Die Beseitigung der Ich-Schwäche ist ein wichtiges Ziel bei sehr vielen Psychotherapien. Die Ich-Schwäche ist kein Symptom, sondern zeigt sich in verschiedenen Facetten und Gesichtern, teils widersprüchlicher Erscheinung. So kann sie sich zum einen tatsächlich als eine Art der Schwäche und Unsicherheit manifestieren, in anderen Fällen tritt sie scheinbar stark und selbstbewusst auf.
Man muss sich natürlich davor hüten, alles zum Zeichen der Ich-Schwäche zu erklären, weil der Begriff dann seine Trennschärfe verliert. Wichtiger als ein diagnostisches Kriterium für Psychotherapeuten zu beschreiben ist, den Betroffenen einen Einblick zu geben, was mit ihnen los ist.
Viele Symptome der Ich-Schwäche sind nicht wirklich schön, wobei das verharmlosend ist, sie sind in Wahrheit in ihrer extremen Form entsetzlich. Mit anderen wiederum kann man auf den ersten Blick ganz gut leben, weil es der Psyche gelingt, die Ich-Schwäche zu kompensieren und eine künstliche Ich-Stärke, die bis zur Grandiosität wird, zu errichten.
Das heißt, Ich-Schwäche hat tatsächlich zwei ziemlich konträre Gesichter und wir werden versuchen, beide Gesichter erkennbar werden zu lassen, das schwache und unsichere ebenso wie das vermeintlich starke und selbstsichere, um am Ende darzustellen, was beide, bei aller oberflächlichen Verschiedenartigkeit, verbindet.
Wie fühlt sich Ich-Schwäche eigentlich an?
Unter Muskel- oder Kreislaufschwäche kann man sich etwas einigermaßen Konkretes vorstellen, man fühlt sich schwach, kann sich nicht gut bewegen, ist vielleicht etwas zitterig. Aber was ist Ich-Schwäche, das Ich ist ja in dem Sinne kein Organ? Was also sind denkbare Symptome, die vor allem innerlich, von Betroffenen selbst erfahren werden?
Es gibt Ereignisse und Nachrichten, die einen völlig aus der Bahn werfen und zwar in dem Sinne, dass man denkt, das würde man niemals überstehen. Menschen mit Ich-Schwäche pfeifen oft ohnehin aus dem letzten Loch und halten sich im Alltag, den alle anderen scheinbar oder tatsächlich so spielend meistern, so eben über Wasser. Kommt dann noch eine Nachricht, die ich-schwache Menschen überfordert, ist die Katastrophe perfekt. Es liegt nicht eine kleine Irritation vor, sondern die gesamte Existenz ist infrage gestellt.
Aus meiner Beschäftigung mit dem Thema chronische Schmerzen kenne ich den Begriff Katastrophisieren. Er meint, dass man wie selbstverständlich davon ausgeht, dass das schlimmste aller nur möglichen Szenarien eintreffen wird und man rettungslos verloren ist. Auf diese Idee kommt man am ehesten dann, wenn man sich sich dem Lauf der Dinge vollkommen ausgeliefert fühlt und man die Phantasie hat, man könne die Situation nie und nimmer verändern, ohne dabei noch größeren Schaden anzurichten.
Sich selbst traut man am wenigsten zu etwas ausrichten zu können und die Selbstverständlichkeit, mit der man annimmt, dass man nur ein Spielball des Schicksals ist, ist bezeichnend.
Dabei handelt es sich nicht um besondere Ereignisse, es geht nicht um Morddrohungen oder wichtige Prüfungen, sondern um scheinbar banale Alltagsereignisse, denen man nicht entrinnen kann. Das sind Ereignisse bei denen man, oft nur für einen kurzen Moment, entweder im Rampenlicht steht – „Stellen Sie sich mal kurz in ein paar Sätzen vor“ – oder verantwortlich für etwas ist – „Ruf‘ mal eben den Rettungswagen an“; „Würdest Du, wenn wir im Urlaub sind, meine Blumen gießen?“ – und die für die meisten Menschen kein Problem darstellen, für Menschen mit Ich-Schwäche aber eine oft unüberwindliche Hürde sind. Und da sie wissen, dass das im Grunde jeder kann, sind sie noch mehr geknickt und wissen, dass man sie für schwach und seltsam hält, was ungeheuer peinlich und schambesetzt ist und die Situation noch einmal verschlimmert.
Für einen ich-schwachen Menschen kann alles zur unüberwindlichen Hürde werden, oft umso schlimmer, je eher man von dem Ereignis weiß. Eine einfache Bitte kann einen wochenlang aus der Bahn werfen und das schon lange Zeit vor dem Eintritt des Ereignisses. Wird es schon nicht als Bagatelle gesehen – wie etwa Blumen gießen und Briefkasten lehren – so irritiert die Mitteilung schon deshalb, weil ein Mensch mit Ich-Schwäche nun Wochen Zeit hat sich auszumalen, was alles schief gehen kann und so bekommt das scheinbar so kleine Ereignis immer mehr Größe, Gewicht und Bedrohungspotential. Ich-schwache Menschen sind oft sehr begabt, wenn es darum geht, Ereignisse zu finden, die eintreten könnten und seien sie noch so absurd oder unwahrscheinlich, aber unwahrscheinlich ist eben ein Begriff, der bei Menschen mit Ich-Schwäche nicht zählt. Unwahrscheinlich heißt eben nicht, dass etwas mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann und Menschen mit Ich-Schwäche sind nur beruhigt, wenn genau das der Fall ist (wobei sie ja die ersten sein könnten, bei denen etwas schief geht).
Das hat etwas Kafkaeskes, jeder an sich vernünftige Schritt führt nur um so tiefer in den eigenen Abgrund. Es zeigt aber noch etwas, nämlich die Ichbezogenheit. Sie ist hier nicht großspurig, nicht dominant, nicht grandios, hat aber denselben Anspruch an eine perfekte Welt, bei der man schon vorher weiß, dass einem nachher nichts passieren wird und man nicht schuldig ist oder vernichtet wird. Hier freilich aus Angst und Not, eine oft generalisierte Angst, die ungeheuer schwer zu ertragen ist.
Was macht man normalerweise in so einer Situation, wenn man keine Ich-Schwäche hat? Man nimmt es erst mal gar nicht als Problem wahr. Vielleicht, wenn überhaupt, als lästig. Dann sagt man: „Klar, mach‘ ich“ und denkt nicht weiter drüber nach. Sollte es Probleme geben, geht man davon aus, dass man sich in dem Moment drum kümmern und schon eine Lösung finden wird und wenn tatsächlich alles schief gehen sollte, kann man andere um Hilfe bitten oder im äußersten Fall immer noch erzählen, wie das alles gewesen ist, ohne, dass man Angst hat, der andere würde einem den Kopf abreißen und man selbst könne sich nie wieder irgendwo blicken lassen.
Menschen mit Ich-Schwäche trauen sich all das nicht zu. Für sie ist es eine Hürde, für sie wird was schief gehen, sie haben immensen Stress und wissen, dass die Bitte um Hilfe: „Du, ich soll für die Nachbarin ein Paket annehmen, ich schaff‘ das einfach nicht, kannst Du mir helfen?“, bei anderen komisch ankommt. Menschen mit dieser passiven Seite der Ich-Schwäche wollen nicht im Mittelpunkt stehen, nichts hassen sie mehr, nichts löst mehr Panik in ihnen aus und doch bringen sie sich durch ihre besonderen – freilich aus der Not geborenen – Ansprüche immer wieder in die Situation, dass sie im Mittelpunkt stehen. Dann wird der Gang zur Toilette zum Auftritt und man hat ständig das Gefühl, der wichtigste Mensch im Raum zu sein, auf den sich alle Augen richten, wenn auch nicht der großartigste Mensch, sondern der linkischste und unfähigste und man ahnt, dass die anderen nur aus Takt nicht mit dem Finger auf einen zeigen, aber sobald sie privat sind, anfangen, sich das Maul über jeden noch so kleinen Fehltritt der wichtigsten Person im Raum zu zerreißen.
Wir gehen auf diesen wichtigen Punkt später ein, der ein Tor zur Heilung öffnen kann.