Wer sein Kindheitstrauma bewältigen möchte, wird früher oder später an den Punkt kommen, an dem er sich mit seinen Eltern auseinandersetzen muss. Viele hoffen auf eine Entschuldigung oder wenigstens eine Erklärung für das elterliche Verhalten, doch beides bleibt oft aus. Warum entschuldigen sich Eltern im Nachhinein selten für ihr Verhalten?

Schuld oder nicht Schuld, das ist hier die Frage

Eines ist klar: Jedes Elternteil handelt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Manche von uns, die inzwischen selbst Eltern sind, wissen, wie schwer es ist, sich immer korrekt zu verhalten. Doch der heutige Zeitgeist ist ein anderer. So einige entschuldigen sich gleich im Anschluss an die Auseinandersetzung beim Kind für ihr Fehlverhalten und versuchen zu erklären, warum sie gerade nerventechnisch am Limit sind. Unsere Eltern sind jedoch in einem anderen gesellschaftlichen Kontext groß geworden, in dem man den Kindern noch wesentlich anders begegnet ist als heutzutage.

Klar ist auch, dass missbräuchliche Verhaltensweisen wie körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch, emotionale Gewalt wie Bloßstellen, Drohen, Liebesentzug etc. eigentlich einer Entschuldigung bedürften und noch viel mehr. Aber wenn wir auf eine Entschuldigung hoffen und an den Eltern immer wieder zerren, in der Zuversicht, das Bewältigen vom Kindheitstrauma würde dadurch leichter werden, dann können wir nicht loslassen. Besser ist es, wenn wir lernen zu verzeihen, was nicht bedeutet, dass man vergessen muss. Je nachdem, was dir widerfahren ist, entscheidest du für dich, wie du zukünftig deine Beziehung zu deinen Eltern gestaltest.

Seelische Aufarbeitung ist kein Gerichtsverfahren

Justitia Statue mit Waage

Wer sein Trauma im Gespräch mit den Eltern bewältigen möchte, der wird nicht unbedingt Gerechtigkeit erfahren. © Tim Reckmann under cc

Sucht man im Erwachsenenalter das Gespräch mit den Eltern, tritt in den seltensten Fällen bei ihnen eine Entschuldigung oder Einsicht zutage. Viel eher ist es so, dass man auf Nichtverstehen und Reaktanz stößt. Es kann auch sein, dass die Eltern sich daran nicht erinnern können, weil sie sich vielleicht über die einschneidende Wichtigkeit der Situationen gar nicht bewusst sind. Eine Situation, die für ein Kind damals lebensprägend war, lief für die Erwachsenen eher so nebenbei ab. Dementsprechend haben sie viele Jahre danach keine Erinnerung daran. Manchmal kann es auch sein, dass man selbst es verzerrt erinnert, da das Ereignis weit zurückliegt und man es mit den Augen eines Kindes wahrgenommen hat. Was nicht heißt, dass es nicht wahr ist! Kinder erfassen durchaus wesentliche Inhalte folgerichtig, manchmal sogar besser als Erwachsene. Aber die Komplexität der Situation war eventuell eine andere.

Oder die Eltern gehen in den Selbstschutzmodus. Sie wehren ab, indem sie die Situation verlassen. Möglicherweise überschwappt dich als Reaktion auch eine Welle des Unmuts und der Verärgerung, nach der du dich mit den seelischen Verletzungen, die du mit dir herumträgst, noch einsamer fühlst als zuvor. In all diesen Fällen ist ein Gespräch mit den Eltern eher nachteilig als zuträglich für die eigene Genesung.

Kindheitstrauma bewältigen: Was zählt, bist du

Insgesamt geht es um dich und deine seelische Genesung. Du musst mit dir ins Reine kommen, indem du dein Kindheitstrauma bewältigen kannst. Eine seelische Aufarbeitung – gegebenenfalls im therapeutischen Kontext – ist kein Gerichtsverfahren, bei dem es um Schuld oder nicht Schuld geht.
Vielleicht hilft dir dieser Artikel dabei, um zu verstehen, warum deine Eltern sich mitunter gar nicht entschuldigen können.

Warum Eltern sich selten für Vergangenes entschuldigen

Es gibt einige Gründe, warum Eltern in Bezug auf ihr Verhalten nicht unbedingt eine Schuldeinsicht haben – eine Wiedergutmachung durch eine Entschuldigung der Eltern also nicht möglich ist.

Eltern haben andere Erziehungsnormen

Altes Foto mit Kindern in Badewanne aus Kriegszeiten

Eltern sind in einer anderen Zeit großgeworden und haben andere Erziehungsmaßstäbe. © rippchenmitkraut66 under cc

Wie schon erwähnt, sind unsere Eltern in einem anderen Zeitgeist großgeworden. Viele von ihnen wurden noch von ihren eigenen Eltern mit Schlägen bestraft, oder vom Lehrer etc. Von anderen Erwachsenen ausgeschimpft und bloßgestellt zu werden, war für viele von ihnen als Kinder normal. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine solche Behandlung nicht auch Spuren auf ihrer Seele hinterlassen hat.
So kommt es vor, dass nicht wenige Eltern glauben, es bereits besser gemacht zu haben als ihre eigenen Eltern. Oder sie vertreten für sich selbst die Meinung: Schläge haben mir auch nicht geschadet, manchmal müssen sie eben zur Erziehung sein. Auch hinter einer solchen Äußerung kann sich ein Selbstschutz verbergen. Andernfalls müssten sie sich eingestehen, dass sie selbst tiefgreifende Wunden davongetragen hätten. Zu einer solchen Einsicht ist nicht jeder bereit.

Die Gesellschaft war eine andere

Per Gesetz ist seit dem Jahr 2000 verboten, Kinder körperlich zu bestrafen. Seit dem Jahr 2000! Erst wenige Jahrzehnte zuvor, wurde die körperliche Züchtigung in Schulen verboten. Der gesellschaftliche Kontext, der unsere Eltern prägte, ist folglich ein gänzlich anderer. Erst in den vergangenen Jahren wurde öffentlichkeitswirksam immer mehr publik, wie sich eine gewaltfreie Erziehung auf Augenhöhe gestalten soll. Die Rechte der Kinder wurden gestärkt.
Unsere Eltern sind noch mit dem Glauben großgeworden, dass sich Ältere den Jüngeren gegenüber nicht rechtfertigen müssen. Die Erwachsenen haben immer Recht! Dass ein Kind in seinem unbescholtenen Blick auf die Welt und in seiner Reinheit, mit der es mit seinen Emotionen in Einklang steht, die Wahrheit sprechen könnte, war für die Erwachsenen damals undenkbar. Es war nicht wichtig, was die Kinder sagten. Sie liefen einfach so nebenher.

Außerdem haben manche Eltern selbst noch mit ihren Traumata aufgrund etwaiger Kriegserlebnisse in der Kindheit zu kämpfen. Damit verbunden sind Ängste, Depressionen, Ohnmachtserleben etc. Alles, was nach dem Krieg kommt, erscheint für sie weniger problematisch.

Das Schamgefühl ist zu stark

Eventuell können sich deine Eltern auch nicht für ihr früheres Fehlverhalten entschuldigen, weil ihr Schamgefühl sie andernfalls überwältigen würde. Scham ist ein starkes Gefühl. Manchmal merken wir nicht einmal, dass wir beschämt sind, weil wir sofort in die Abwehr gehen. Oftmals erscheint es einfacher, zu leugnen und zu verdrängen, als das Eingeständnis der eigenen Fehler zuzulassen. Dann müsste man nämlich in die Aktion gehen. Den Fehler für sich annehmen, aufarbeiten, sich erklären beziehungsweise rechtfertigen und Reue zeigen. Dieser Prozess wäre mit Selbstreflexion und Schmerz sowie weiteren unangenehmen Gefühlen verbunden, weshalb sich viele Eltern ihm nicht stellen wollen.

Eltern haben es anders in Erinnerung

Dieser Aspekt trifft auf jeden Menschen zu. Wir alle erinnern ungern Sachen, die uns in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen. Demzufolge neigen wir dazu, solche Sachen auszublenden. Eine familiäre Erinnerung, die Jahrzehnte zurückliegt, hat das Kind, die Mutter, der Vater, die Geschwister anders abgespeichert. Jeder hat seine Sicht der Dinge und bei jedem spielen individuelle kognitive Prozesse mit rein. Deshalb können wir es nur in der Art erinnern, wie wir es erinnern. Wir neigen dazu, zu verdrängen. Wir neigen zum Vergessen. Wir neigen dazu, entsprechend unseren angelernten Denkmustern beispielsweise Dinge eher Schwarz-Weiß zu sehen, persönlich zu nehmen etc. Nochmal: Das heißt nicht, dass das Geschehene nicht wahr ist, sondern es heißt lediglich, dass jeder es anders in Erinnerung hat.

Trauma entstehen durch Ohnmachtserleben

Ein großer und ein kleiner Ball vor grünem Hintergrund

Wenn Erwachsene ihr Trauma bewältigen, bemerken sie oft, dass ihr Erleben sich von der Sicht der Eltern unterscheidet. © Dean Hochman under cc

Hilfreich ist, sich bewusst zu machen, dass die Entstehung eines Traumas durch mehrere Faktoren mit bedingt ist. Einerseits sind die Umstände entscheidend, die ein Trauma auslösen können. Also das, was faktisch geschehen ist. Andererseits ist auch entscheidend, was das Geschehene in uns auslöst. Wie fühlen wir uns im Anschluss? Sind wir gegenüber dem Geschehenen ohnmächtig? Fühlen uns verlassen, hilflos etc. Als Kind fühlt man sich zwangsläufig so, denn Kinder sind nun einmal auf ihr Bezugssystem angewiesen. Sie brauchen ihre Eltern und die Gewissheit der Sicherheit in der Familie.

Eltern erinnern den Kontext ihrer Lebensumstände

Als unsere Eltern Kinder großzogen, hatten sie – ebenso wie wir – ihr Leben zu bewältigen, zu arbeiten etc. Demzufolge sehen die Eltern das Geschehene in einem ganz anderen Zusammenhang. Während wir als erwachsene Kinder damals verschiedene prägende Situationen als lebenseinschneidend für uns erlebten, erinnern die Eltern eher ihre gesamten Lebensumstände. Ihre Erinnerung an bestimmte Situationen ist in den Kontext ihrer vergangenen Lebensart, der einstigen Bewältigung des Alltags, den erlebten Anstrengungen eingebettet. Folglich können die Erinnerungen der Eltern und der Kinder gar nicht unbedingt gleich sein.

Trauma bewältigen durch Loslassen

Für dich als Erwachsener wartet die Aufgabe des Loslassens in Zusammenhang mit dem Prozess, bei dem du dein Trauma bewältigen möchtest. Es ist schwierig, vorwärts zu gehen, wenn man rückwärts schaut. Versuche, aus deiner Kindheit die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, warum du als Erwachsener bestimmte Probleme im Leben noch nicht angehen konntest, dann bemühe dich, loszulassen. Die Übernahme der seelischen Aufarbeitung liegt in deiner Verantwortung, die Bewältigung deines Lebens ebenso. Du wirst mehr Kraft und Energie erhalten, wenn du für dich die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit ruhen lässt. Denk daran: Vergeben bedeutet nicht Vergessen. Vergeben ist vor allem ein Geschenk an dich selbst. Alles Gute für dich!