Die Rolle der Wissenschaft

Wie eine Herde werden Einzelteile von der Psyche eingefangen und zu einer erzählerischen Einheit gemacht. © William Clifford under cc
Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren keine gute Figur gemacht und an Ansehen verloren. Teils, weil ihre Methodik des konstruktiven Streits nicht verstanden wird, teils, weil es eben nicht ‚die Wissenschaft‚ gibt, sondern vollkommen verschiedene Disziplinen mit teilweise konträren Positionen. Es wird aus guten Gründen auch bezweifelt, ob die Methodik der Wissenschaft wirklich auf alle Lebensbereiche angewendet werden kann und zuletzt gerät die Wissenschaft immer mehr unter den ökonomischen Druck und in Abhängigkeit privater Geldgeber.
Dazu kommt, dass ‚die Wissenschaft‚ selbst und aktiv dafür sorgen muss, nicht zum Sprachrohr für platten Szientismus und ein Weltbild aus dem 18. oder 19. Jahrhundert herhalten zu müssen, gerne in Gestalt ihrer eigenen Anhänger oder Exponenten. Die Wissenschaft ist derzeit nicht in der Lage, eine einheitliche Geschichte zu präsentieren, an der sich die Menschheit ausrichten kann. Darum ist die Forderung, etwa aus Kreisen der Klimabewegung, endlich auf die Wissenschaft zu hören, nicht ausreichend. Das Bild das die Wissenschaft der Ratgeber ist und die Politik entscheidet muss einen allerdings nicht beruhigen, denn hier kommt zum Unzureichenden etwas, was das Niveau oft noch mehr nach unten zieht und das kann nicht die Lösung sein.
Mir geht es dabei nicht um Polemik, sondern eine konstruktive Kritik. Was stark helfen kann ist meines Erachtens ein Verständnis für die Rolle der unterschiedlichen Arten und Stufen der Bewusstseinsentwicklung und ihrer typischen Erzählungen. Wie uns das vielleicht helfen kann, will ich ausführen. Die Summe der Erzählungen wird am Ende zu dem, was wir als Weltbild vertreten und dieses hat neben den bewussten auch immer unbewusste Aspekte, die es zu verstehen und einzubinden gilt.
Im derzeitigen, eher regressiven Klima erleben wir eine Auseinandersetzung zwischen Erzählungen die beanspruchen wahr zu sein, etwa aus Reihen der Wissenschaft oder des investigativen Journalismus und mythischen Narrativen, einheitliche Geschichten, die darauf aus sind, dass sich viele hinter ihnen versammeln können.
Die Rolle des Mythos
Die starke Seite des Mythos ist, dass er ein kollektives Sinnangebot darstellt. Menschen, die einem Mythos und den dazu gehörenden Riten folgen, haben Sinn und Orientierung in ihrem Leben. Sinn und Orientierung galten aber längere Zeit als der mindere Wert gegenüber der Wahrheit einer Erzählung, die als überragend angesehen wurde.
Die Folge war eine Entmythologisierung oder Entzauberung der Welt, zugunsten funktionaler Narrative, die zunächst um Längen erfolgreichen zu sein schienen als die alten Mythen, die dann, ab dem 18. Jahrhundert nach und nach zerbrachen, noch bis zur 68er Revolution, der eine prinzipielle Skepsis gegenüber dem Traditionalismus eigen war. Es ist zwar prinzipiell richtig, dass die Aussage, dass etwas schon immer so gemacht wurde, keine gute Begründung darstellt, aber nicht alles waren nur tradierte Herrschaftsstrukturen, sondern oft auch geronnene Wege mit Welt umzugehen, auf die wir dann großzügig verzichtet haben.
Die starke Seite des Mythos war und ist es Sinn und Orientierung zu vermitteln, aber wir können keinen Schritt zurück zu mythologischen Gesellschaften gehen, sondern müssen das Beste aus allen Welten verbinden. Einheitliche Geschichten des Mythen und die Wahrheit der Wissenschaft. Der Szientismus ist sicher keine tiefere Wahrheit, wenn er verkündet, die Welt hätte keinen Sinn. Wenn dieser bei und in uns Menschen vorkommt, dann kommt er auch in der Welt vor, schon weil Menschen ja Teil der Welt sind. Es wird immer wieder zurecht festgestellt, dass mythische Gesellschaften rationaler waren und sind, als man dachte und in rationalen Gesellschaften, wie unserer westlichen, auch reichlich Sinnangebote zu finden sind.
Nur sind diese Sinnangebote oft welche, die sich an das Individuum richten und seine Individualität und die Einzigartigkeit oder Singularität dessen, was es erlebt hat, richten. Allenfalls werden die Sinnangebote noch auf kleinere Gruppen in der Gesellschaft ausgedehnt, die dann auch einheitliche Geschichten über die Welt, wie sie sie interpretieren, anbieten. Immer mehr Menschen orientieren sich in Richtung dieser kleinen Angebote, weil es eine tragende Großerzählung – wie den Mythos des Fortschritts durch Wissenschaft & Technik, der im späten 18. Jahrhundert begann und vor 50 Jahren seinen Höhepunkt hatte – aktuell nicht mehr gibt. An seine Stelle sind diverse Erzählungen getreten, intelligentere und weniger intelligente, progressive und regressive, aber wie und bei dem sie verfangen, hängt immer auch von der Entwicklung des jeweiligen Individuums ab, wie oben dargestellt.
Das schwierige Problem mit der Ganzheit
Vermutlich gibt es Anhänger vieler Erzählungen, die meinen, sie hätten doch eine hinreichende Großerzählung im Angebot: Der Klimawandel, der Kapitalismus, die Schere zwischen Arm und Reich, die Eliten, der Krieg, das Artensterben, das Patriarchat, der Rassismus, zu viel/zu wenig Religion in der Welt, Wohlstand, Bildung, vegane Ernährung oder was auch immer es sei.
Oft haben Vertreter dieser Einstellungen gute Gründe für ihre Position, aber wenig Interesse an der guten Gründen der anderen. Den eigenen Problembereich und seine Lösungen sieht man als drängend und überzeugend an, die der anderen findet man entweder übertrieben oder falls nicht, ist man der Meinung, diese Probleme würden sich von selbst lösen, wenn man den wichtigsten Punkt angeht. Also, wenn erst der Kapitalismus weg ist, verschwindet in seinem Kielwasser auch die Klimaproblematik und der Rassismus löst sich ebenfalls auf. Oder: wenn wir mehr technische Lösungen finden, bauen sich soziale Spannungen von selbst ab. Auch: wenn wir alle meditieren und uns vegan ernähren, werden wir bessere Menschen und die Einsicht kommt geflogen.
Das ist oft gut gemeint, hat aber zwei Haken. Erstens, lösen sich nicht alle anderen Probleme so zwingend auf, wie man gerne meint, zweitens, kriegt man nicht alle Menschen dazu, das gleiche zu glauben. Das ist die Idee des mythologischen Weltbildes: Wenn nur alle die gleichen Ziele und Überzeugungen haben, gibt es keinen Streit mehr. Das ist sogar richtig, nur tendieren wir Menschen immer auch dazu uns unterscheiden zu wollen und vor allem, sind wir nicht alle auf einem Bewusstseinsstand, so dass das, was der einen klar ist, den anderen bereits überfordert.
Brauchen wir eine neue Großerzählung?
Die Psyche will einheitliche Geschichten aus Teilen errichten und Teile haben wir genug. Aus der Erfahrung mit mythischen Weltbildern, die unsere Vergangenheit ausmachten, wissen wir, dass diese anfällig sind, wenn die Lebenspraxis nicht mit den Vorgaben übereinstimmt. Dann bekommt ein Weltbild Risse.
Unser heutiges rationales Weltbild ist auf der Überzeugung gegründet, dass es keinen Sinn, kein Ziel und keine Orientierung in der Welt gibt, die über Beliebigkeiten hinaus geht. Das ist halbwegs irre, weil wir gleichzeitig wissen, dass wir Sinn, Werte, Orientierung im Leben dringend brauchen, dass wir im Zweifel der nächstbesten Geschichte hinterherrennen, zeigt dies ja überdeutlich und auch die ‚mich interessieren nur Fakten‘ Erzählung ist eben nicht mehr als ein eher schwache Erzählung, die ihren Zenit längst überschritten hat.
Wenn wir die sehr unterschiedliche Bewusstseinsentwicklung weltweit aber ernst nehmen, muss man einen Weg finden, um die verschieden Ansichten und Einsichten unter einen Hut zu bekommen. Immer mehr Menschen gelingt der Sprung auf eine integrale Bewusstseinsstufe, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie nicht versucht alle anderen ebenfalls auf die integrale Stufe zu bekommen, sondern anerkennen kann, dass die Menschen verschieden sind und bleiben.
Auf dieser Stufe kann man zudem anerkennen, dass jede Stufe starke und schwache Seiten hat und sich darauf konzentrieren, die starken Seiten einzubinden. Außerdem ist sie zur Verarbeitung komplexer Themen in der Lage, so dass man würdigen kann, dass das was andere machen, ebenso bedeutsam ist, wie das was man selbst tut. Man ist also im Geiste vereint um die Welt besser zu machen, in den Mitteln und Wege aber divers und so brauchen wir keinen neuen Mythos, sondern eine lockere Erzählung, die jede Stufe in der für sie passenden Weise ausbuchstabieren kann.