Hypermoderne und Altes treffen in vielen Bereichen aufeinander. © Bent Tranberg under cc

Sind wir am Ende? Die Frage klingt reißerisch oder alarmistisch. Vor radikalen Veränderungen stehen wir auf jeden Fall. Das muss nicht schlecht sein.

Es gibt keinen neutralen Blick auf die Welt, wie sie wirklich ist. All diese Vorhaben kann man von Anfang an vergessen, weil jeder Blick eingefärbt ist, sein muss. Philosophen ist längst klar, dass der ‚Blick von Nirgendwo‘ (Thomas Nagel) eine Fiktion ist, andere haben es vielleicht während der letzten Monate erfahren, dass jeder so seine Fakten hat, samt passenden Experten. Der Blick auf die Fakten soll ja angeblich alles klären.

Dann lernt man, dass es natürlich die richtigen Fakten sein müssen, aus den richtigen Quellen, mit dem richten Werkzeug, von den richtigen Experten dargeboten. Dies mag alles sein, aber ist bereits so hoch interpretativ, dass die Aussage, es reiche mal kurz eben auf die Tatsachen oder Fakten zu blicken, nicht mehr als ein netter Glaube ist.

Inmitten unserer Welt, die wir für planbar, rational und dergleichen halten, finden wir radikal konträre Interpretationen, die immer wieder beschrieben wurden und werden und deren Muster kurz gesagt darin besteht, dass die extreme Fraktion der einen Richtung unsere Welt als eine ansieht, die dem Untergang geweiht ist. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern nur wann und wie, während die extreme Fraktion der anderen Richtung uns in der besten Welt sehen, die es je gegeben hat, Zukunftsaussichten wahlweise rosig bis grandios. Dazwischen der Rest, der sich mehr zum einen oder anderen Pol hin orientiert.

Denkmonopole: Alte Ideen sind schlechte Ideen

Positivistische Fortschrittsoptimisten sind häufig durch eine gemeinsame Idee verbunden, nämlich, dass wir alles was alt ist, überwinden müssen. Was früher war mag allenfalls damals seine Berechtigung gehabt haben, aber heute sind wir entweder schon weiter oder wollen weiter kommen. Es geht nach vorne, Probleme werden mit mehr Innovationsgeist überwunden.

Andere Fortschrittsoptimisten würden zugestehen, dass im Fortschritt eine gewisse Dialektik liegt, das heißt, dass wir uns die Fortschritte des einen Gebietes mit einem Rückschritt oder einer Stagnation auf mehreren anderen Gebieten erkaufen, dass sich diese Unwuchten aber einruckeln und wir auf lange Sicht von den Fortschritten profitieren werden. Das Gesamtprojekt ist ein rationales und unterstellt damit, dass eine immer rationalere Welt automatisch eine bessere wäre.

Dazwischen liegen Durststrecken. In ihrer Dialektik der Aufklärung skizzieren Adorno und Horkheimer den Begriff der Aufklärung kritisch und prangern vollkommen zurecht die Unterwerfung allein unter die instrumentelle Vernunft an, also das auch hier oft kritisierte Zweckdenken oder den Funktionalismus. Dieser hat uns inzwischen fest im Griff und selbst wenn sich nur um eine Durststrecke handelte, wäre das schlecht, wenn man selbst drin steckt. Aber vielleicht geht es viel weiter und das immer Forschrittsdenken hat sich einfach verheddert.

Wer ist alles in der Krise?

Die Wissenschaft sei in der Krise, hört man immer wieder mal. Andere leugnen das, halten die Wissenschaft nur für ausdifferenziert und daher schwer vermittelbar. Man sollte auf die Wissenschaft hören, fordern die einen, doch sie kann ihre sehr verschiedenen Disziplinen nicht selbst koordinieren. So liegen die Einzelteile herum, als Werkzeuge und Erkenntnissplitter und wie sie weise und lebbar koordiniert werden, bleibt unklar. Allein die Frage nach der Krise ist jedoch symptomatisch.

Europa sei in der Krise, heißt es. Europa ist ein demografisch schrumpfender und alternder Kontinent, während die Weltbevölkerung, gebremst, weiter wächst. Eine 500 Jahre währende Regentschaft geht damit ihrem Ende entgegen, in der die Nachfolger der Europäer in vielen Teilen der Welt den Ton angaben und zwar über die Machtpolitik hinaus vor allem die Art des Hinschauens, Denkens und Interpretierens bestimmten.

Dadurch ist vor allem der Eurozentrismus in der Krise, die Art, die Welt so zu betrachten, wie man es bei uns eben tut und dies als normal und im Grunde einzig vernünftige Möglichkeit zu empfinden. Zusammengesetzt aus vielen Einzelteilen, die wir als selbstverständlich empfinden, aber eben weil wir genau so zu denken, hinzuschauen und zu bewerten gelernt haben. Einerseits also nur eine Gewohnheit, andererseits heißt das nicht, dass die Gewohnheit irgendwie defizitär sein muss. Es ist halt unser Blick auf die Lebenswirklichkeit, die zum Teil durch eben diese Herangehensweise erst entsteht.

Das materialistische Denken in Teilen, Einzeldingen, Eindeutigkeiten, aber auch Individuen ist ebenfalls in die Krise geraten. Andere Zeiten und Kulturen betonen mehr den Übergang, den Prozess, dass etwas sich verändert und auf dem Weg ist. Wir denken in Ursache und Wirkung und in einem Funktionalismus des Äußeren. Was in uns passiert versuchen wir noch in die Sprache von Hirnfunktionen zu übersetzen. Aber all diese Ansätze haben ihren Punch verloren, erklären längst nicht mehr so überragend, wenn überhaupt nicht, wie das alles funktioniert.

Sind wir am Ende? Das Bündel der eben genannten Prozesse zeigt zumindest, dass sich etwas verändert. Die Karten werden neu gemischt, aber auch unsere bleiben im Spiel.

Der gewohnte Blick auf die Welt

Da der archetypische Blick auf die Welt anders ist, liegt genau hier auch die Hauptproblematik, nämlich ihn so zu vermitteln, dass man ihn auch einnehmen kann. Denn wir sind natürlich durch und durch trainiert, die Welt so zu sehen, wie wir es eben tun. Das erscheint uns normal und alles andere schon ein bisschen abseitig, bis verrückt.

Allerdings haben wir diese andere Seite auch drauf, ganz selbstverständlich sogar. Sie begegnet uns aber in Bereichen, die wir tendenziell eher entwertet haben. Genau hier liegt das Problem. ‚Irrational‘, das hat keinen guten Klang bei uns. Aber wenn unsere Rationalität in aller erster Linie diese aufs Zweckdenken reduzierte Form der Rationalität ist, beißt sich die Katze hier schon selbst in den Schwanz.

Dazu kommt noch etwas: Die Lebenswirklichkeit zwang uns Menschen zu allen Zeiten zu einer gewissen Form von Zweckdenken und Realismus, einfach um weiter leben zu können. Keine Kultur und in gewisser Weise nichts in der belebten Natur ist gänzlich irrational. Das Zweckdenken haben wir seit der Steinzeit drauf. Die eigentlichen Fragen und Deutungen beginnen in dem Moment, wo man sich nach einer konsistenten Gesamterzählung der Welt fragt.

Vermutlich ist es schon falsch, zunächst eine funktionale Lebensweise zu unterstellen, der man dann nachträglich via Erfindung, Schöpfungsmythos oder dergleichen einen Sinn hinzufügen wollte. Wahrscheinlicher ist es, dass der Sinn von Anfang an durch den Ritus gegeben war und sich einzelne Gruppen über genau diese rituelle Art etwas zu tun, die sich vom Alltäglichen unterschied, definierten. Mit unserem funktionalistischen Blick untersuchen wir heute die Welt und glauben zu erkennen, dass sie völlig sinnfrei konzipiert sei und die höchste Form der Erkenntnis soll dann sein, dies aushalten zu können. Das scheint eher der Sonderfall zu sein.

Betrachten wir noch einmal, den gewohnten Blick auf die Welt: Vögel und Insekten haben sich unterschiedlich entwickelt, aber beide verfügen zum Teil über Flügel, mit denen sie fliegen können. Eine ökologische Nische, könnte man deuten, die durch zufällige Mutationen Lebewesen befähigte einen weiteren Lebensraum, die Lüfte, zu erobern.

Wir müssen die Sichtweise, in der nichts geplant und alles zufällig ist, einmal verstehen, denn auch sie hat ihren Reiz und es ist jene Sicht, von der unsere wissenschaftlich geprägte Kultur heute überzeugt ist. Mutationen sind kurz gesagt Kopierfehler im Erbgut und wenn diese Auftreten kommt es in einigen Fällen zu einer Veränderung von Eigenschaften in der nächsten Generation. Einige sind gravierend, andere gering, je nach Ort der Mutation. Nur eine von einer bis 100 Millionen Mutation bringt für das Individuum einen Vorteil. Bringt eine Mutation keinen Vorteil, sieht man sie nie wieder, weil das Individuum früh verstirbt, sich nicht fortplanzt oder die Mutation nach einigen Generationen nicht mehr vererbt wird, da sie sich einfach nicht durchsetzen konnte.

Die eine von Millionen Mutationen, die jedoch einen Vorteil bringt, eröffnet dem Individuum jedoch Vorteile, so dass es biologisch besser an etwas angepasst ist, was bis dahin niemand erschlossen hat, sei es ein Lebensraum oder eine Wahrnehmungs-, Erlebnis- oder Verhaltensweise. Zum Beispiel den der Lüfte, wenn man Flügel hat. Das erklärt auf schlankem Wege ungeheuer viel, die Frage ist nur, ob es alles erklärt, was wir beobachten.