serienwochenenden zum privaten Ritual, aber so schön das sein mag, es vereinzelt auch ein wenig, denn schon der Nachbar hat möglicherweise völlig andere Interessen. Es fehlen ein Stück weit die gemeinsamen Themen.
Galt das Private zunächst als vorrangig, so hing dieses zum großen Teil am materiellen Erfolg und für sich das zu tun, hieß zugleich für sein Land etwas zu tun, denn der materielle Wohlstand kam allen zugute. Doch mehr und mehr traten andere Themen, solche der sozialen und ökologischen Verantwortung langsam ins Bewusstsein. Auch das hatte man folglich zu beachten, erst noch als sektiererische Spinnerei abgetan, wurden diese Themen mehr und mehr zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen.
Doch damit nicht genug. Zu den gesellschaftlichen Großthemen kam die private Verantwortung noch hinzu und neben der neu zu definierenden Rolle der Geschlechter, der Sexualität, der ehemaligen Randgruppen kam allerlei mehr. Aus dem Selbstmanagement wurde Schritt für Schritt die Selbstoptimierung, mit ihren perfektionistischen Zügen. Wurde früher darauf geachtet, ob der Rasen gemäht, die Wäsche weiß und mit wie viel Eimern Wasser das Treppenhaus geputzt wurde, ist der Grad der Selbstoptimierung und -inszenierung heute viel größer geworden.
Den Alltag zu bewältigen ist mehr und mehr zur logistischen Großtat geworden und nicht selten ist man ein Opfer der eigenen Träume geworden, die insofern in den Himmel wuchsen, als man meinte, auf vieles was althergebracht war oder auch nur so schien mit leichter Hand verzichten zu können, hatte es doch den Mief des Reaktionären. So bekam man dann immer mehr aufgeschaufelt und vom Virenupdate bis zur Rente, hat man nun selbst dafür zu sorgen, dass alles wie am Schnürchen läuft. Fristen, Verträge, Mails, all das hat man zu beachten und soll natürlich pfiffig sein, denn die Möglichkeiten dazu gibt es. Hier ein Schnäppchen, da ein Restposten, Lagerverkauf hier, Onlineauktion da, vielleicht optimiert man die eigene Rente noch mit ein paar Aktien, die man natürlich klug und bunt mischt, man kann sich ja in alles einarbeiten, alles kein Problem. Oder doch?
Was man alles als Schulfach einführen sollte
Wenn mal anschaut, was man alles als Schulfach einführen sollte, weil es heute als ungeheuer wichtig gilt, hat man eine Ahnung, dass das Selbstmanagement mit nur einfach ist: Wirtschaftskenntnisse, Programmieren, mehr Bewegung, Ernährung, Versicherungen, Internetkompetenz sind nur einige Kandidaten, nebst der Tatsache, dass man heute Essen, Einkaufen und Fortbewegung immer auch Statements sind, über vieles muss man nachdenken, kennt 64 statt 2 Geschlechter, muss eine Meinung zu TTIP, der Globalisierung, Flüchtlingen und der Demokratie haben, inklusive ökosozialer Verantwortung, eine Reise ist nicht einfach nur noch eine Reise, daneben noch die flotte WhatsApp Gruppe. Da Mann und Frau heute, je nach Sicht, arbeiten dürfen und oft müssen, ist das mit der Kindererziehung so eine Sache, da man für die Karriere auch weiterhin selbst verantwortlich ist.
Man zeigt, was man hat, auch heute. Nur anders eben, auf seiner Website, sei es beruflich oder seinem Social Media Account oder subkulturell, wenn es um die neue Gestaltung des Sexuallebens geht. Längst nichts mehr für die Schmuddelecken oder einschlägigen Rotlichtbezirke. Seit man sich nicht mehr heimlich in Bahnhofskinos oder Videotheken stehlen muss, hat die Zahl der konsumierten Pornofilme um den Faktor 700(!) zugenommen. Auch in der Subkultur gibt es neue Regeln und Möglichkeiten, wie Datingportale für den schnellen Sex, was Affären leichter und das partnerschaftliche Leben komplizierter macht.
Ein Komplexitätsgrad im Leben, der äußert hoch ist, selbst wenn die Bedürfnisse nach Anerkennung, Sexualität und Kontakt alt geblieben sind. Wie ein Jongleur beim Multijobbing vielleicht besser seinen Neigungen nachgehen kann, kommt irgendwann mal der Punkt, wo aus Chancen, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten einfach Stress wird. Jedenfalls für einige.
Die 1950er als Gegenentwurf
In einer Mischung aus klischeehaft, verkitschter Romantik und echter Sehnsucht avancieren die 1950er als Retromodell der Zukunft. Man will zurückspulen in eine Zeit, in der alles noch einfach war, etwa das Rollenmodell. Er bei der Arbeit, sie im Haushalt. Doch da ist auch die Sehnsucht nach einem einfachen, naturnahen Leben, wie es klassischerweise von eher linken Ökos propagiert wurde und heute auch auf eine neurechte Bewegung im breiteren Stile übergeschwappt ist. Ein Wunsch nach einem sinnerfüllten Leben, verbunden mit der eigenen Scholle oder eben regio. Ein körperbetonteres Leben, in dem Kinder einfachste Dinge des Alltags, wie Kochen, Klettern, Knopf annähen wieder lernen. Ein Leben was in unserem Wertevakuum, in dem man oft nicht weiß, wofür man eigentlich lebt, außer, dass man weiter macht um immer weiter zu machen, wieder etwas wie Werte und Orientierung findet.
Tatsächlich wären Werte etwas, das die Vielfalt der Regeln sortieren könnte. Sonst müssen wir das selbst tun. Wir sind Helden des Alltags, weil uns das in einer erstaunlichen Mehrheit gelingt, aber diese logistische Meisterleistung ist anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass es doch immer mehr gibt, die nicht mehr mithalten können. Es ist an sich kein schöner Zug die Abgehängten achselzuckend als Unterschicht geistig und emotional zu entsorgen, doch ist es auch längst nicht mehr allein die Unterschicht, die es trifft.
Man mag uns vorrechnen, dass wir mehr Zeit haben, als je eine Generation davor, dass es uns gut geht wie nie, doch dieses „uns“ reißt nicht mehr mit, ist brüchig geworden, das „Wir“ ist kaputt. Noch immer kommt die Mehrheit mit dem Leben heute gut klar, einige genießen die Freiheit, die sie haben, doch die Minderheit, die ausgeschlossen ist, wird größer und betrifft auch ehemalige Leistungsträger, die sich übernommen haben, Helden, die an und in ihrem Alltag gescheitert sind. Es gibt zudem eine wachsende Anzahl von Menschen, die aus prinzipiellen Gründen meinen, dass das System in dem wir leben, fragwürdig ist.
Helden des Alltags und ihre Weggefährten
Den Alltag in einer Kultur bestehen zu können, sah schon Sigmund Freud zurecht als eine bedeutende Herausforderung an. Das ist nun etwa 100 Jahre her und seit dem ist unser Leben in einigen Bereichen deutlich leichter, in anderen aber auch deutlich komplizierter geworden. Für den notwendigen nächsten Schritt sind die theoretischen Vorarbeiten bereits geleistet und er sieht auf den ersten Blick etwas paradox aus. Das empfindsame Selbst (dem wir im Rahmen der Serie: Die Entwicklungsstufen der Weltbilder demnächst einen eigenen Beitrag widmen) hat sich in gewisser Weise zu Tode gesiegt, anders gesagt, es muss noch ein wenig komplexer werden um dann, in einem nächsten Schritt, sich und anderen erlauben zu können, die eigene Welt wieder etwas weniger kompliziert und unverkrampfter zu gestalten. Man muss ein Stück nach vorne gehen, um zurück gehen zu können.
Anders gesagt, ist das regressive Modell, was einigen als Lösung vorschwebt, falsch. Es ist, wie so oft in der Psychologie etwas paradox. So wie es in der Psychoanalyse die Regression im Dienste des Ich gibt, in der man sich die Vergangenheit noch einmal anschaut, um sie hinter sich lassen zu können, muss das empfindsame Selbst noch einen Schritt weiter gehen, um die eigene Vergangenheit wieder schätzen zu können und konstruktiv konservative Ansätze liebevoll umarmen zu können. Das heißt gleichzeitig auch die mitzunehmen oder wenigstens ernstzunehmen, die man vergessen oder bekämpft hat.
Das kann für diejenigen, denen es gelingt diesen Schritt zu gehen und für die Gesellschaft insgesamt ein Stück weit Entspannung bedeuten. Doch bis das der Fall ist, müssen noch einige dicke Bretter gebohrt werden und ein Teil der Problematik liegt darin, dass die Bevölkerung unterschiedlich weit entwickelt ist. Auch auf diesen Aspekt werden wir die Lupe genauer halten. Bis der nächste Schritt in etwas breiterer Form gegangen wird, ist es gut, einen Moment inne zu halten und sich klar zu machen, dass die meisten von uns eine sehr komplexe Leistung vollbringen, wenn sie einfach nur normal sind.
Freuds Ziel war nicht umsonst den Menschen wieder liebes- und arbeitsfähig zu machen, weil er wusste, dass hier ein Leben in Eigenregie beginnt und dass es alles andere als leicht ist, im Alltag zu bestehen. Der Titel Wir sind Helden des Alltags war nicht leichtfertig gewählt.