Wie Empathie und Authentizität ist auch Ganzheitlichkeit oder ganzheitlich ein ebenso klingender, wie gern benutzter Begriff. Dabei ist er durchaus emotional aufgeladen. Für die Seite der Anhänger ist Ganzheitlichkeit eine Lebenshaltung, für Skeptiker ein Begriff, auf den sie allergisch reagieren.

Ein wenig ist die Ganzheitlichkeit heute durch Nachhaltigkeit ersetzt, doch das bringt den Begriff wieder zu den Wurzeln zurück, nachdem er über Jahre etwas inflationär gebraucht wurde. Bekannt wurde er in alternativen Kreisen der Medizin und Psychotherapie, griff dann über auf Ernährungsweisen und irgendwann konnte man von der Zahnpasta bis zur Versicherung alles mit dem Attribut „ganzheitlich“ aufpeppen.

Die Provokation kam an und so gibt es Interpreten denen bei allem, was ganzheitlich sein soll, vorhersagbar der Hut hochgeht. Doch als Kampfbegriff ist das Allumfassende oder wenigstens Weitgreifende, was in Ganzheitlichkeit steckt, eigentlich widersprüchlich.

Viele, die für mehr Ganzheitlichkeit plädieren, definieren sich darüber, gegen was sie alles sind. Die Liste ist lang: gegen Schulmedizin und -psychiatrie, gegen das kalte, analytische, rationale, „männliche“ Denken. Gegen alles Künstliche, Synthetische, den meisten Lesern wird noch mehr einfallen. Es ist sicher in Ordnung, Kritik an bestimmten Zuständen zu äußern, gegen übertriebene Industrialisierung und kalten Funktionalismus zu sein, vielleicht sogar besonders in der Medizin, die auf dem Wege dazu ist, nur noch nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu agieren.

Aber etwas was sich abgrenzt und dadurch Teilaspekte heraushebt, kann schwer ganzheitlich sein.

Holismus

Ein ähnlicher Begiff ist der Holismus. Holismus meint nicht unbedingt den Blick auf alles, sondern auf den größeren Kontext innerhalb eines Gebietes. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Ansätze. Man kann von einer Sache mehr verstehen, wenn man sie in ihre Einzelteile zerlegt. Die Funktion einer Uhr, eines Autos, aber auch von inneren Organen und unter gewissen Gesichtspunkten auch des Bewusstseins oder der Psyche bekommt man so besser zu fassen. Diesen Vorgang nennt man Reduktionismus.

Doch die Bedeutung eines Wortes wie „getroffen“ versteht man nicht, indem man das Wort in einzelne Buchstaben zerlegt und diese genau untersucht, sondern, indem man den Kontext, den ganzen Satz sieht. In „Er wurde von drei Schüssen getroffen“ und „Weißt du, wen ich gestern getroffen habe?“ hat der Begriff eine jeweils andere Bedeutung. Und erst der weitere Kontext enthüllt, wer da jeweils, wie und warum „getroffen“ wurde. Sprache und allgemein Deutungen, all das was in Sinnsystemen verarbeitet wird ist holistischer Natur, erschließt sich erst, wenn man mehr weiß, das Umfeld, den Kontext mitbetrachtet.

Die vermeintliche Feindschaft zwischen den beiden Ansätzen ist eher ein Missverständnis oder zu kurz gesprungen. Die Naturwissenschaft folgt ja einer Theorie und diese ist wesentlich holistisch, selbst wenn die experimentelle Methode dem Reduktionismus folgt. Und auch holistische oder ganzheitliche Denkansätze haben ihre unterscheidbaren Einzelkomponenten.

Der Ganzheitlichkeit fehlt oft die Hierarchie

So breit aufgestellt wie ganzheitliche Ansätze manchmal sind, geht ihnen bisweilen die Hierarchie verloren. Das ist in den Augen vieler Ganzheitlichkeits-Interpreten kein Problem, da auch der Begriff Hierarchie hier selten gut wegkommt. Es wird jedoch dann zum Problem, wenn man mit dem Gedanken der Ganzheitlichkeit ernst macht und wirklich alle Einflussfaktoren mit hineinnimmt, die man findet. Unweigerlich taucht dann die Frage auf, ob alle Faktoren gleich stark gewichtet werden können oder ob man bestimmte Einflüsse getrost vernachlässigen darf, während man andere betonen muss.

Zudem gibt es das Problem, dass für manche Faktoren überhaupt keine Maßeinheit besteht. Temperatur und Magnetismus kann man exakt bestimmen, aber was ist die Einheit für einen guten Grund, ein starkes Argument oder eine intuitive Eingebung? Da man hier oft nichts messen kann, in anderen Bereichen aber sehr viel, wirkt es zunächst überzeugend, wenn man Hunderte verschiedene Einflüsse in Beziehung setzt, wenn aber die wirklich gewichtigen Faktoren wegfallen oder wenn nicht klar ist, wie sie gewichtet werden sollen, sinkt die erklärende Kraft. Das Subjekt zerfällt dabei obendrein zu einer marginalen Größe unter vielen anderen Einflussfaktoren, das bildet unser Empfinden nicht ab und wird auch großen Teilen der philosophischen und psychologischen Forschung nicht gerecht.

Der Gedanke, der hinter der Forderung nach mehr Ganzheitlichkeit steht, ist nobel und verständlich. Man sollte eingefahrene Wege verlassen, der Blick sollte nicht zu eng werden, Alternativen wagen, mehr Faktoren berücksichtigen, doch oft wird das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Wenn ein ganzheitlicher Ansatz definiert wird, der Hierarchien, innere und äußere Faktoren zulässt und gewichtet und auch sinnvolle, bestehende Ansätze wertschätzen kann, ist Ganzheitlichkeit oft ein Aufbruch zu neuen Ufern.