»Morgen habe ich mehr Ruhe« oder lieber: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Beide Devisen haben ihre Vor- und Nachteile. Von einem Termin zum nächsten zu hetzen, entspricht nicht mehr unbedingt dem aktuellen Zeitgeist. Mehr Muße ist angesagt. Problematisch wird es nur, wenn das Aufschieben sich als Verhaltensweise etabliert und zur Prokrastination wird. Wenn man zum Beispiel seine Arbeitspausen allzu häufig einlegt, um in sozialen Medien unterwegs zu sein, und so die pünktliche Abgabe einer Arbeit verhindert wird. In diesem Fall hat man es gegebenenfalls mit einer ernsthaften Arbeitsstörung zu tun.

Aufschieben im Alltag: Prüfung, Hausarbeit & Co.

Studenten kennen es zu genüge. Auch Freiberufler sind damit durchaus vertraut. Gerade, wenn man seine Arbeitsabläufe selbst koordinieren muss, werden unliebsame Aufgaben häufig aufgeschoben. Das kann das Lernen für eine Prüfung sein, ein Arbeitsbericht, den man fertigstellen muss, oder zum Beispiel die Buchhaltung. Obwohl es mittlerweile Programme gibt, die uns diese Aufgaben erleichtern können, da sie uns helfen, die Abläufe zu strukturieren und Teilziele zu setzen, kann es hin und wieder problematisch sein, die eigene Selbstregulation in den Griff zu bekommen.

Prokrastination: zu wenig Beachtung in Klinik

Füller, Korrekturen und Notizen

Prokrastination ist: wenn die Arbeit zu lange auf einen wartet. © Nic McPhee under cc

Von den diagnostischen Manualen, ICD-10 und DSM-IV, wird die Prokrastination bisher stiefmütterlich behandelt. Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen und erst langsam keimt in der psychologischen Fachwelt der Verdacht auf, dass es sich bei der Prokrastination um eine eigene Störung handeln könnte. Momentan wird Prokrastinieren lediglich als Symptom bei anderen Störungen aufgeführt.

Einer der Vorreiter dabei, die Prokrastination als eigenständige Störung zu betrachten, ist die Universität Münster mit ihrer Prokrastinationsambulanz. Dort hat man vorläufige Kriterien für eine Symptombeschreibung konstruiert und einer empirischen Prüfung unterzogen. Ebenfalls entwickelt wurde ein Fragebogen als unterstützendes diagnostisches Element im therapeutischen Kontext.

Symptombeschreibung der Universität Münster

In Bezug auf Intensität, Dauer und Auswirkungen des Aufschiebeverhaltens ergeben sich folgende vorläufige Diagnosekriterien der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster in Anlehnung an das DSM-IV:

A. Aufschieben von Tätigkeiten

In den letzten sechs Monaten sind sehr wichtige Tätigkeiten an mindestens der Hälfte der Tage über den passenden Zeitpunkt hinaus aufgeschoben worden, obwohl Zeit für deren Erledigung zur Verfügung gestanden hat.

B. Kein Erreichen persönlicher Ziele

Durch das Aufschieben wurde das Erreichen der persönlichen Ziele stark oder sehr stark beeinträchtigt.

C. Zusätzliche Kriterien

Zusätzlich müssen mindestens drei der folgenden sechs Kriterien erfüllt sein:

  1. Es wurde mehr als die Hälfte der für die Erledigung der Aufgabe zur Verfügung stehenden Zeit mit Aufschieben verbracht.
  2. An mindestens der Hälfte der Tage wurden andere, weniger wichtige Tätigkeiten vorgezogen, obwohl man eigentlich mit der wichtigen Aufgabe beginnen wollte.
  3. Die zu erledigenden Aufgaben haben an mehr als der Hälfte der Tage Abneigung und Widerwillen ausgelöst.
  4. Mindestens die Hälfte der Vorhaben, die im letzten halben Jahr abgeschlossen werden sollten, wurde aufgrund des Aufschiebens nur unter großem Zeitdruck oder gar nicht fertig gestellt.
  5. Aufgrund des Aufschiebens besteht eine Beeinträchtigung des Leistungspotenzials von mindestens 50 %.
  6. Es liegen mindestens fünf von den folgenden körperlichen und/oder psychischen Beschwerden vor, die durch das Aufschieben hervorgerufen wurden: Körperliche Beschwerden (Muskelverspannungen, Schlafstörungen, Herz- bzw. Kreislaufprobleme etc.) bzw. Psychische Beschwerden (Innere Unruhe, Druckgefühl, Hilflosigkeit, Innere Anspannung, Angst)
  7. D. Keine andere Störung

    Die Probleme können nicht besser erklärt werden durch eine andere Achse I- oder Achse II-Störung.

    Selbsttest und Intervention

    Ferner hat die Prokrastinationsambulanz der Universität Münster einen Selbsttest zum Aufschiebeverhalten entwickelt und online gestellt. Die Möglichkeit der Beantwortung der Fragen in einem stressfreien Setting kann dabei vorausgesetzt werden.

    Kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention

    geharkter Strand

    Bei Prokrastination findet man zwangsläufig viele andere Dinge interessanter als zu arbeiten. (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © Michael Coghlan under cc

    Bedingt durch ihre Erfahrungen im universitären Kontext weiß man bei der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster, dass das Aufschiebeverhalten unter den Studierenden weit verbreitet ist. Die Einschränkungen dadurch können soweit gehen, dass die Studienleistungen beeinträchtigt sind, eine Verlängerung oder gar ein Abbruch des Studiums droht und sich depressive Symptomatik als mögliche Konsequenz daraus entwickeln kann. Evaluierte Behandlungsmethoden zur Prokrastination gibt es kaum. Die Psychologen Höcker, Engberding und Rist von der Universität Münster haben als eine der ersten ein solches Interventionsprogramm entwickelt. Wie erste Evaluationsergebnisse von Höcker et al. (2008) zeigen, scheint sich durch die Intervention das Aufschiebeverhalten zu verringern und sich das protokollierte Lernverhalten zu verbessern.

    Um etwas gegen seine Prokrastination zu unternehmen, genügt es nicht, Punkte auf einer Checkliste abzuhaken. Stattdessen empfiehlt sich ein empirisch geprüfter, therapeutischer Ratgeber wie der von Höcker, Engberding und Rist. Darin befinden sich konkrete Anleitungen zur Selbstbeobachtung und Selbststeuerung sowie Hilfen zur Entwicklung von Strategien, um mit Prokrastination zukünftig besser umgehen zu können, Arbeitszeiten und Teilziele planbarer zu machen und stabile Arbeitsgewohnheiten zu entwickeln. Gelernt wird, sich mit seinem persönlichen Arbeitsstil wohl zu fühlen, um auch Freizeit wieder richtig – ohne schlechtes Gewissen – genießen zu können.