Nervensystem beruhigen lässt sich über verschiedene Stabilisierungstechniken, die teilweise auch im Rahmen psychotherapeutischer Verfahren angewendet werden. Außerdem brauchst du etwas Übung und Geduld mit dir. Bei starken psychischen Symptomen, hohem Leidensdruck und traumatischen Erfahrungen ist eine individuelle Psychotherapie vorzuziehen anstatt allgemeiner Tipps in einem Artikel. Für den Alltag können bei Symptomen im nichtklinischen Bereich diese Selbsthilfestrategien hilfreich sein.

Nervensystem beruhigen: Nur wie?

Bei stressvollen Ereignissen und solchen, die negative Prägungen und Glaubenssätze aus der Kindheit triggern, helfen verschiedene Methoden, im Hier und Jetzt zu bleiben und das Nervensystem zu beruhigen. Da sich eine innere Anspannung potenzieren kann und beispielsweise dadurch Ängste und Panikattacken wahrscheinlicher werden, ist es wichtig, die körperlichen Symptome eines Nervensystems, das sich »im Alarmzustand« befindet, möglichst frühzeitig zu erkennen.

1. Signale frühzeitig erkennen

Signale, die für eine innere Anspannung und einen Zustand erhöhter vegetativer Wachsamkeit stehen, können sich als körperliche Symptome, aber auch im Denken und Verhalten zeigen. Wie immer gilt, die Symptome können, müssen aber nicht vorkommen. Und die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Anzeichen im Denken, Fühlen und Handeln

Frauengesicht, Kopf zur Hälfte unter Wasser

Nicht mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten, ist das Ziel von Menschen, die ihr Nervensystem beruhigen wollen. © Ashley Campbell under cc

Folgende Anzeichen im Denken, emotionalen Erleben und Verhalten können auftreten:

  • innerlich getrieben fühlen; nicht »runterkommen«; ständig wie »auf der Überholspur sein«
  • Gefühl, im Alltag nur noch zu funktionieren und Aufgaben abzuarbeiten
  • das Außen und Herausforderungen werden aufgrund bestehender emotionaler Belastungen als bedrohlich und »zu viel« wahrgenommen
  • alles gut machen zu wollen; sich stets »noch mehr anstrengen« und auspowern; Schwierigkeiten, zu erkennen, wann Psyche und Körper an ihre Grenzen gekommen sind; nicht stoppen können
  • schnelleres Anspringen auf Stressoren mit der Folge von »innerlich hochschießender« Angst oder Verärgerung
  • Brain Fog: Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit, keinen klaren Gedanken fassen können
  • schnelle Erschöpfung
  • Wechsel zwischen hektischer Betriebsamkeit und Ausgelaugt sein/Müdigkeit; Entspannungsgefühle nicht mehr spüren können; hauptsächlich durch Medienkonsum vom Alltag ablenken
  • schneller reden und agieren
  • Ungeduld und Reizbarkeit, wenn Dinge nicht gleich so funktionieren, wie erhofft
  • Katastrophisieren: Antizipieren von Worst-Case-Szenarien, Grübeleien z. B. mitten in der Nacht und gedanklich nicht/schwer loslassen können
  • im Alltag jonglieren mit den Aufgaben; angestrengt versuchen, die Kontrolle über alles zu behalten

Körperliche Anzeichen

Neben deinen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen gibt es Körpersymptome, die auftreten können. (Wichtig ist, dass somatische Ursachen für diese körperlichen Symptome ausgeschlossen werden können.)

  • Herzrasen, vielleicht auch Herzstolpern
  • Schwindel
  • Durchfall aufgrund der Nervosität
  • Kopfschmerzen aufgrund von Anspannung
  • Muskelschmerzen, Rückenschmerzen
  • ev. Gefühl von Entzündungen im Körper (schmerzende Gelenke etc.)
  • flachere Atmung

Es empfiehlt sich, sich im Alltag parallel zu überwachen, sodass du diese Signale frühzeitig erkennen und intervenieren kannst. Je eher du sie erkennst und etwas dagegen tust, umso weniger kommst du in den »emotionalen Überlebensmodus« mit höherer Ängstlichkeit und Katastrophisieren hinein. Du steuerst sozusagen wie ein nützlicher Sidekick (das sind die Begleitenden der Protagonisten in Geschichten) mit sinnvollen Techniken zur Stabilisierung dagegen an.

2. Gefühl von Kontrolle

Wenn du den Anzeichen eines »übererregten« Nervensystems Aufmerksamkeit schenkst, erlangst du ein Gefühl von Kontrolle zurück. Du wirst sozusagen weniger von dem innerlichen emotionalen Eskalieren überrascht. Damit entstehen Vorteile für dich:

  • Du lernst Situationen und Phasen besser kennen, die dazu führen, dass du in den Zustand innerer Anspannung kommst.
  • Wenn du die Auslöser erkennst, kannst du entgegenwirken.
  • Sobald du dich mehr überwachst, wirst du auch bewusster erleben können, wie und wodurch der Zustand innerer Anspannung wieder abflachen kann. Du erfährst, dass unangenehme Emotionen und Gedanken vorübergehen.
  • Indem du Stabilisierungstechniken erlernst, bekommst du Werkzeuge der Selbstregulierung in die Hand. Selbst wenn es nicht immer oder sofort gelingt, weißt du doch, wie du damit umgehen kannst. Das stärkt die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein.

3. Techniken zur Stabilisierung

Schild mit Warning Stay on trail vor Gletscher

Bei einem übererregten Nervensystem wird schneller Alarm ausgelöst, dann strömen Stress und Ängste ein und Betroffene werde immer wieder aus der Bahn geworfen. ©
Justin Morgan
under cc

Nachfolgend haben wir einige Techniken zur inneren Stabilisierung zusammengefasst. Es gibt noch weitere und du bist herzlich dazu eingeladen, diese auszuprobieren. Für den einen passen die Techniken, für den anderen andere. Einige Techniken kennst du vielleicht schon aus anderen Artikeln auf psymag.de. Das liegt daran, dass diese zu unseren persönlichen Favoriten gehören.

Übe dich in Zeit und Geduld, auf der Suche nach dem, was für dich funktioniert.

Entspannte Atmung

Eine aufrechte Körperhaltung und tiefe, ruhige Atmung sind essenziell für ein inneres Wohlgefühl. Im Alltag kannst du dich wie ein hilfreicher Sidekick immer wieder prüfen:

  • Wie stehe/sitze ich momentan da? Krumm, eingefallen?
  • Wie ist meine Atmung? Verflacht und eher kurz?

Richte dich auf und atme tief, bewusst und ruhig in den Bauch hinein. Dein Denken, Sprechen und Handeln verlangsamen sich. Du nimmst das Tempo aus deinem Leben heraus.

Atemübung

Atme über die Nase ein, halte kurz die Luft an und atme langsam über den leicht geöffneten Mund wieder aus. Du hältst wieder kurz inne und atmest wieder ein etc. Die Ausatmung sollte länger als die Einatmung sein. So verfährst du für einige Atemzüge.

Du kannst dabei die Augen schließen, dich Richtung Sonne wenden und dich gedanklich an einen Wohlfühlort beamen. Eine Anleitung dafür findest du hier: Der innere Wohlfühlort.

Achtung: An dieser Stelle erfolgt noch einmal der Hinweis, dass sich die aufgeführten Tipps auf Symptome im nichtklinischen Bereich beziehen. Bei einer emotional-instabilen Persönlichkeit, bei starken Ängsten, Panikgefühlen, Dissoziationen o. ä. sollten die Symptome in einer professionellen Psychotherapie angegangen werden. Hier können allgemeine Tipps zu Atemübungen kontraindiziert sein und die Ängste verstärken!

Gehe in den Abstand

Manchmal muss man den Körper bewusst auf Abstand bringen, damit der Geist folgen kann.

Verlasse also eine angespannte Situation und komme erst einmal runter. Verlängere die Spanne zwischen Reiz und Reaktion. Trinke Wasser. Einige Menschen berichten, dass die Schluckbewegungen beruhigend sind, da sie die Atmung verlangsamen. Außerdem sorgt die Flüssigkeitszufuhr für einen klareren Geist.

Hast du eine hektische Phase, nehme dir bewusst Pausen für einen Waldspaziergang oder Saunabesuch. Du wirst sehen, im Anschluss sieht das Leben halb so trübe und die Aufgaben halb so schlimm aus. Durch einen regelmäßigen Abstand steigst du aus deinem Perfektionsstreben aus und erledigst Aufgaben mit einer effizienten Gelassenheit.

Auch der innere Abstand hilft, beispielsweise im Gespräch mit einer Person, die abwertende Verhaltensweisen an den Tag legt. Anstatt mit ihr in die Diskussion zu gehen oder ihre Degradierungen seelisch an sich heranzulassen, betrachte das Gespräch eher so, als würdest du einen Film schauen. Bleibe im Gespräch innerlich unbeteiligter und auf Smalltalk-Niveau.

Überlege dir, was für ein Mensch du sein willst. Jemand, der seine Frustrationen an anderen auslässt, oder jemand, der sich auf Provokationen nicht einlässt und mit Challenges locker umgeht. Dementsprechend versuchst du zu reagieren.

Bleibe im Hier und Jetzt

Du kannst dein Nervensystem beruhigen, indem du gedanklich ins Hier und Jetzt zurückkommst. Das geht über die 54321-Methode.

Ansonsten kannst du auch mit beiden Händen deinen Körper leicht abklopfen. Durch das Spüren deines Körpers holst du dich gedanklich zurück.

Wechsele ins Erwachsenen-Ich

Blumenwiese und Weite

Durch Stabilisierungstechniken geraten Betroffene weniger oft in den emotionalen Überlebensmodus. © Neil Barnwell under cc

Viele negative Prägungen und Glaubenssätze wie »Ich schaffe das nicht«, »Ich bin nicht gut genug«, »Jetzt passiert etwas Schlimmes«, »Du überschätzt dich« oder »Pass besser auf, sonst passiert etwas« gehen häufig auf die Stimmen unserer Eltern zurück. Diese Ermahnungen und Maßregelungen oder Herabsetzungen sind zu unserer eigenen inneren Stimme geworden. Jenes können wir nicht ändern. Aber was wir ändern können, ist, inwieweit wir diesen gedanklichen Miesepetern Glauben schenken wollen.

Es kann dir helfen, in den Zustand des Erwachsenen-Ichs zu wechseln und mit Vernunft auf die Situation zu schauen. In einem Großteil der Fälle ist sie weit weniger dramatisch als deine Emotionen dich gerade glauben lassen wollen. Auch die antizipierten Konsequenzen sind in der Regel nur halb so schlimm, als wir es vorab annehmen.

Stoppe bei den negativen Gedanken und sage dir: »Das bringt mich überhaupt nicht weiter und hilft mir nicht bei einer Lösungsfindung.«

Viele Studien zeigen, dass man mit Gelassenheit und Abstand zu besseren Lösungen kommt, mit denen man auch nachhaltig zufrieden ist. Also nimm dir bewusst die Zeit, um runterzukommen.

Mache dir außerdem bewusst, ob du dein Leben auch zukünftig in solchen emotionalen Ausnahmezuständen verbringen möchtest. Du kannst für diese nichts. Sie wurden dir in deiner Vergangenheit durch negative Erfahrungen und vielleicht auch traumatische Ereignisse mitgegeben. Aber du kannst entscheiden, dass du jetzt damit anfangen willst, es zu ändern. Du stellst sozusagen gedanklich diesen emotionalen Ballast deinen Eltern wieder vor die Tür. Er gehört nicht zu dir.

Wie gesagt: Diese Stabilisierungstechniken werden nicht immer gelingen und auch nicht immer sofort – aber immer besser.

Humor hilft

Es klingt wie eine Floskel, aber Humor verhilft dir zu mehr Lockerheit und Abstand. Du kannst kommunizieren, dass du menschlich gerade »out of order« bist und wie ein Männchen in einem Computerspiel aktuell nur die einzelnen Level abarbeitest. Einfach, weil du schlichtweg viel zu tun hast. Solche Phasen gibt es im Leben. Solange diese Phasen nicht zu lange andauern und in chronischen Stress ausarten, hilft dir vielleicht die Vorstellung, die Aufgaben nach und nach zu erledigen.

Vergiss außerdem nicht, dass beim Abschließen eines Levels (bzw. einer Aufgabe) eine Belohnung wartet. Mache rechtzeitig und immer wieder Pausen. Ein Spaziergang in der Sonne oder die Zubereitung eines gesunden Comfort Foods stärken deine Selbstfürsorge, deine Kontrollüberzeugung (dass du es schaffen kannst!) und dein Selbstbewusstsein. So bleibst du gelassen. Das Leben hält mehr bereit als nur Anstrengungen!

Ein weiterer Vorteil von einer offenen Kommunikation deiner momentanen Überlastung: Du erhältst soziale Unterstützung und Trost, weil eben jeder Mensch solche Phasen kennt.

4. Struktur bringt Sicherheit

Eine gute Tagesstruktur mit optimaler Aufgabenplanung und eine angemessene Selbstfürsorge mit ausreichend Schlaf, körperlicher Bewegung (Yoga), Meditation, gesundem Essen und Aufenthalten in der Natur bildet die Grundlage der Selbststabilisierung. Auch eine Aufarbeitung vergangener seelischer Belastungen ist ein Baustein, um sein Nervensystem zu beruhigen. Mit diesem Fundament und den Soforthilfe-Techniken kannst du eher und öfter aus dem emotionalen »Überlebensmodus« aussteigen und an einem Zustand langanhaltender innerer Gelassenheit arbeiten.

Dir hat der Artikel gefallen? Dann abonniere gern unseren kostenlosen Newsletter, der dich einmal im Monat per E-Mail über die neuen Beiträge der letzten Wochen auf unserem Psychologie Online-Magazin benachrichtigt. Trage dazu einfach nachfolgend deine E-Mail-Adresse ein, klicke auf „Abonnieren“ und bestätige in der anschließenden E-Mail das kostenlose Abo:

Hinweise zu der von der Einwilligung mitumfassten Erfolgsmessung, Protokollierung der Anmeldung und deinen Widerrufsrechten erhältst du in unserer Datenschutzerklärung.