Die Krisen in unserer Zeit sind reichlich und ein gesellschaftlicher Zerfall ist sichtbar, doch es gibt individuelle Strategien um damit umzugehen.
Einige Krisen haben wir alle bereits überstanden, persönliche und gesellschaftliche und jede ist im besten Fall auch ein Trainingslager. Wir lernen an ihnen, wie wir mit ihnen umgehen, dass wir sie überleben und in vielen Fällen sagen Menschen im Rückblick, dass sie an den Krisen in ihrem Leben am meisten gewachsen sind, auch wenn die Ehrlichkeit es gebietet, zuzugestehen, dass im Moment einer persönlichen oder gesellschaftlichen Lebenskrise, dies gewöhnlich nichts ist, worüber wir begeistert sind.
Realismus ohne Resignation
Beim letzten Jahreswechsel habe ich einen Satz nicht mehr gesagt, den ich drei Jahre davor in Folge gesagt habe: Dass wenigstens eines ziemlich sicher ist, dass das nächste Jahr nur besser werden kann. Mal sehen, was die Zukunft bringt, ich bin offen für positive Überraschungen, rechne aber im Grunde nicht mehr damit.
Eben schilderte ich das beste Szenario, dass die Krisen uns sturmtauglicher gemacht haben, ein wenig härter, im besten Fall, ohne dabei unsere Menschlichkeit zu verlieren. Aber es gibt genügend Menschen, die die letzten Jahre nicht gut überstanden haben und sich vor der Zukunft fürchten, die psychisch, physisch und manchmal finanziell kaum noch etwas zuzusetzen haben.
Eines haben große Lebenskrisen gemeinsam, nämlich, dass es keine Rezepte für alle gibt, sondern man verstärkt auf das Individuum schauen muss. Was für die eine gut und richtig ist, bekommt dem anderen nicht. Das galt für Corona, es gilt für chronische Schmerzen, neue multimodale Ansätze in anderen Bereichen der Medizin, aber auch für das Leben im Alltag.
Auf der einen Seite sind wir alle Menschen, aber diese Aussage ist so global, dass man mit ihr (über den stillen ethischen Anspruch darin, miteinander auch so umzugehen) nichts anfangen kann. Auf der anderen Seite sind wir alle Individuen und einzig, aber auch das darf man nicht übertreiben, denn wir wissen, dass ein verhungernder Mensch Nahrung braucht, wir haben also Gemeinsamkeiten, die uns bekannt sind.
Heißt, die Lösung liegt irgendwo in der Mitte, in dem was wir hier immer wieder mal als Weltbilder vorstellen. Zu Krisen haben wir eine seltsam doppelte Beziehung. Einerseits sind wir frei, an das Weltbild zu glauben, was uns am meisten überzeugt. Andererseits hat das, was uns überzeugt, seine Vorgeschichte: Manche Erklärungen finden wir zu simpel oder gar lächerlich, andere viel zu kompliziert und so landen wir bei dem, was wir überzeugend finden und es ist gleichzeitig das, was wir am besten intuitiv verstehen und umsetzen können. Daher ist der erste Punkt einer individuellen Strategie:
Finden Sie heraus, wer Sie sind
Das ist ein wichtiger Punkt, der in den letzten Jahrzehnten immer stärker vernachlässigt wurde. Man sollte und wollte bestimmte Ziele erreichen, an denen dann klar werden sollte, dass man es geschafft hat. Bis zu den 1970ern war es gut, wenn man das erreichte, was die anderen auch erreichten, ab da, bis heute, ging es immer mehr darum, seine Individualität zu leben, was häufig dahingehend missverstanden wird, dass man seine Andersartigkeit und Besonderheit betont und das geht oft in eine narzisstische Richtung.
Aber es waren häufig die Äußerlichkeiten oder allein diese ‚ich bin anders‘-Attitüde, die zählte, und es war in gewisser Weise wichtig zu betonen, dass niemand nachvollziehen kann, was ich erlebt habe. Also bestand auch keine Notwendigkeit dem nachzugehen, außer, dass man immer wieder erzählte, dass sowieso niemand wirklich verstehen kann, wie es ist, dies oder das erlebt zu haben. Das legendäre Endspiel in der Südkurve erlebt zu haben, bei dem ganz besonderen Konzert live dabei gewesen zu sein oder der Trip mit dem Rucksack durch Norwegen. Die Einsicht, dass jedes Leben aus vielen Einzigartigkeiten besteht, wäre eine zu große Kränkung, ebenso wie die Einsicht, dass das fast der neue Mainstream ist, gegen den Mainstream zu sein: anders, besonders, einzigartig. Was in dem Moment kein Problem wäre, in dem man es anderen auch zugesteht.
Doch andere fühlen sich nach wie vor in der Gruppe wohl oder wollen, besonders bei jungen Menschen, die unfreundliche Abgrenzung gegen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft eintauschen. Hatten früher die älteren Menschen Vorbehalte gegen die ruppige Jugend, ist es heute seltsam umgedreht. Die Boomer-Generation gilt in den Augen vieler Jugendlicher und junger Erwachsener als unfreundlich und übergriffig.
Wer sind Sie? Was überzeugt Sie? Wollen Sie eher allein gelassen werden oder zieht es Sie in die Gemeinschaft? Erleben sie andere als Konkurrenz oder als kooperativ? Was sind Ihre Ziele? In welcher Welt würden Sie gerne leben, wenn Sie könnten, wie Sie wollten? Diese Fragen zu stellen, ist als solches schon gut, weil es die Aufmerksamkeit nach innen richtet und es das Problem gar nicht so weniger Menschen ist, nicht zu wissen, wer sie eigentlich sind und was sie wollen. Wenn das der Fall ist, kann man oft etwas dagegen tun, aber dafür muss man es wissen.
Man kann schauen, an was für Themen man interessiert ist und an was man wirklich glaubt. Sind Sie an Fragen über Gott interessiert oder lässt Sie das völlig kalt? An Fragen zur Alternativmedizin und wenn ja, warum eigentlich? An Fragen der Wissenschaft, der Politik, der Umwelt und des Klimas oder sind Sie eher ein Familienmensch, der sich dafür nicht so interessiert?
Wenn ich weiß, wer und wofür ich bin
Es ist fast egal, in welchem Krisen Sie landen, es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Entweder Sie sind mit dem Weltbild, zu dem Sie gehören, vollkommen einverstanden, dann sind Sie in Ihrer Welt angekommen und dafür kann man Sie nur beglückwünschen. Denn Sie wissen, wofür Sie aufstehen und haben eine Idee, wie die Welt funktioniert, die Ihnen plausibel erscheint, auch dann, wenn Sie ganz ehrlich mit sich sind. Versuchen Sie sich in dieser Welt einzurichten, auch hier ist nicht jeder Tag ein Sonntag, aber Sie haben Ihre geistige Heimat gefunden.
Die andere Möglichkeit ist, dass Sie sich zwar prinzipiell einem Weltbild zugehörig fühlen, es aber irgendwie nicht mehr ganz aufgeht. Das heißt, es sind schon gewisse Zweifel da, die schwach aber auch stärker sein können, mitunter mit einem Zerrissenheitsgefühl verbunden, weil unser Weltbild uns mit schnellen Orientierungen in allen Lebenslagen versorgt oder diese bleiben eben aus. In dem Fall ist es schwer sich einzurichten, zumindest, wenn die Zweifel gravierender sind und es ist besser weiter zu suchen, bis der Tag kommt, an dem man eine neue Orientierung gefunden hat, das kann aber einige Mühen kosten.
Man merkt es daran, dass man nun auf einmal glaubt, die Welt komplett verstanden zu haben. Wenn Sie das halten können, ist es Zeit Anker zu werfen und wenigstens die nächsten Jahre zu genießen. Entweder Sie sind angekommen oder es geht noch einmal (oder mehrfach) weiter, das werden Sie an der neuerlich auftretenden Zerrissenheit erkennen, die diesen Prozess begleitet. Schlecht ist es, wenn das neue Weltbild Sie konstant überfordert und Sie sich nie heimisch, sondern immer gestresst fühlen, dann wäre es gut, nach einiger Zeit die Zügel schleifen zu lassen und einen Schritt in die alte Heimat zurück zu gehen, in der man sich auskennt und angekommen fühlt.
Aus der Perspektive des Individuums ist es egal in welcher Welt man angekommen ist. Dort, wo man sich wohl und heimisch fühlt, ist die richtige Welt. Das dürfen wir nicht vergessen, es wird später noch wichtig. Denn hier taucht die Frage auf, ob denn alle Weltbilder tatsächlich gleich gut sind. Gewöhnlich finden wir unsere westliche Weltsicht, die demokratisch ist, besser als fundamentalistisch religiöse oder andere dogmatische Weltbilder.