Unterschicht ist ein Begriff, den man selten verwendet. Zu diskriminierend, vielleicht auch nur zu ehrlich. So spricht man von „abgehängtem Prekariat„, allenfalls von „neuer Unterschicht„.
Nicht nur die Mitglieder der Unterschicht haben Probleme, sie selbst stellt ein gesamtgesellschaftliches Problem dar. In wirtschaftlicher, politischer vor allem aber auch in ethischer Hinsicht. Solange die Unterschicht die anderen sind, sind sie vor allem emotional weit weg.
Es kann fast jeden treffen
Dabei wird die Gefahr, heute in die Unterschicht abzugleiten, wenigstens finanziell, immer größer. Heute noch spezialisierter Ingenieur mit Ende 40, kann es sein, dass die Firma morgen schließt und man von Stund‘ an arbeitslos ist und schnell unter die Grenze von 70% des Durchschnittseinkommens rutscht, in die relative Armut der Unterschicht.
Wie schon bei der Mittelschicht wird die Grenze nicht allein finanziell gezogen, sondern anhand sozialer Kriterien wie Einkaufsverhalten, Ernährung, Tabakkonsum, Körperschmuck, Sportarten, Sprache, Medienkonsum und Bildung, näheres hier. Vermutlich treffender, da auch Akademiker heute oft arbeitslos sind oder für einen Hungerlohn arbeiten. Intuitiv widerstrebt es einem, dass die Übersetzerin oder der Philosophiedozent formal oft zur Unterschicht gehören.
Gesundheitsprobleme der Unterschicht
Gravierend sind die Gesundheitsprobleme der Unterschicht, die auf Armut zurückgeführt werden. Doch Armut allein macht nicht krank, höchstens die mit ihr oft einhergehenden Begleiterscheitnungen: mangelnde Bildung, fehlende Impulskontrolle und soziale Aus- und Abgrenzung. So ist paradoxerweise oft die Unterschicht einem Konsumrausch erlegen, zu viel an Spielen, Medien, Tabak, schlechtem Essen, zu wenig eigene Ziele und Grenzen.
Das schaukelt sich auf zu recht dramatischen 10,8 Jahren weniger Lebenserwartung bei Männern, 8 bei Frauen. Aber müssen arme Menschen wirklich eher sterben? Es sind bei Arm und Reich, der optimalen Kinderentwicklung sowie der Alzheimer-Prophylaxe dieselben Prinzipien: Bewegungsmangel, soziale Isolation, ein geringeres Selbstwertgefühl, Übergewicht, Genussmittelabusus – sie schaden, das Gegenteil nutzt.
F.A.Z.-Reporter Patrick Bernau erläutert in seinem Artikel, warum keiner der sieben Gründe für den früheren Tod im direkten Sinne auf Armut basiert. So sind gerade Diabetes Typ II, Schlaganfall und Herzinfarkt Krankheiten, die auf vermeidbare Einflüsse zurückzuführen sind. Schicksalhaft ist, dass Kinder bereits unverschuldet in diese Strukturen hineingeboren werden.
Ineinander verzahnte Probleme
„Können sie rückwärts laufen?“ Die überraschende Frage stellt der Direktor einer Förderschule im Ruhrgebiet und fügt hinzu, viele an seiner Schule könnten es nicht. Auch nicht schwimmen oder auf einem Bein stehen, sich mehr als 5 Minuten bewegen. Der Medienkonsum in Kombination mit schlechter Ernährung führt zu einem eklatanten Verlust an Körperbewusstsein und Körperintelligenz. Unsere Neuronen sprießen und vernetzen sich nicht nur beim Lernen von Gedichten und Mathe, sondern vor allem bei der Bewegung und sozialen Kontakten. Die Menschen der Unterschicht machen weniger Sport, konsumieren mehr Spiele und rauchen mehr.
Lasst die Kinder ihre eigene Welt entecken, mischt euch nicht ein, könnte die Lösung lauten. Doch das funktioniert nur halb. Die ängstliche Überbehütung, die manche Mittelschichtkinder erfahren, ist oft nicht das Problem der Unterschicht. Hier ist tatsächlich manchmal Verwahrlosung und Desinteresse der Eltern ein Problem. Wo dies nicht der Fall ist, trifft man auf das nächste: Gut und gut gemeint fallen nicht immer zusammen. Wo die Kinder, in bester Absicht, lernen sollen, gehen oft Härte und Zwang über die Bedürfnisse der Kinder und pädagogische Grundkenntnisse hinweg.
Es stimmt schon, Bewegung täte diesen Kindern gut, doch Eigeninitiative ist mangels Unterstützung und Vorbild oft nicht ihr Ding. Auch Bildung täte den Kindern gut, aber das erste Bildungsangebot ist das Elternhaus. Die Sprache, ob es Bücher gibt, wie man mit Medien umgeht, mit Tieren, Mitmenschen, ob Lernen mit Spaß verbunden ist. Vor allem, ob die Regeln der Eltern klar sind und nicht täglich verändert werden. Willkür und häusliche Gewalt sind leider oft ein Problem der Unterschicht.
Stress durch Ausgrenzung
So bleibt die Unterschicht in sozialer Isolation, mit dem oft berechtigten Gefühl abgeschrieben zu sein, zurück. Ihre Mischung aus Trotz, Stolz und Resignation sorgt für ein Desinteresse auf Gegenseitigkeit, ein Gefühl, sein Schicksal ein Stück weit selbst in der Hand zu haben, kommt kaum auf. Eine innere Kündigung, nicht nur von der seltenen Arbeit, sondern im ganz großen Stil, vom Staat und der Gesellschaft. Wählen geht die Unterschicht kaum noch.
Diese Entidentifikation, der Rückzug, das Gefühl, jeder müsse eben für sich selbst sorgen, belastet und durchzieht die gesamte Gesellschaft. Dieses Thema nur auf die Unterschicht zu projizieren ist deutlich zu wenig, verantwortlich sind wir alle.