Regressionen der Masse und Gruppen berühren das Thema der Gruppen- und Massenpsychologie. Ein leider noch immer zu wenig gewürdigtes Gebiet, in dem aber alles in allem dieselben Wirkzusammenhänge aktiviert sind, wie in der Individualpsychologie.
Macht Angst die Menschen gefügig? Der Frage wollen wir uns am Ende widmen, weil sie aktuell in der Corona-Diskussion für manche eine Rolle spielt, in der der Bundesregierung und ihren Beratern mitunter Angstmacherei vorgeworfen wird. Der Glaube an den Nutzen der Angst scheint dort zum Teil verbreitet zu sein. Mir geht es nicht darum, dieses Verhalten zu skandalisieren, sondern möglichst sachlich zu kritisieren, weil ich glaube, dass alles darauf hindeutet, dass diese Idee zum größten Teil falsch ist. Die Kritik muss jedoch vorbereitet werden, damit sie nachvollziehbar ist.
Intuitiv mag sie es durchaus schon sein. Bestimmte Androhungen von Konsequenzen haben eine nachweisbare Wirkung. Überzieht man es jedoch mit den Drohungen, generiert man eher Trotz, Widerstand und aggressives Misstrauen. Aber wann ist die Grenze überschritten und welche Mechanismen wirken hier? Das wollen wir erläutern.
Die wichtige Rolle des Über-Ichs
Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Wächst das Kind in einem Umfeld verlässlicher und emotional moderater Objektbeziehungen auf, so ist das vielleicht die wichtigste Grundlage, die man für das Leben haben kann. Dominieren Spitzenaffekte die Objektbeziehungen des Kindes, so ist das für das Leben verheerend. Der Einfluss von Spitzenaffekten ist der Hauptgrund für das Entstehen schwerer Persönlichkeitsstörungen.
Dabei wird, je nach Beginn und Häufigkeit der erlebten Spitzenaffekte, auch die normale Ausbildung des Über-Ichs verhindert oder verzerrt. Das normale Über-Ich, Gewissen oder verinnerlichte Wertesystem besteht aus drei Stufen: Einer frühen, verfolgenden, die schon im ersten, besonders aber zweiten Lebensjahr gebildet wird. Abgelöst wird sie von einer zweiten idealen Schicht, bei der das Kind merkt, dass es selbst etwas tun kann um Mama eine Freude zu machen. Aus dem verfolgten Kind der ersten Phase, wird das ideale und grandiose der zweiten. Mit etwa 4 bis 6 Jahren erscheint eine dritte, realistische Phase, die die ersten beiden ausbalanciert.
Das Über-Ich bleibt aber Zeit des Lebens dynamisch und mit dem Alter von etwa 5 bis 10 Jahren kommt das Kind in die sogenannte Latenzphase, in dem es sich an bestimmten, für diese Phase typischen Werten orientiert. Das Weltbild dieser Phase ist klar in Gut und Böse unterteilt und demzufolge muss man sich entscheiden, in welches Lager man gehört. Die Werte sind eindeutig, haben eine hohe Ähnlichkeit mit dem Kitsch und Ambivalenzen können in ihm noch nicht verarbeitet werden.
Bei der ersten Stufe von Massenregressionen begegnet uns diese Moral der Latenzphase wieder, nun in der Gestalt von erwachsenen Menschen, die normalerweise durchaus Ambivalenzen, Zwischenstufen, Dialektik und Graustufen ertragen und einordnen können. Nur unter dem Einfluss der Massen- oder Großgruppenregression eben nicht mehr.
Was passiert bei Regressionen der Masse und Gruppen psychologisch?
Das ist eigentlich ganz gut nachzuvollziehen, ohne zu tief in die recht komplizierte Sprache eintauchen zu müssen. Sie und Ihr Lebenspartner (oder einzelne Familienmitglieder der Herkunftsfamilie) sind, hoffentlich, eigenständige Menschen. Einige Seiten, Einstellungen, Herangehensweisen ans Leben, die andere uns präsentieren sind abweichend von unseren eigenen. Das kann die Quelle für Dauerstreit werden oder aber, man erkennt für sich, dass die Erlebenswelt des anderen zwar – wenn man seinen Partner mal kennenlernt – von meiner verschieden ist, aber dennoch, kann man auch so leben, denken und empfinden, wie er oder sie es tut. Immerhin war das mal so attraktiv, dass man sich in den anderen sogar verliebt hat.
Was da im besten Fall und recht häufig geschieht, ist, dass die Wertefundamente, die beide mit in die Partnerschaft bringen zu einer neuen gemeinsamen Größe zusammenwachsen, die in Teilen eben nur dieses Paar betrifft.
Ein tolle Möglichkeit zur Freiheit, da man hier die Chance hat, es so zu machen, wie beide Partner es wollen, die vom Alltag über die Wertvorstellungen, bis zur Sexualität nur einander Rechenschaft schulden. Jeder bringt jeweils auch eine eigene Geschichte mit in die Partnerschaft, doch es kann gelingen, sich einen gemeinsamen Raum der Privatheit zu erobern, der kein fader Kompromiss ist, sondern dem Paar ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten bietet, die es außerhalb dieser Konstellation gar nicht gibt.
So entsteht ein gemeinsames Über-Ich des Paares, das hier im Ideal zu einer Synthese des Besten aus beiden Welten verschmelzen kann. Durch dieses wird geregelt, wie man mit einander umgeht, wo die jeweiligen Freiheiten und Grenzen liegen, jenseits derer der andere verletzt wäre. Es kann ein Raum sein, in dem gesetzt ist, dass man den anderen grundsätzlich wertschätzt und so weiter. Die Gründung einer eigenen, gemeinsamen Welt, einer ‚Revolution zu zweit‘, weswegen, wenn es dann ernst wird, im Falle einer verbindlichen Hochzeit so viele ödipale Verbote aktiviert werden.
Das Über-Ich ist der am meisten nach außen, in die soziale Welt hinein orientierte Teil des Selbst und so kann es nicht nur auf einen Partner projiziert und dadurch gestärkt werden, sondern auch auf andere Gruppen oder Organisationen. Etwa auf die Arbeit, eine Partei, NGO oder eine religiösen Gruppe. Dies klappt dann gut und wird als befriedigend empfunden, wenn man selbst ein integriertes Ich hat, sich mit den Zielen der Arbeit oder der Firma einigermaßen identifizieren kann und wenn die Vorgesetzten gute Führungskräfte sind.
Das Über-Ich kann sich aber auch in einem Umfeld befinden, in dem die Führung schwach oder von Pathologien durchzogen ist, gemeinsame Ziele weggefallen oder nur noch Lippenbekenntnisse sind. In einem Umfeld, in dem diese Ziele eben noch die Menschen verbanden, tritt nun auf einmal ein Vakuum an Orientierung auf. Dies kann durch einen Führungswechsel, durch Erfolglosigkeit, durch traumatische Ereignisse passieren oder weil sich die Zeiten eben geändert haben.
In einem Vakuum der Orientierung, in dem nichts mehr klar ist, etwa, was man denn jetzt noch machen soll und wofür, entsteht sofort ein Klima des wechselseitigen, angsterfüllten, paranoiden Misstrauens. Wie geht es weiter? Was soll ich tun? Dafür sucht man Antworten. Ist die Regression einmal eingetreten, verläuft sie nach dem immer gleichen Muster. Das eben noch unter einer gemeinsamen Führung, einem Ziel oder Ideal mit anderen verbundene Über-Ich sucht nun nach neuer Orientierung und wenn kein neues Ziel oder Ideal vorhanden ist, nimmt man den kleinsten gemeinsamen Nenner der in einer Gruppe, Großgruppe oder Masse zu finden ist.
Das ist schon in der Familie – in der man Herkunft und Alltag teilt – nicht immer leicht und manchmal kommt es hier zu erbitterten Streits, es ist in einer, heute auf Freiwilligkeit und Liebe gründenden Partnerschaft nicht leicht. Damit sind wir aber auch schon im Herzen des Problems, denn mit den meisten Menschen unserer Umgebung haben wir – außer in kurz oder langfristig strukturierenden Systemen: alle arbeiten in der gleichen Firma, alle wollen zu dem gleichen Konzert, alle vertreten die Interessen einer NGO – kaum etwas gemeinsam und was dann wirklich alle verbindet, sind nicht tiefe, reflexive Einsichten, dass wir doch zu aller erst alle Menschen sind, sondern kulturelle Klischees. Auch hier wird das Über-Ich projiziert und zwar auf den intellektuell und moralisch kleinsten gemeinsamen Nenner. Eins mit allen, aber vereint im Banalen.
Wer kommt bei milden Regressionen an die Macht?
Dieser kleinste gemeinsame Nenner hat große Ähnlichkeit mit der kindlichen Welt der Latenzperiode. In der Psychoanalyse ist damit jene Zeitspanne gemeint, in der sich das ödipale Über-Ich (die dritte Stufe des Über-Ich) bildet, bis zur psychodynamischen Neuorganisation zu Beginn der Pubertät, betrifft also ein Zeitfenster vom etwa 5. bis zum 10. Lebensjahr. Eine Zeit mit einem Weltbild, das wesentlich von Vereinfachungen – oder im Falle der Kinder, von noch Unentwickeltem – bis zum Kitsch vorherrscht. Dieser ist definiert als:
„Ansprechende, behagliche, beruhigende, sentimentale und überladene Ausdrucksformen des kulturell dominanten Stils, der mit konventionellen Symbolen des Reichtums, Glücks, der märchenhaften Phantasterei oder der verklärten Kindheit überfrachtet ist.“[1]
Dies ist die erste Stufe der Regression, eine noch vergleichsweise gutartige:
„Ein erstes wichtiges Merkmal des Kindes im Latenzalter ist die Unflexibilität und Starrheit seines Über-Ichs und dessen ungemein hohe Abhängigkeit von vereinfachten konventionellen Moralvorstellungen. Das Moralsystem des Latenzkindes bestätigt die elterliche Autorität, der es vertraut, und ist durch eine von jeglicher Ambiguität freie Trennung zwischen Gut und Böse (guten und bösen Taten wie auch Menschen) charakterisiert, die durch Transformation des Sadismus in (über-ich-integrierte) berechtigte Empörung, die Freude an moralisch gerechtfertigter Aggression, die Anpassung an eine soziale Peer-Umwelt, die eine erste Erfahrung fester, einfacher, stabiler Gruppennormen vermittelt (einschließlich der Normen akzeptabler Unterhaltung), und die unzweideutige Dissoziation von (entwerteter) analer Sexualität und zärtlicher Liebe (zu den ödipalen Eltern). Es ist die beruhigende Moral eines hinreichend gut betreuten Kindes, das sich nach einer Missetat mit seinen vorübergehend zornigen Eltern wieder versöhnt, bevor es zu Bett geht. Allgemein formuliert, haben wir es mit einer Moral kurzer, zeitlich begrenzter Phasen von Fehlverhalten, Schuldgefühlen, Bestrafung und Vergebung zu tun. Das Kind ist jedoch „im Bilde“, was die genitale Sexualität und ihre – wenn auch ferne – Erfüllung in der Zukunft angeht.
Gleichzeitig hegt das Latenzkind auch Wunschphantasien über Unabhängigkeit und Macht, die mit der Illusion einhergehen, von den Eltern unabhängig zu sein. Es interessiert sich für Abenteuergeschichten mit Helden und Idealen, die ihm Identifizierungsmodelle für die Zukunft aufzeigen und zudem seine Bedürfnisse befriedigen, die Triebwelt durch reale und phantasierte Beherrschung der realen Umwelt unter Kontrolle zu bringen; das Latenzkind findet Ersatzbefriedigungen für aggressive und sexuelle Selbstbestätigung. Die „Beobachtung“ des Erwachsenenlebens in der Realität und anhand von Kulturerzeugnissen ist eine neue Errungenschaft. Illusionen der Unabhängigkeit und Macht werden befriedigt, wenn das Kind mit einem Gefühl der Überlegenheit dem vorhersagbaren Leben der „komischen“ Erwachsenen zusieht, während durch die Identifizierung mit „Supermann“ oder „Superfrau“ – wagemutige Helden, die gefährliche Monster vernichten – gleichzeitig Phantasien einer narzisstischen Bestätigung agiert werden.“[2]
Kernberg führt später aus, dass wir dieses selbstgefällige Bescheidwissen auch in der Massenunterhaltung wieder finden. Die Vermischung von Unterhaltung und ernsteren Inhalten, eitle Kommentatoren und so weiter geben dem Zuschauer das Gefühl, in einer an sich heilen und guten Welt zu leben, die alles in allem in Ordnung ist und in der er gut unterhalten wird. Irgendwer passt schon auf ihn auf und beschützt ihn. Die sanfte Form der Regression, eine, in die Kinderwelt.
Die Wahl trifft in dieser regressiven Situation auf einen mittelmäßigen narzisstischen Anführer, der die Stimmung aufnimmt, Klischees verbreitet, im wesentlichen gutartig ist und von sich aus das Bedürfnis hat, geliebt zu werden. Ein Kumpeltyp, der „einer von uns“ ist, der oft großmütig verspricht, was er nicht immer halten kann, einen moderaten Moralismus verbreitet und weil er geliebt werden will, im hohen Maße davon abhängig ist, dass er tatsächlich beliebt ist und daher zu Entscheidungen und Zugeständnissen bereit ist, die nicht immer angemessen sind und der dadurch korrupt wird, dass er niemanden vor den Kopf stoßen will.
Im Zuge von Regressionen bilden sich verschieden Lager und regressive Gruppen, wie Wilfred Bion erforschte. Die seltenste Form ist die Idealisierung eines Paares, die wir daher weglassen. Weitaus häufiger ist der regressive Zerfall in eine Abhängigkeitsgruppe einerseits und eine Kampf- und Fluchtgruppe andererseits. Je nach dem, welcher Typus in der Gruppe überwiegt, werden andere Führertypen ausgewählt. Die Abhängigkeitsgruppe wählt bevorzugt einen infantilen und narzisstischen, aber manchmal auch psychopathischen, während die Kampf- und Fluchtgruppe einen paranoiden Anführer wählt.
Die regressive Abhängigkeitsgruppe möchte hören und glauben, dass die Welt doch noch immer heil, unaggressiv und ein schöner Ort ist, an dem es im Wesentlichen allen gut geht. Dass Klischees über solche Anführer, die Massenunterhaltung und die allgemeine Stimmung dauernd ventiliert werden, sorgt dafür, dass der Druck hin zu leichten Regressionen groß ist, da ihre Inhalte überall vorhanden sind: in Kinofilmen, Serien, Talk-Shows, den Nachrichten und so weiter. Eine behagliche Welt, die man versteht und in der man sich amüsieren kann und ein gutes Gefühl daraus zieht, dass man sie versteht.
Der Ausweg aus der (zwischenzeitlichen Regression in die) Kinderwelt ist aber Erwachsen zu werden, reifer zu werden und Ambivalenzen tolerieren zu lernen. Er besteht nicht darin, vom zwischenzeitlich ungezogenen Kind, das aber wieder mit gutem Gefühl, nach der Versöhnung mit den Eltern ins Bett geht, zu einem notorisch ungezogenen Kind zu werden, was nur noch trotzt und schreit.
Doch, wie gesagt, diese Regression ist gutartig, die Kinder wollen nur spielen und eben gut unterhalten werden. Unklar ist, ob diese regressive Ebene selbst einen Schutz vor weiteren, tieferen Regressionen darstellt oder gerade ein Sprungbrett dorthin ist. In regressive Welten kann man zur Entspannung eintauchen, da die Verschmelzung des Über-Ich mit dem aller anderen dazu führt, dass die individuelle Verantwortung sinkt. In einem ritualisierten Rahmen, eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung kann man sein anstrengendes individuelles Sosein an der Garderobe mit abgeben und wenn alles vorbei ist, man für zwei Stunden jubeln, weinen, fluchen, fremde Menschen umarmen konnte oder sich mit allen, die auch hier sind eins weiß, geht man wieder nach Hause und ist am anderen Tag der verantwortliche Mensch, der man zuvor auch war.