Mythos und Ritual sind die Komponenten der nächsten Entwicklungsstufe der Weltbilder. Mit Mythos und Ritual verbinden wird in erster Linie alte, religiöse Weltbilder, etwas, von dem wir denken, dass unsere Zeit es hinter sich gelassen hat. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, der anderen Hälfte versuchen wir nahe zu kommen.
Was Mythos und Ritual uns geben
Wenn wir einen Blick auf die Verbreitung der mythischen Entwicklungsstufe werfen, dann hören wir oft, dass diese Stufe sich überlebt hätte und die helle und warme Licht der Vernunft die letzten Eisschollen und dunklen Ecken nach und nach beseitigen würde. Hier und da gäbe es noch ein paar Reste, aber nicht mehr viele. Doch in Wahrheit ist es die weltweit größte Gruppe, die in einem mythischen Weltbild lebt. So gut wie alle Religionen haben ein mythisches Weltbild, aber nicht nur sie. Auch der Personenkult um politische Führerfiguren oder die Idealisierung einer ganz bestimmten Lebensweise folgen einem Mythos. Warum ist diese Stufe eigentlich so beliebt?
Das mythische Weltbild versorgt uns mit etwas, was unserer Zeit oft fehlt: Mit Sinn und Orientierung. Mythische Menschen wissen wofür sie morgens aufstehen, sofern sie ihren Mythos wirklich verinnerlicht haben und nicht zweifeln und ihm nur widerwillig folgen. Dafür sind wir bereit Opfer zu bringen, denn der Mythos versorgt uns oft genug mit einer Geschichte der Auserwähltheit.
Es scheint sogar so zu sein, dass eine gewisse Exklusivität die Bedingung dafür ist, dass eine mythische Gemeinschaft kraftvoll und vital ist und so gibt es in mythischen Gemeinschaften oft Hürden, Aufnahmezeremonien und je höher diese und die später zu bringenden Opfer sind, umso größer oft der Zusammenhalt.[1] Jedoch geht die Exklusivität oft auf Kosten der Größe der Gemeinschaft. Klein, verschworen, besonders, das ist die eine Ausrichtung, die eine mythische Gemeinschaft annehmen kann. Die andere ist, dass man missionierend andere bekehrt und die Gemeinschaft ausdehnt, für diesen Fall muss man die Latte etwas tiefer hängen.
So kommt es nicht selten vor, dass mythische Gemeinschaften eine leicht zugängliche und öffentliche Version kennen und es darüber hinaus noch einen inneren Zirkel gibt, der nur wenigen Auserwählten vorbehalten ist.
Was ist eigentlich ein Mythos?
Die bekannteste Form der Mythen sind religiöse Erzählungen. Schöpfungsmythen, Offenbarungen, wir alle kennen diese Formen und viele halten sie für vollkommen unzeitgemäß. Doch Mythen erschöpfen sich nicht in religiösen Erzählungen, er kann auch den Personenkult um eine politische Führerfigur darstellen, wie wir das aus totalitären Regimen kennen. Aber auch das ist nicht alles. Mythen sind im weitesten Sinne Erzählungen darüber, wie die Welt funktioniert und was in ihr besonders wichtig und was unwichtig ist. Dass der Mythos eine Geschichte ist, die nicht ganz wahr ist, Mythos und Wahrheit sogar als Gegensätze auftauchen ist eher fragwürdig. Doch das ist eine komplizierte Nuance, der wir uns in einer späteren Folge ausführlich widmen.
Ziemlich parallel mit dem Wegbrechen der Bedeutung der großen christlichen Mythen in Europa, sind Surrogate auf der Bühne aufgetaucht. Die wissenschaftlich-technische Revolution sorgte dafür, dass die religiösen Mythen an Bedeutung verloren, dadurch, dass man alternative Erklärungen hatte und wohl noch mehr dadurch, dass man diese Erklärungen, für jedermann sichtbar, in technische Errungenschaften umsetzen konnte. Neben neuen Welterklärungen entstanden in der Industrialisierung Arbeitsplätze und das Leben wurde umstrukturiert. Aber wohin mit den Hoffnungen und Erwartungen, die bislang mit den religiösen Mythen verknüpft waren?
Auch sie wurden nun auf die neuen Träger projiziert und so hießen für viele die neuen Hoffnungsträger Wissenschaft und Technik. Die Erfolge waren beeindruckend. Die Lebenserwartung stieg und technischer Fortschritt war gleichbedeutend mit einem Zugewinn an Lebensqualität. Doch heute ist die einfache Formel: mehr Fortschritt = mehr Glück und Lebensqualität fragwürdig und brüchig geworden. Der stille Fortschrittsmythos, der auf der Gewissheit gründete, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird gilt heute nicht mehr uneingeschränkt.