zerbrochene Scheinde in, Menschen, schwarzweiß

… und alle gehen in verschiedene Richtungen © Thomas Rodebücher under cc

Das kaputte Wir meint die weithin sichtbare Fragmentierung und Reorganisation in der Gesellschaft dieser Tage. Ein gesellschaftliches Wir besteht vermutlich in dem Moment am selbstverständlichsten, wenn es nicht eigens hinterfragt und betont werden muss. Wer es fordert, zweifelt schon.

Wir, das sind nie alle, denn ein Wir zu formulieren braucht in aller Regel einen Gegenpol: Die. Aber auch wenn Wir niemals alle meinte so zieht es seine Kraft daraus, dass es doch für die allermeisten zutrifft und selbst wenn man nur anteilig dazu gehört, ist dieses Wir identitätsstiftend, mehr als einem manchmal bewusst ist. Jede gesellschaftliche Gruppe hat eigene Codes, bestehend aus Sprache, Verhalten, dem, was man tut und wohin man geht und Regeln von richtig und falsch. Selbst Gruppen, die die Gesellschaft ablehnen sind oft der subkulturelle Schattenteil einer Gesellschaft, von dieser stillschweigend geduldet und sei es nur durch ein stilles Wegschauen, in dem man manches gar nicht so genau wissen will, wie man es durchaus wissen könnte. Damit haben Subkulturen eine, die Gesellschaft stabilisierende Rolle, solange ihr Verhältnis so ist, dass die Kultur die Subkultur in Zahl und Bedeutung weit überragt.

Die Fragmentierung der Gesellschaft durch Echokammern und Blasen ist hier schon thematisiert worden, ebenso die eventuelle Fragmentierung der Psyche durch Smartphones, doch bei regressiven Bewegungen, in denen eine größere Einheit zerfällt, weil die Zahl der Menschen, die demonstrativ und lautstark nicht mehr mitspielen wächst, tritt auch eine Gegenbewegung oder ein Stopp des Falls ein, auf einer niedrigeren Organisationsebene. Wir wollen versuchen, die Ursachen des Zerfalls und die Reorganisation nachzuzeichnen und zu verstehen.

Da stimmt was nicht

Wie in Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell? dargestellt, gab es einen Dreiklang aus echten Veränderungen, deren medialer Verstärkung und schlechter Stimmung, die wesentlich auf einem Rückgang des Vertrauens in Forschung und Technik beruhte, die ein neues Heilssystem darstellten, eine Bewegung, die vermutlich Ende der 1970er und Anfang der 1980er einsetzte.

Was passiert wenn ein großes Sinn und Glauben stiftendes System unter Kritik gerät? Es geht in einigen Teilbereichen in sich, doch im wesentlichen wird es zurückschlagen und versuchen, seine Vormachtstellung zu behalten. Ein Abwehrkampf, bei dem alle Register gezogen werden. So war es auch diesmal. Doch dass es überhaupt um eine Bewegung ging, in der ein Glaubenssystem zerfiel, wurde kaum bemerkt, weil es parallel mehrere Ablenkungen im Außen gab, die in Deutschland dieses Phänomen überlagerten und als Projektionsfläche dienten, die reale Veränderungen mit sich brachten, die nicht ohne waren.

Die deutsche Einheit, das Internet und der Euro

1989 gab es die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik, mit all ihrem Jubel, ihren Schwierigkeiten und Missverständnissen, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, die jedoch für reichlich Aufmerksamkeit und Ablenkung sorgten, umso mehr, als es ein Jahr später zu dem welthistorischen Ereignis des Zusammenfalls des Kommunismus kam. Noch in die Phase der Neuorientierung brach der Aufstieg des Internet, ein weiteres, ganz anderes und für alle neues Phänomen, so etwa um 1993. Zunächst als eine Art Unterhaltung für ein paar Leute, die auf Technikspielzug und Neues abfuhren, gewann das Internet rasend an Fahrt und Einfluss und ist 20 Jahre später aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. Und als wäre das alles nicht genug kommt es noch, in 2002, zu einer nahezu europaweiten Umstellung der nationalen Währungen auf den Euro, als ein drittes Großereignis.

Dass da irgendwas nicht stimmt war seit den frühen 1980ern ein stilles und langsam wachsendes Gefühl, doch mit der deutschen Einheit fand man eine Erklärung und Ablenkung. Die Probleme, die wir hatten, die Einschnitte, die mitunter vorgenommen wurden, konnte man den Ossis anlasten, von deren Lebensart ein paar kulinarische Besonderheiten und der grüne Pfeil an der Ampel übernommen wurde, ansonsten erfolgte der Zusammenschluss weitestgehend nach westlicher Spielart, was die Ossis nach Meinung der Wessis nicht immer mit der hinreichenden Mischung aus Dankbarkeit und Demut quittierten.

Aber da wusste man dann wenigstens der schuld an der Misere war, der Ossi. Das Internet nahm man spielend mit, beim Euro gab es dann wieder ein Rumoren. Zum „Teuro“ wurde er erklärt und vielleicht zum ersten Mal begegnete uns das Phänomen der gefühlten Wirklichkeit. Denn, so nahmen viele Menschen den Euro wahr: Die Ziffern der Preise wurden bei der Umstellung annähernd 1 zu 1 beibehalten, besonders bei Kleinkram, während die Löhne halbiert wurden. Aber das sei nicht wahr hieß es und ebenfalls zum ersten Mal zeigte sich ein merkwürdiges Phänomen der versuchten Aufklärung. Es wurde der Bevölkerung öffentlich vorgerechnet, dass sie sich irrt, in Wirklichkeit sei manches teurer und anderes billiger geworden und unter Strich sei das meiste billiger. Nur Heizöl und Benzin nicht, die man aber nun mal dringender braucht, als den etwas billiger gewordenen Joghurt.

Das war so ein Stachel, der piekste. „Das stimmt was nicht“, dachten manche und war das wirklich nur „gefühlte Wahrheit“, wie man ironisierend sagt? Aber durch die Sündenböcke konnte überdeckt werden, dass der Fortschritt nicht mehr mit kam, mit den Erwartungen der Menschen. Und Fortschritt, das war das primäre Setzen auf Vernunft und Zahlenspiele. Auf Wissenschaft und Ökonomisierung. Wer da nicht mittat, galt als Idiot und Sektierer, als „unwissenschaftlich“, eine Bezeichnung, die damals noch ein schweres Vergehen ausdrücken sollte.

Vorglühen durch Egoisten

So sei er eben, der Mensch, ein Triebtier, nicht anders als andere Primaten, der sich seine Willensfreiheit nur einredet. So tönte es von den Elfenbeintürmen einer neuen Spezies von Überfliegern, den Hirnforschern, die auf einmal in einem eigenwilligen Hype nicht nur erklären mussten, was Denken und Willensfreiheit ist und dass man Moral vergessen kann, sondern irgendwie zu allem und jedem befragt wurden. Nun war alles Trieb und von Naturgesetzen bestimmt, ins gleiche Horn tuteten danach andere Biologisten, vor allem jene, die sich mit Evolutuionisbiologie befasst waren.

So sei er eben, der Mensch, ein Homo Oeconomicus, jemand der seinen Verstand nur benutzt, um sich im ewig egoistischen Kampf der Gene Vorteile zu verschaffen. Ein Dogma, versehen mit harten Attacken gegen alle Formen der Religion und der „Unvernunft“. Dass diese hart atheistische Linie in Amerika ihrer Ausgangspunkt nahm, konnte man noch verstehen, da Kreationisten und ultrareligiöse Kräfte dort einen ganz anderen Einfluss hatten, aber bei uns?

Dass die Botschaft auch hier ankam, geht zu einem Teil auf das Abwehrgefecht zurück, in dem die „vernünftige“ Weltsicht sich befand, denn bei uns lebten die religiösen Gruppen, die schleichend an Bedeutung verloren neben anderen Gruppen, die sich für das Thema eher am Rande interessierten – die einen waren eben gläubig, die anderen nicht – und man ging in friedlicher Ignoranz seiner Wege.

Das Internet ist ein neuer Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen und hier war die wachsende Aggression früh zu merken. Denn das world wide web ist eben nicht eine nur virtuelle Realität, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Das ist eine eher unterkomplexe Betrachtung von Wirklichkeit. Sie folgt aber einer Vorstellung, die tief in uns verwurzelt ist und die deshalb selten reflektiert wird. Weil ja jeder weiß, mithin, zu wissen glaubt, wie es in Wirklichkeit ist.

Unsere Vorstellung von Wirklichkeit und Wahrheit ist ungefähr die, dass es einerseits reale Geschehnisse in der Welt gibt und auf der anderen Seite Meinungen und Ansichten über diese Realität, die man damit, wenn die Vorstellungen mit der Realität übereinstimmen, richtig erklärt und dann, wenn man sie richtig erklärt auch Erfolg hat. Verfehlt man die Wahrheit, hat man keinen Erfolg.

So ist die Lesart eines Weltbildes, dass von sich behauptet primär vernünftig zu sein und die Welt als große, „gut geölte Maschine“ deutet. Alle Zahnräder greifen naturgesetzlich ineinander und wer die Wirklichkeit versteht und respektiert, dem geht es gut. Es kommt also auf den Betreffenden selbst an und in dieser stillen Allianz von Wissenschaft und Technik, hatte sogar noch die Religion Platz, wenigstens die calvinistischen Teile der evangelischen Variante, alle glaubten gemeinsam an den Fortschritt. Und Fortschritt hieß das Verstehen des großen Räderwerks. Das stimmte in dieser Eingleisigkeit nie, aber es gab eine breite gesellschaftliche Einigung darüber, dass es so sei.

Ernsthafte Gegenentwürfe zu diesem Weltbild gab es zwei: