Deckengemälde, Öffnung vor Wolkenhimmel mit Engeln und Tieren

Wir können sehen, wo wir hin wollen, sind aber noch nicht dort © Sztuka24h under cc

Nach einem Waffenstillstand im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist irgendwann eine echte Annäherung, ein wirklicher Frieden notwendig.

Viele fragen sich, wie ein solcher wirklicher Frieden aussehen kann. Ich mich auch. Die Gesichtswahrung beider Seiten wird dabei betont. In der gegenwärtigen Situation ist das verfahren, hängt vom Verhandlungsgeschick der Diplomaten ab und ist klarer Weise ein machtpolitisches Tauziehen, von dem niemand weiß, wie es ausgeht. Diesen Strang will ich nicht weiter verfolgen, weil ich es nicht sagen kann, mich interessiert die Zeit danach.

Die wechselseitigen Vorwürfe

Gegenwärtig ist unklar, wofür der Westen steht, da er gespalten und in einer Phase der Transformation ist. Es ist selbst im Westen, der gerne Einigkeit und ein gleiches Wertefundament betont, nicht so, dass er homogen ist, es könnte sich jedoch am Ende als seine Stärke erweisen, dass er es nicht ist.

Denn das was wie Zerrissenheit aussehen kann und es auch manchmal ist, ist gleichzeitig ein Aufbruch in den Pluralismus mit der Vielfalt seiner Perspektiven. Aber nicht jeder im Westen ist Pluralist, nicht jeder möchte es sein und so ringen die Positionen miteinander. Der Pluralismus hat großartige und unschöne Seiten.

Die unschönen sind, den Pluralismus allen Menschen aufzudrängen und dagegen rebellieren gerade viele in Europa und auch in Deutschland, mal mit besseren, mal mit schlechteren Argumenten. Der andere Punkt ist ein Werte- und Wahrheitsrelativismus, der suggerieren möchte, dass irgendwie jeder Recht hat und wenn man das nicht empfindet, hat man sich einfach nicht genug Mühe gegeben, sie oder ihn zu verstehen. Da ist schon was dran, aber die Frage muss erlaubt sein, ob der oder die andere sich ebensolche Mühe mit dem tiefen Verständnis unserer Position gibt. Die Frage von Symmetrie und Wechselseitigkeit.

Die schöne und starke Seite des Pluralismus ist, die Breite der Perspektiven und die Möglichkeit eine nahezu endlose Zahl neuer, kreativer Ansätze zur Verfügung zu haben, die daraus resultieren können, sowie eine Sensibilität für marginalisierte Stimmen und Gruppen zu besitzen.

Die russische Machtelite kritisiert diese Heterogenität oder Uneinigkeit des Westens, sieht diese als Schwäche an und versucht daher den Westen immer mehr zu spalten. Dabei geht es gar nicht unbedingt darum möglichst viele von der Perspektive Russlands zu überzeugen, es reicht die Spaltung zu vertiefen. Ob dies gelingt, bleibt offen.

Ansonsten wirft man dem Westen eine Mischung aus Aggression und Perversion vor. Es sei von Frieden die Rede, in Wirklichkeit sei man aber an knallharter Machtpolitik interessiert, die man nett mit der Rede von Werten und Rechten ummantelt und immer dann kurz vergisst, wenn es um eine Ausdehnung der Einflusssphäre in militärischer wirtschaftlicher Hinsicht geht. Im Grunde der Vorwurf der Doppelmoral und Lüge. Eine Lüge sei auch die repräsentative Demokratie. Pervers sei der Westen, weil es keine klare Zuordnung der Geschlechter mehr gibt, man offen gegenüber vielen Formen der Sexualität ist und verweichlicht sei.

Russland wird vom Westen ein Rückfall ins 19. Jahrhundert vorgeworfen, mit imperialistischen, homophoben und faschistischen Tendenzen. Eine autoritäre Clique regiert das Land und kontrolliert die Medien, der einzelne Bürger spielt keine Rolle und hat sich im Zweifel dem Staat, der als großer Organismus gesehen wird, unterzuordnen. Der einzelne Mensch ist eine Zelle im Organismus. Es ist unklar, ob diese Sicht eine authentisch religiöse Sicht ist oder religiöse Einstellungen instrumentalisiert, es ist auch denkbar, dass beide Positionen oszillieren und einander ergänzen.

Auch Russland wird vorgeworfen zu lügen, es könnte sein, dass die in der Machtelite die Einstellung herrscht, gelogen werde ohnehin überall, alles sei letztlich eine Machtfrage und so tue man einfach, was überall gemacht wird, nur versucht man das nicht zu übertünchen.

Der westliche und östliche Sichtweise

Der Kern der Differenz zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Osten‘, auch über Russland hinaus, ist die Bedeutung des Individuums. Die westliche Wertehemisphäre betont den Wert des Individuums, zur Not auch gegen den Staat, während in Russland gerade die Idee vorherrscht, das Individuum habe sich zu fügen, für den Staat. Auch andere Teile der Welt sind oft kollektivistisch eingestellt, das heißt, das Wohl der Gemeinschaft, Gesellschaft oder des Staates rangiert über dem Wohl des Einzelnen.

Problematisch ist nun, dass im zunehmend säkular werdenden Westen die Einstellung vorherrscht, die Geistesgeschichte habe gegen die Kirche die Position des Individuums gestärkt, während Larry Siedentop beschreibt, wie gerade das Christentum in einem Jahrhunderte währenden zähen Ringen die extrem schroffe Asymmetrie zwischen Herrschenden und Beherrschten aufbricht, bis zu der Unverfrorenheit der Behauptung, vor Gott seien alle gleich, auch die Herrscher.

Aber auch wenn man damit weniger anfangen kann ist die europäische Geistesgeschichte vom Einfluss der religiösen Denker nicht zu trennen, wie unlängst Habermas in seinem monumentalen Auch eine Geschichte der Philosophie ausführte. Das könnte insofern wichtig sein, als die Religion mehr verbindend als trennend sein dürfte, auch wenn sie vielleicht im ersten Impuls als trennend erlebt wird.

Der westliche Individualismus und der östliche Kollektivismus scheinen einander kategorisch auszuschließen, aber der Individualismus der uns gerade selbst entgleitet – vielleicht hat Russland in der Kritik sogar einen Punkt, aber nicht die passende Kur – muss ja kein narzisstischer, präkonventioneller Trotz sein, er kann auch ein postkonventionelles Abwägen sein, das versucht für Gesellschaft und Individuum das Optimum zu finden, klappt aber schon bei uns in der Breite nicht so überragend.

Es ist wichtig den Unterschied zu erkennen. Lawrence Kohlberg beschreibt die Stufen der Moralentwicklung und dabei eine präkonventionelle Ebene, die nahezu alle Regeln als persönliche Beleidigung auffasst und aus Prinzip dagegen rebelliert. Darüber existiert eine konventionelle Ebene, auf der man sich mit den Regeln und Werten der Gemeinschaft identifiziert und versucht sich an die Vorgaben der Herrschenden zu halten, weil man meint sie wüssten, was gut und richtig ist, entweder weil sie brillant sind, wohlmeinend oder in Kontakt mit einer höheren (meist religiösen) Autorität. Über dieser Ebene gibt es die postkonventionelle Moral, die die Prinzipien der Gesellschaft weitgehend teilt, aber in begründeten Ausnahmen, die oft aus ethischen Prinzipien abgeleitet werden, sich auch über die Regeln hinwegsetzen kann, aus guten Gründen, die man formulieren kann und zu rechtfertigen gewillt ist.

Russland verfolgt eine mythische Sichtweise mit religiöser und nationalistischer Färbung. Das Narrativ ist das eines von allen Seiten bedrohten Landes, das den Auftrag hat das Gute und Reine gegen die Aggressoren zu verteidigen. Die Presse ist staatlich weitgehend kontrolliert, nach innen soll das Bild eines sich kümmernden Elite mit einem noch einmal herausgehobenen Herrscher und relative Ruhe vermittelt werden. Alles läuft nach Plan, so die Botschaft. Dass dieser Plan nebulös ist, ist dabei kein Nachteil, gerade so kann suggeriert werden, man wisse immer eine Antwort.

Treten doch interne Probleme auf, kann man das auf den äußeren Feind schieben, auch in Russland rückt man enger zusammen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist mit dem Krieg einverstanden, auch wenn das Ergebnis von Umfragen auf Desinformation und staatlicher/sozialer Erwünschtheit und einem nicht so genau sehen wollen beruht, werden die Umfragen halbwegs realistisch sein. Jene, die es genauer sehen wollen, verlassen mitunter das Land.

Die Stärke der mythischen Sicht ist der ungeheure Zusammenhalt, den sie auslösen kann, wenn das Narrativ gut gewählt ist. Innere Probleme werden auf den Feind projiziert, Druck von Außen schließt die Reihen, wenn es allerdings nicht läuft und das Vertrauen ist die Machtelite schrumpft, wird das Narrativ wackelig und innere Zweifel und Spannungen können wachsen. Kritik von innen muss also kontrolliert werden.

Die mythischen Erzählungen in West und Ost und ihre Entzauberung

Menschen im Rauch begehen Ritual vor Altar auf Treppenstufen

Rituale verbinden, überall auf der Welt © Not So Dusty under cc

Es ist etwas geschehen in der europäischen Geschichte, was wir verstehen müssen. Europa kommt aus einem mythisch-religiösen Zeitalter. Über das Ende dieses Zeitalters existieren fast schon eigene Mythen, nur zunehmend ohne Riten, das wird noch wichtig sein.

Der Mythos der Entzauberung setzte vermutlich irgendwann mit der Industrialisierung Europas ein. Industrialisierung, Elektrifizierung und die Erschließung neuer Transportsysteme, vor allem der Eisenbahn versetzte die Menschen in die Lage sich selbst zu versorgen, länger zu arbeiten und von den Mächten des Schicksals unabhängig zu werden. Die Gedanken der Aufklärung trugen ihren Teil dazu bei und die Erzählung dieser Zeit wird heute bei uns in der Regel als Befreiung gedeutet. Endlich frei von religiöser Denkbeschränkung, befreit zur Aufklärung, Selbstbestimmtheit und dem Mut selbst zu denken.

1917 gebrauchte Max Weber erstmalig den Begriff der Entzauberung, den Gedanken findet man 1788 schon bei Schiller und auch Nietzsche spricht vom Tod Gottes. Was nicht erzählt wird, ist, dass Weber diese Entzauberung nicht feiert, sondern bedauert, als einen Mangel erkennt. Nietzsche ist sich noch der Ungeheuerlichkeit des (zu frühen) Aktes bewusst, mit dem man Gott getötet hat. Horkheimer und Adorno werden die Entmythologisierung kritisch sehen und auf seine Art auch Heidegger.

1933 übernehmen die Nazis die Regierung, sie haben wieder Mythen und Riten im Gepäck, nach dem Desaster wächst die Skepsis gegenüber denselben. Die neuen Mythen kommen diskreter daher, Wirtschaftswunder und Erfolge im Sport. Demokratie und Freiheit sind die neuen Schlagworte, doch die treibende Kraft hinter dem unausgesprochenen neuen Mythos ist der Begriff Fortschritt. Fortschritt auf allen Ebenen, allen voran durch Wissenschaft und Technik, doch auf der Ebene von Wirtschaft, sozialem Fortschritt und Freiheit. Der Fortschrittsoptimismus hatte in den 1970ern eine ungeheure Wucht und war eine innere Gewissheit: Egal wie es mir geht, meine Kinder sollen es besser haben und sie werden es besser haben. Bildung war super, doch schon Fleiß sollte ausreichen, dass man es vielleicht nicht vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen würde, aber immerhin zu einem guten Leben, in Sicherheit und mit einem gewissen Wohlstand, auf den man stolz sein durfte. Die Riten waren, zu tun, was alle tun, dann hatte man es geschafft. Urlaub an der Adria, eigenes Familienauto, im guten Fall ein eigenes Haus.

In Russland kam es 1917 zur Machtübernahme der Bolschewiki unter Lenin, in der Oktoberrevolution. Aus dem Zarenreich Russland wurde die Sowjetunion, die sich Ende 1991 auflöste. Putin hat mit der kommunistischen Idee nichts mehr am Hut, aber sieht den Zerfall der Sowjetunion als geopolitische Katastrophe an, er trachtet Einflusssphäre Russlands wieder zu vergrößern. Er greift dabei auf den Mythos der Rus, Ideen des Philosophen Iwan Iljin und Alexander Dugin zurück und auch die russisch-orthodoxe Kirche wird zurück ins Boot geholt.

Die Stärke von Mythos und Ritus sind Sinnangebote und die Stiftung von Einheit mit der Gemeinschaft, mit der Möglichkeit im Ritus immer wieder mit der Masse zu verschmelzen, den Mythos neu zu betonen.

Im Westen Deutschlands kam es nach 1970 zu einer neuen Entwicklung. Der Fortschrittsmythos erlebte seinen Höhepunkt und damit auch Niedergang. In der Folge war man nicht mehr wer, wenn man tat und hatte, was alle taten und hatten, sondern, wenn man anders war, einzigartig. Auch wenn man elitäre und einzigartige Erlebnisse hatte, von denen gesagt wird, sie seien unwiederbringlich weg, aber Teil meiner Geschichte. Der Individualismus verbindet immer weniger in der postkonventionellen Weise, er vereinzelt. Die Zeiten werden regressiver und narzisstischer. Auch die den Mythos erneuernde Riten fallen so flach. Kurz und gut: Uns im Westen verbindet immer weniger. Hier gilt: Du bist ein toller Mensch, weil du anders bist als alle. In Russland und weiten Teilen des Ostens: Du bist ein toller Mensch, weil du immer ein Teil von uns bist.

Sichtweise gegen Sichtweise: Welche ist besser?

Viele Interpretationen ordnen die Abfolge der Weltbilder hierarchisch ein. Das heißt, sie folgen nicht nur zeitlich aufeinander, sondern die späteren sind auch die besseren, komplexeren. Eine andere Sicht sieht in anderen Weltbildern einfach bestimmte Arten der Anpassung oder Entwicklung, ohne qualitativen Aspekt. Selbst wenn man ein hierarchisches Modell bevorzugt, muss man sehen, dass alle Weltbilder, auch heute und für uns noch, ihre starken und schwachen Seiten haben. Das alte Problem ist, dass man gerne die eigenen Stärken mit den Schwächen des anderen vergleicht, nur dann sieht alles sehr eindeutig aus.

Die Stärke des mythischen Weltbildes ist Sinn und Orientierung zu geben, ein Gemeinschaftsgefühl zu evozieren, mit einer klaren Position in dieser Gemeinschaft – sie braucht mich, auch wenn ich nur eine Zelle bin – und das ist nicht wenig, vor allem in unserer Zeit. Der Nachteil ist, dass man nicht unterstützt wird, wenn man aus dem Deutungsrahmen ausbricht und die Prämissen des Interpretationsrahmens infrage stellt. Selbstverständlich gibt es in Russland auch andere Interpretationsmuster, aber in Zuge der Regression durch den Krieg wird dieses dominieren und eine neomythische Sicht wird auch von der dortigen Machtelite gefördert.

Das Weltbild des Westens gibt es nicht, es ist ausgebreiteter. Ein schwacher Anteil ist mythisch, sehr sind vermutlich mythisch-rational, einige wissenschaftlich-rational und einige pluralistisch. Das mythisch-rationale Weltbild ist im Grunde ein Mythos, der die eigenen Wurzeln in einer Überzeugung leugnet. Das wissenschaftlich-rationale Weltbild ist flexibel, anpassungsfähig, selbstoptimierend und funktionalistisch, das ist eine starke Seite. Gleichzeitig ist es so funktionalistisch, dass Menschen nur noch zum Erhalt der diversen Funktionen herhalten müssen, die Fragen nach Sinn und Erfüllung in dem was wir tun, stellen sich nicht. Es wird gebraucht, wer und was gebraucht wird, bis man unbrauchbar ist und das heißt dann oft sinnlos, wertlos. Der pluralistische Ansatz will das durchbrechen und auch jenen einen Platz, eine Stimme, Respekt und Würde geben, die man bislang als eher unbrauchbar an den Rand drängte und auch für die, die noch gebraucht werden, eine Position oberhalb des Funktionalismus finden. Dieses empfindsame Selbst ist großartig, wirft jedoch den langen Schatten einer vorgeblichen Toleranz, die im Kern uninteressiert an allen ist und nicht selten einem oberflächlichen Narzissmus huldigt. Das ist die auf den ersten Blick nette Version des Hyperindividualismus, es sind Menschen, die heile Welt spielen wollen, allerdings im Sog einer unerkannten Massenregression. Diese Vielfalt mit ihren jeweils starken und schwachen Seiten finden wir bei uns, in einem weitgehend zerteilten Westen.

Wir haben im Westen also gewissermaßen einen kollektiven Sinn– oder Mythenverlust, bezogen auf die Mehrheit, durch den Zerfall in eine Vielzahl kleinerer Einzelerzählungen, die kleinere Gruppen zusammenhalten. Also einerseits ein großes Angebot an Erzählungen und Mythen, jeder der sucht, findet eine Nische, andererseits einen Mangel an einer für die große Mehrzahl verbindlichen und diese verbindenden Erzählung.

Sind Erzählungen denn wirklich so wichtig?

Das ist eine bedeutsame Frage, weil manche der Ansicht sind, Erzählungen seien so ein wenig das Sahnehäubchen. Nett, wenn vorhanden, aber was wir wirklich brauchen sind doch eher die Basics: Nahrung, Wohnung, Bildung und ein gewisses Einkommen, der Rest läuft dann schon. Aber auch das ist eine Erzählung.

Man wird behaupten, dass es das nicht sei, weil man sieht, wie schlecht es dort läuft, wo eines dieser Elemente fehlt. Auf der anderen Seite haben wir in Deutschland die Gegenbewegung erlebt. Die Regression entstand inmitten von Bildung und Wohlstand. Sie hat eine Vielzahl von Gründen, einer wird sein, dass der stille und tragende Fortschrittsmythos, so diskret und verlässlich er den Rahmen bildete (die nächste Generation würde es besser haben), langsam zerbrach.

Man bekommt das nicht direkt mit, so wie man in der Sonne auch nicht bemerkt, dass sich die Haut bräunt, aber irgendwann bemerkt man die Veränderung, auch die, dass der gesellschaftliche Kitt verloren gegangen ist. Wir erinnern uns an Webers Begriff von der Entzauberung der Welt.

Der Wikipedia Artikel zur Entzauberung der Welt führt es treffend aus:

„Die Entzauberung der Welt trägt dazu bei, dass metaphysische oder Sinnbedürfnisse in der Moderne unbefriedigt bleiben. Daher wird seit den 1980er Jahren eine Wiederverzauberung der Welt konstatiert, ein neu erwachtes Interesse an Transzendenz und Spiritualität, das sich zumeist außerhalb der etablierten Kirchen eklektisch im New Age auslebt. Der amerikanische Kulturkritiker Morris Berman erkannte 1981 ein „Ende des Newtonschen Zeitalters“. Der niederländische Medienwissenschaftler Stef Aupers zieht diesen Prozess zur Erklärung der Zunahme von Verschwörungstheorien in den letzten Jahrzehnten heran: Der verbreitete „Wille zu glauben“ („I want to believe“ – Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI) finde in ihnen einen Kompromiss zwischen Wissenschaftlichkeit und Sinngebung, insofern Verschwörungstheorien zumeist scheinbar faktengesättigt und wissenschaftsförmig daherkommen, damit aber ein Geheimnis hinter oder unter der empirischen Oberfläche der modernen Welt aufzudecken meinen, nämlich die Verschwörung, die die vermeintlich wahre Bedeutung der bei oberflächlicher Betrachtung sinnlosen Phänomene liefert.“[1]

Heute finden wir inmitten dieser verwirrenden Melange vor. Theorien zur Geheimpolitik, zu diesen oder jenen Eliten, zur gesunden Ernährung, zur Selbstoptimierung, zu sich außerhalb verstehenden politischen Richtungen und ihren Querverbindungen, zur Esoterik, zum gesunden und erfüllten naturnahen Leben, zur Errettung der Welt durch den Transhumanismus, das Gendern oder den Klimaaktivismus, was immer man im Einzelfall davon hält: All diese Strömungen haben ihre große Geschichte, ihren Mythos im Rucksack, der das Leben des Einzelnen mit dem versorgt, was heute so oft fehlt: Sinn und Orientierung. Psychologisch hat der Mangel derselben seine Namen: Angst und Depression. Die aktuell häufigsten Störungen bei uns.

Vor Jahren schon hat mich interessiert, was Fundamentalismus und Extremismus eigentlich so interessant machen. Wir müssen uns klar werden, was der Verlust von Sinn und Orientierung wirklich bedeutet. Das ist nicht so ein ’nice to have‘, sondern stellt Fundamente unserer Psyche da. Wir sind es im Zuge des seit 250 Jahren immer stärker um sich greifenden Funktionalismus gewohnt, auch unser Inneres überwiegend aufgrund von äußeren Ursachen zu erklären. Selbst die Psychologie regrediert gefährlich in Richtung äußerer Umprogrammierungen, durch die kognitive Verhaltenstherapie, einer Reduzierung von Psyche auf Hirnfunktionen (trotz ihres hartnäckigen Misslingens) und einer immer weiter um sich greifenden Psychopharmakologie, das alles ist schnell und billig, Risiken und Nebenwirkungen werden nicht erkannt, weil man das Innen vergessen hat und schon aus Gewohnheit nicht mehr wichtig nimmt.

Der Fundamentalismus liefert den Mythos. Im buchstäblichen Sinne von jetzt auf gleich, wird ein Mensch, der in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wurde, mit einer Geschichte versorgt, die ihn ins Zentrum stellt. Übliche Lesart: Nicht du bist der Versager, die Gesellschaft ist es. Dort läuft was schief, nicht bei dir. Endlich bist du erwacht und hast zu uns gefunden Bruder/Schwester. Da geht man innerlich auf, wie ein Hefeteig, es ist wirklich das was so lange, manchmal das ganze Leben, fehlte. Mit einem mal hat mein Leben Sinn.

Verschmelzungen: Das große unterschätzte Phänomen

Konturen von Menschen auf Berg, sitzend und stehend

Naturerlebnisse haben oft etwas Atemberaubendes © Mohamed Amine ABASSI under cc

Der Extremismus geht noch einen Schritt weiter und es ist gut, wenn ihn immer mehr Menschen verstehen. Eine Erzählung geliefert zu bekommen, die mich vom Rand ins Zentrum rückt, das ist immens viel wert, aber Extremisten sind bereit ihr Leben zu opfern, der Möglichkeit der bürgerlichen Existenz eine radikale Absage zu erteilen und sich auf völlig neue, mitunter gefährliche Lebensformen einzulassen. Sicher werden sie auch verführt, in Situationen gebracht, in denen sie vielleicht ein Verbrechen begehen müssen, so dass ihnen der Ausstieg erschwert wird. Aber viele nehmen geduldig Wartezeiten und Proben aller Art in Kauf, um dabei sein zu dürfen. Was finden sie dort?

Es ist nicht nur die Geschichte der Aufwertung des eigenen Ichs, weil man nun endlich zur Gruppe der in irgendeinem Sinne Auserwählten gefunden hat. Es ist das Gefühl der Verschmelzung, des Aufgehens in dieser Gemeinschaft und eine dies initiierende Praxis, ein Ritus: ein Aufnahmeritual, ein Initiationsritus. In der Folge Erlebnisse, die dieses Ereignis immer wieder aufladen. Gemeinschaften, bei denen man einfach so Mitglied werden kann, sind nicht so beliebt, wie jene, deren Mitgliedschaft man sich verdienen muss, die ein Hauch des Elitären umweht.

Verschmelzungen kann man auf verschiedenen Wegen erleben. Durch gemeinsame Tätigkeit, etwa in einem Chor oder gemeinsamem Tanz. Als Fan, bei einem Konzert oder großen Sportereignis. Bei den Ritualen einer religiösen oder spirituellen Gemeinschaft. Durch den Konsum bestimmter Drogen. Beim Sex. Bei Nahtoderfahrungen. Bei überwältigenden Ereignissen, seien sie beglückend oder traumatisch, etwa durch Kunst oder Naturphänomene. In der Meditation oder beim holotropen Atmen. Als Schicksalsgemeinschaft. Durch gemeinsame Hilfsleistungen als Rettungssanitäter oder im OP Saal. Manchmal ganz spontan, ohne erkennbaren äußeren Anlass.

Dazu Jürgen Habermas:

„In anderer Hinsicht besteht freilich zwischen dem sakralen Komplex und den daraus hervorgegangenen modernen Künsten eine Verwandtschaft, die beide Kommunikationsformen wiederum von der kommunikativen Alltagspraxis unterscheidet. Ich meine das Moment des „Außeralltäglichen“. Diese Verwandtschaft mag unter anderem erklären, warum alle Religionen eine enge Verbindung mit künstlerischen Ausdrucksformen der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst eingegangen sind. Diese Symbiose kann auch noch die Kunst dazu verführen, sich religiöser Motive zu bedienen. Das zu Meditation oder Gebet einladende Kissen im Oktagon von Mark Rothkos Kapelle in Houston zeigt, dass nicht einmal moderne Baukunst und abstrakte Malerei vor kultischen Assoziationen zurückschrecken. „Außeralltäglichkeit“ hat natürlich zunächst den trivialen Sinn, dass sakrale Vorgänge und Objekte aus den durchsichtigen Funktionszusammenhängen sozialer Interaktionen ausgeklinkt sind. Sakrale Gegenstände und Praktiken sind aus dem Weltumgang, dessen Sinn sich aus den Interessen und Absichten der beteiligten Akteure, wenigstens aus den gesellschaftlichen Funktionen ihrer eingewöhnten Alltagspraktiken ohne Weiteres erschließt, herausgehoben. Sie verschließen sich gewissermaßen in sich selbst. Diesen virtuellen Charakter teilen sie mit dem ästhetischen Schein der autonomen Kunst. Merkwürdigerweise provoziert jedoch die Weltabgewandtheit ritueller Handlungen den anthropologischen Beobachter zur Zuschreibung latenter Funktionen, die einen fehlenden Weltbezug substituieren sollen, während der fehlenden Weltbezug für die selbstreferentielle Abschließung von abstrakten Gemälden, Konzertaufführungen oder Skulpturen auch dann, wenn deren enigmatischer Inhalt Interpretationsbedarf hinterlässt, als Eigenart einer ästhetisch erzeugten fiktiven Welt begriffen und als solcher respektiert wird. Zweifellos haben die Riten in einfachen Gesellschaften eine Fülle von Funktionen übernommen. Auch diese Funktion können sie jedoch nur aufgrund einer Bedetung erfüllen, die der ästhetische Kode als solcher besitzt. Es ist wesentlich der fehlende oder unterbrochene Bezug zum innerweltichen Geschehen, der das Sakrale nicht weniger als das moderne Kunstwerk (die moderne Kunst und die nachklassische Musik sogar in ausgezeichneter Weise) von profanen Äußerungen abhebt.
In Ansehung der Kunst fragen wir nicht nach ihrer Funktion, sondern nach ihrem Sinn, weil wir davon ausgehen, dass die kommunizierte Erfahrung als solche relevant ist und keiner Rechtfertigung aus einem praktischen Wozu bedarf.“[2]

Das Außeralltägliche ist eine eigene Welt, die aus sich selbst heraus Sinn generiert. Beim oft auf reinen Funktionalismus reduzierten Alltag darf man fragen, ob und wo er das noch leistet, die Flucht auf immer mehr, aber fragmentierte und auseinanderdriftende Inseln des Sinns scheint die Abstimmung mit den Füßen zu sein.

Menschen nehmen viel in Kauf, um das Außeralltägliche immer wieder zu erleben, es ist das, was uns den Alltag durchstehen lässt. Die ehedem gemeinschaftlichen Praktiken des Außeralltäglichen, bis zur religiösen Praxis wurden privatisiert, auch weil ihre Bedeutung verkannt wird.

Gemeinsame Auswege?

Russland bleibt vorerst bei seinem, aus unserer Sicht regressiven Mythos, der nach innen verbinden soll. Das kann klappen und scheitern, in jedem Fall ist es gefährlich. Wieder Habermas:

„Weltbilder sind, weil sie nur so lange „bestehen“, wie sie geglaubt werden, also die Angehörigen überzeugen können, für „Wahrheitsfragen“ empfindlich. Sie können durch Zuwachs an Weltwissen erschüttert werden. Insofern ist die Vernunft auch schon in der Mythenbildung am Werk. Mythen sind Stabilisatoren der Gesellschaft und gleichzeitig destabilisierende Einfallstore für dissonantes Erfahrungswissen.“[3]

Russlands Haltung kann den Westen teilen, aber auch zusammen schweißen, auch hier verbindet der gemeinsame Feind, wenn er sich nachhaltig als solcher positioniert. Wie werden wir wieder zusammen finden, nach einem Waffenstillstand, nach einem Frieden?

Wir werden getrennt sein und einander misstrauen. Die Kräfteverhätnisse auf der Erde ändern sich, nach 500 Jahren Dominanz des weißen Mannes geht diese Ära zu Ende. Der Fall des Westens mag noch herausgezögert werden, dass Russland sich traut ihn militärisch herauszufordern ist neu, aber vielleicht ist auch nur neu, dass der Westen dieses mal, geschlossener als vermutet reagiert. Chinas Wirtschaft, die Jahr um Jahr zweistellige Wachstumsraten hatte, ist ins Stocken geraten. Es heißt Russland könne warten, dann heißt es, China könne warten, mal heißt es beide bildeten eine Koalition gegen den Westen, mal spielen beide alleine, mit Russland als Juniorpartner. Aber China ist angewiesen auf den Handel mit Europa und wenn Europa in den Krieg investieren muss, fällt dass China auf die Füße. Auch die USA können warten. Russland schwächt sich, mit jedem Monat mehr, alles was in die Kriegswirtschaft fließt, fehlt an Geld, Technik und Manpower an anderer Stelle, die jungen und intelligenten Kräfte verlassen das Land. Der Rest ist noch unbekannt.

Gibt es gemeinsame Auswege, an dessen Ende ein wirklicher Frieden stehen könnte?

Wir hätten verschiedene Zutaten:

Die Stärke der verbindenden mythischen Erzählung muss nicht gegen die Bedeutung des Individuums ausgespielt werden, wie die Geschichte des Christentums zeigt. Hier muss der Westen seine eigenen Ressentiments reflektieren. Die Bedeutung des Individuums wurde dann in der Aufklärung noch einmal geschärft, aber dann leider auch im Westen schnell wieder vergessen. Sich dem Funktionalismus unterzuordnen zu müssen, ist wenig besser, als eine Zelle im Organismus zu sein. Wenn der Westen sich wieder an seine eigenen weltanschaulichen Stärken erinnert und den Osten einlädt, diese nachschärfende Reflexion zu begleiten, ist viel gewonnen, einen reifen Individualismus formuliert zu haben, ist das große Geschenk des Westens an die Welt.

Es klingt banal und abgedroschen, aber auch dieser Krieg wird nur Verlierer kennen. Krieg lohnt nicht mehr, in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst. Im Hinblick auf den Klimawandel, Müll, Artensterben, Ressourcenschwund, Überalterung, Antibiotikaresistenzen, Seuchen und weitere Plagen, die uns tendenziell nicht mehr einzeln und alle paar Jahre, sondern parallel begleiten werden.

Mythen verbinden Ost und West, schon in dem Sinne, dass beide welche kennen. Es muss aber nicht den zu plakativen einen weltweiten Mythos geben, an den alle in gleicher Weise denken. Die Stärke von uns Menschen scheint schon immer unsere Bandbreite gewesen zu sein, die Vielzahl der Rollen, die wir kreieren. Wir können in der eher abstrakten Idee verbunden sein, die Probleme der Menschheit gemeinsam zu lösen und jede Region der Welt kann dabei ihre Stärken, ihre Identität und regionale Eigenart behalten.

Wenn wir wirklich verstehen – und unsere eigene Geschichte der letzten Jahrzehnte kann uns oder Jahrhunderte kann uns das lehren – dass Sinn und Orientierung mehr sind als eine nette, aber im Grunde verzichtbare Beigabe des Lebens und dass die Sehnsucht nach ihnen so groß ist, dass man sich noch an die fragwürdigsten Erzählungen klammert und wenn wir darüber hinaus verstehen, wie wichtig eine Praxis der Verschmelzung ist, oder am besten mehrere, dann ist viel gewonnen. Die spirituellen Praktiken des Ostens sind die besten Wege zur Verschmelzung und das große Geschenk des Ostens an die Menschheit.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Sinn, Orientierung und Verschmelzung nicht gegen Bildung, Nahrung und Wohnung ausgespielt werden muss. Wie könnte wirklicher Frieden gelingen? Durch eine verstehende und behutsame Kombination dieser Elemente.

Quellen: