Nietzsche Zeichnung

Nietzsche hat den Tod Gottes als Chance begriffen, aber auch die Gefahren gesehen. © Arturo Espinosa under cc

Orientierung ist eine reale Größe und Notwendigkeit in der Welt. Die Bundestagswahl 2017 liegt hinter uns und nicht die sogenannten „Altparteien“ wurden abgestraft, sondern jene Parteien, die die große Koalition der Regierung bildeten, die Volksparteien, ein Begriff, den man der SPD oft nicht mehr zuschreiben kann. Ein „Weiter so“ will man nicht, das über Jahre als attraktiv genug empfundene „Fahren auf Sicht“ ist nicht mehr alternativlos, Kanzlerin Merkels Kommentar am Tag nach der Wahl, sie wüsste nun auch nicht, was sie anders machen sollte, wirkt mindestens hoch unglücklich. Doch Politik ist nicht unser Thema, sie markiert nur den Endpunkt einer Entwicklung, bei der uns nach und nach Angebote der Orientierung zerbrechen.

„Gott ist tot!“ So lautet eines der bekanntesten und mächtigsten Zitate der neueren Philosophiegeschichte. Es stammt von Friedrich Nietzsche, doch er legt diese Worte in den Aphorismen seines Werkes „Die fröhliche Wissenschaft“ von 1882 dem „tollen Menschen“ in den Mund, toll nicht im Sinne von großartig, sondern verwirrt. Verwirrt ist der tolle Mensch nicht, weil er Gott bezweifelt, sondern weil er in dieser Szene die Umstehenden anklagt, sie alle, auch er, hätten Gott getötet, seien sich aber, im Gegensatz zu ihm, der Tragweite dieses Aktes in keiner Weise bewusst. Was haben wir da gemacht, wie haben wir es gemacht, ist die Frage des Menschen und toll wirkt er auf die Umstehenden deshalb, weil sie überhaupt nicht verstehen, was er meint.

„Es gab nie eine größere Tat – und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!«“[1]

Ob man dies nun feiert oder bedauert, Nietzsches Befund an der Stelle ist ein anderer, nämlich der eines Verlustes an Orientierung. Gott, so kümmerlich er Nietzsches Meinung nach im Christentum auch gedacht wurde, hat doch auch eine Sicherheit gebracht, man wusste, was man zu tun und zu lassen hatte und in Nietzsches Zeit war der Gedanke, dass es Gott gar nicht geben könnte und sogar der, dass er längst tot sei, bereits verbreitet.[2] Nietzsche begegnet uns hier eher als Chronist, fraglos skeptisch gegenüber den Religionen und insbesondere gegenüber dem Christentum, aber mindestens so skeptisch gegenüber einer simplen Beseitigung von Gott und dem Akt so zu tun, als würde all das keine weiteren Folgen haben, nachdem es nun einmal geschehen ist, denn das war Nietzsche klar, geschehen ist es bereits.

Religion und ihr Heilsversprechen

Gott hat die Welt erschaffen und sorgt in Teilen auch weiterhin für sie. Ihr müsst nur glauben, gehorsam sein und ein gottgefälliges Leben führen, dann seid ihr auf der sicheren Seite. So lautete der Deal über die Jahrhunderte, mindestens in der heutigen Nacherzählung der Geschichte. So ganz stimmt es nicht, es gab immer schon Zweifler und das Christentum hat der früheren Obrigkeit historisch vermutlich mehr abgerungen, als es selbst als Herrschaft ausgeübt hat, aber fraglos gibt es auch all die Tendenzen, die Nietzsche so radikal mit dem Christentum brechen ließ.

Für die Führung der Menschen waren die obigen Leitsätze vermutlich prima, solange man dran glaubte, glauben konnte. In einem religiösen Umfeld war dies sicher der Normalfall, doch auch die konsequente Gottestreue konnte in die Verzweiflung führen, gerade weil man alles richtig gemacht hatte und das gewünschte Ergebnis noch immer nicht eintrat. Es ist eine eigene Welt, sich in die Seelen der aufrichtig Gläubigen einzufühlen und ihre Sorgen, Nöte und Hoffnungen nachzuvollziehen. Auch wenn vermutlich die wissenschaftlich-technische Revolution der Religion in Europa am meisten zusetzte, weil Gott für vieles im Alltag nun schlicht nicht mehr benötigt wurde, wurde unterm Strich hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Doch zunächst merkte man das nicht.

Bei konstant anwachsendem materiellen Wohl rückt das seelische Wohl ein wenig in den Hintergrund. Wir realisieren erst nach und nach, was uns dabei so nebenbei noch verloren gegangen ist. Ich habe nie so recht verstanden, warum der eher schlichte Gedanke wahr sein soll, dass, wenn wissenschaftliche Tatsachen der heiligen Schriften nicht stimmen, sie damit komplett widerlegt wären. Die moralische und die Gesellschaft regelnden und sinnstiftenden Aspekte der heiligen Bücher sind mindestens gleich stark zu betrachten und dafür fehlte der Ersatz.