
Die Einheit und ihre Teile, ein ewiger Umbau. © psyberartist under cc
Schon Kant war klar, dass einheitliche Geschichten zu konstruieren für die Psyche zentral ist. Er nannte das nur anders, nämlich synthetische Kraft.
Gute 100 Jahre später entdeckte Sigmund Freud einen weiteren Aspekt dieser synthetischen Kraft, nämlich, dass die Psyche diese einheitlichen Geschichten auch dann, mit sich selbst als Urheber schreibt, wenn Teile davon gar nicht aus diesem Selbst stammen. Freuds Genie wurde das schlagartig klar, als er die Hypnoseexperimente von Charcot beobachtete, er übertrug diesen Sonderfall auf die allgemeinen Bedingungen und entwickelte eine Systematik des Vor- und Unbewussten, für die er bis heute berühmt ist.
Die Botschaft für unseren Fokus: Auch was nicht zu mir gehört oder von mir kommt, wird in manchen Fällen dazu gemacht. Es gibt auch den anderen Fall, dass etwas zu mir gehört, aber nicht als solches betrachtet wird. Beides gehört zusammen und kennzeichnet reife Abwehrmechanismen der Psyche: Bei der Rationalisierung macht man sich selbst zum Urheber einer Handlung, auch wenn es für Beobachter Zweifel gibt, ob das wirklich zutrifft. Bei der Projektion leugnet man den eigenen Anteil an an etwas, auch wenn es für Beobachter wiederum Zweifel gibt, ob das stimmt.
In beiden Fällen möchte die Psyche einheitliche Geschichten erzählen und seine Erzählung beschützen. Was nicht in diese – oft geschönte, Freud spricht vom privaten Mythos – Erzählung passt, fliegt raus, was gut dazu passt, wird hineingenommen, auch wenn man selbst gar nicht der Urheber war.
Einheitliche Geschichten haben eine riesige Bedeutung für die individuelle Psyche …
Weitere gute 100 Jahre später befinden wir uns in der Gegenwart. Die Psychologie selber ist in etliche Teildisziplinen zerfallen. Durch die Weiterentwicklung von Magnetresonanztomographen sind neue Einblicke ins Hirn gelungen auch in Echtzeit, was zunächst zu einem gewaltigen Hype führte, perspektivisch aber zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen werden dürfte.
Dort und auch in anderen Bereichen, wie der kognitiven oder Sozialpsychologie findet man immer wieder Ergebnisse aus denen klar wird, dass die Psyche die Vergangenheit nicht nur erinnert, sondern dabei auch immer wieder ein wenig verändert und umschreibt. In Experimenten mit lücken- oder bruchstückhaften Wahrnehmungsangeboten stellt man fest, dass die Psyche diese Lücken wunderbar ergänzen kann.
An jeder Stelle unserer Wahrnehmungen haben wir einen Trend zu Ganzheits- oder Einheitswahrnehmungen. Es scheint, dass unsere Psyche sowohl bei den Bausteinen, der Sinneswahrnehmung und den inneren Repräsentationen, als auch bei komplexeren Erzählungen Einheiten konstruiert.
Warum ist das so? Oft wird mit einem evolutionären Vorteil argumentiert, aber nicht selten ist das, was man da anführt wenig überzeugend oder wirkt an den Haaren herbei gezogen. Psychologisch scheint es für uns wichtig zu sein, dass wir ein Erklärungsmuster haben, mit und in dem wir uns schnell orientieren können.
Dabei ist es ganz offensichtlich so, dass die Erklärungen für uns nicht ’schön‘ sein müssen. Wir stricken uns kein Paradies, kein Schlaraffenland, oft ist unser Weltbild schroff, unangenehm, manchmal sogar die Hölle. Die Überraschung ist, dass wir dennoch nicht davon loslassen, auch wenn es extrem negative Konsequenzen hat. Man ‚weiß‘ sich lieber in einer schlechten, bösartigen Welt, in der man sich auskennt, in der man sich aber nicht wohl fühlen kann, statt seine Sicht zu verändern. Sinn und Orientierung ist offenbar oft mehr wert als ein Wohlgefühl.
… und ebenso für die kollektive Psyche
Viele dieser Geschichten, Erzählungen oder Narrative haben ein gemeinsames Thema, um das sie kreisen. Eine gemeinsame Überzeugung, worum es wirklich im Leben geht, was die großen Themen sind.
Da hat unsere Zeit viel zu bieten. War in den vergangenen Jahrzehnten der Fortschritt durch Wissenschaft & Technik die stille, aber extrem erfolgreiche Erzählung im Hintergrund, die gar nicht mehr eigens ausbuchstabiert zu werden brauchte, mit dem Höhepunkt Anfang der 1970er, so zerbröselte dieser Fortschrittsoptimismus mit jedem Jahrzehnt ein wenig mehr und zerfiel in erzählerische Einzelteile, die wir gut kennen.
Für manche ist der Kampf gegen den Kapitalismus das Leitmotiv, mit dem alles steht und fällt. Für andere die Anerkennung marginalisierter Gruppen und Lebensweisen. Die Themen und vermuteten Ursachen können sich mehr oder weniger überschneiden, müssen es aber nicht. Mancher aus dieser Stoßrichtung sind für die Abschaffung des Patriarchats und glauben, dadurch wäre die Welt eine bessere. Im Zuge dieser Narrative sind sie zuweilen gegen Religion, da sie diese für eine überkommene Form der Machtausübung ohne realen Hintergrund halten, der einfach auf Traditionen beruht.
Eine andere Stoßrichtung sind Gruppen, deren einheitliche Geschichten aus dem entgegengesetzten Lager kommen. Sie halten die Welt insgesamt für einen Ort in dem der Kampf regiert, manchmal führt man das auf den missverstandenen Ausdruck des ‚Survival of the fittest‘ zurück, was ein Vorteil der am besten Angepassten, nicht des stärksten Einzelkämpfers meint.
Doch für manche bleibt der Mensch des Menschen Wolf, Krieg und Kampf das Prinzip, mal durch Waffen, mal durch Wirtschaft, mal durch Wissen und mal durch Beziehungen. Eine Gruppe sieht mächtige Strippenzieher am Werk, die die Welt beherrschen, durch Massenmedien, Werbung, Manipulation via Social Media.
Ein andere Gruppe meint, der Mensch solle sich endlich den Regeln der Natur anpassen, will er nicht selbst untergehen. Ihrer Meinung nach sind wir zu viele Menschen, die zu viel verbrennen und Kohlendioxid emittieren, die für ein gewaltiges Artensterben und eine ebensolche Ressourcenverschwendung verantwortlich sind und nicht mal ahnen, was das auch für die Menschen selbst bedeutet.
Wieder andere zucken mit dem Schultern, machen weiter wie bisher und vertrauen darauf, dass der Weltuntergang schon oft verkündet wurde, aber bisher nie eingetreten ist und dass es auch dieses mal so sein wird, dass wir als Menschheit irgendwie die Kurve kriegen.
Das ist nur eine grobe Auswahl, die illustrieren soll, dass aus den Fragmenten der zerbröselnden Großerzählung vom Fortschritt durch Wissenschaft & Technik, in deren Fahrwasser dann stets auch Wohlstand und soziale Verbesserungen nahezu automatisch stattfinden sollten, eigene einheitliche Erzählungen entstanden sind. Eine spannende Frage, die hieraus resultiert ist:
Kann man sich aussuchen, für welche Erzählung man sich interessiert?
Einerseits ja, sollte man denken, denn wir sind willensfreie Menschen. Auf der anderen Seite interessiert man sich eben für das, was einen interessiert und Erklärungen aus diesem Bereich findet man dann auch plausibel und überzeugend, nahezu schicksalhaft.
Weil wir es uns nicht vollständig aussuchen können und die alle verbindende Großerzählung heute fehlt, tüten wir das was uns begegnet gerne in unsere bekannten Kategorien ein. Heißt, aus der Sicht einer Teilerzählung wird versucht, wieder ein Gesamtbild zu errichten, das alle weiteren Erzählungen umfasst.
Praktisch finden wir das in Formulierungen, dass, wenn erst der Kapitalismus beseitigt ist, sich alle weiteren Probleme von selbst erledigen, weil der Kapitalismus einfach die größte Hürde ist. Oder in der Erzählung, dass alles andere egal ist, wenn uns der Klimawandel um die Ohren fliegt. Oder dass man sich zwar weigern kann, das anzuerkennen, aber eben doch alles ein großer Kampf ist: der Individuen, der Nationen, der Systeme. Und so weiter.
Wir haben also keinen Mangel an Sinn– und Orientierungsangeboten, sondern in gewisser Weise einen Überschuss, gleichzeitig offenbart dieser Überschuss aber doch einen Mangel, weil er zeigt, dass den bisherigen Ansätzen die Überzeugungskraft fehlt um sehr große Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Schon bei uns, geschweige weltweit.
Da wir nach Sinn und Orientierung streben und einheitliche Geschichten uns genau damit versorgen, nehmen wir, wenn uns die Großerzählung fehlt, eben die nächstbeste.
Nicht alles was politisch aussieht, ist es auch
Dadurch, dass man in seiner Blase sitzt, dies aber in der Regel nur von anderen glaubt, kommt es zu merkwürdigen, zwanghaften Kategorisierungen, oft im politischen Bereich.
Augenfällig wurde das im Bereich des Ringens um eine einheitliche Geschichte in der Corona Pandemie. Vor ungefähr drei Jahren sah sich die Welt mit einer – wie und wodurch auch immer, auch das ist noch nicht geklärt – neuen Mutation von Coronaviren konfrontiert. Das Spektrum der Deutungen war schon zu Beginn breit. Von harmloser Husten bis zum Ende der Menschheit war alles zu finden, nach und nach kristallisierte sich heraus, für wen das Virus besonders schlimm war, man war glücklich schnell einen Impfstoff zu haben und als dieser zwar wirkte, aber nicht lange vorhielt, ernüchtert, dass der schlechter war, als gedacht.
Der überwiegende Anteil der Wissenschaftler und der Menschen bei uns war der Ansicht, dass Covid 19 eine ernste Erkrankung ist und doch formierte sich eine Minderheit, die teilweise mit den Darstellungen der Wissenschaft, ihrer Umsetzung durch die Politik oder beidem nicht einverstanden waren. Aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Manche sagten, der Schaden für den Mittelstand sei viel größer als der Nutzen für die Gesundheit, manche betonten, es gäbe auch andere gefährliche Infektionskrankheiten, einige fanden die Deutschen zu brav und folgsam, Teile sorgten sich um die Kinder, manche waren wegen der Impfung besorgt, andere sahen den Mundschutz als Maulkorb, wieder andere meinten, damit müsse der Körper selbst fertig werden und das ist längst nicht alles.
Da irgendwann niemand mehr so richtig durchblickte und das Thema emotional auch hoch aufgeladen war, steckte man einfach alle in einen Sack, auf den man Coronaleugner oder Impfskeptiker/-gegner schrieb. Und wie schon eingeübt verpasste man dieser sehr heterogenen Gruppe den einheitlichen Stempel der Rechtsradikalen. Ob Reichsbürger oder Anthroposophen, Naturkostler oder Heilpraktiker, religiös Motivierte, politisch Linke oder hart Rechte, Wissenschaftsskeptiker oder wen auch immer, alle packte man in diesen Sack, wie wir unter die politisch-ideologische Fehldeutung näher und allgemeiner ausgeführt haben.
Hat man einmal die politische Brille auf, erscheint einem automatisch alles politisch motiviert und damit drängt man, ohne es zu wollen, Menschen an einen rechten Rand, die damit überhaupt nichts zu tun haben, aber irgendwann aufgrund dieser Zuschreibung frustriert sind und nur noch abwinken.