sich umarmende Holzpuppen, schwarzweiß

Sorge und Mitgefühl sind beim empfindsamen Selbst ausgeprägt. © Jan Smith under cc

Wenn das empfindsame Selbst die Bühne betritt, geht es oft heiß her, weil es nicht selten im Zentrum hoch emotionaler Debatten steht, wie etwa bei den Kontroversen um Gender, Sexismus (die #metoo Debatte), den Klimawandel, Nationalismus und Kapitalismus, Täter und Opfer, sowie Fake News, um nur ein paar zu nennen. Wenn wir die Reihe der Weltbilder als eine Reise durch die hierarchische Entfaltung derselben verstehen, dann muss zuerst skizziert werden, was das empfindsame Selbst nun auszeichnet und einzig macht. Da ist einerseits der emotionale Gehalt. Das empfindsame Selbst nimmt Emotionen ernst, völlig zurecht.

Zugleich ist es eine intellektuell anspruchsvolle und tragische Geschichte, weil auch viele der besten Vertreter der Zunft einen aus ihrer Ideologie geborenen Schatten mitbringen, den sie selten durchdringen. Bewegen wir uns also langsam immer tiefer in das Thema hinein. Denn tatsächlich ist das empfindsame Selbst hoch komplex, im Kern sehr gut gemeint und in der Praxis oft ein riesiges Problem.

Das empfindsame Selbst

Das empfindsame Selbst ist geboren aus der Behauptung, dass es neben dem Wahren, auch noch das Gute und das Schöne gibt, was den Menschen ausstattet und zum eigentlichen Menschen macht. Das ist keine neumodische Erfindung, sondern wir finden diese Bereiche schon bei Platon. Es geht vor allem im zwischenmenschlichen Bereich nicht einfach nur um kühlen Funktionalismus und die Durchsetzung von Interessen. Es geht auch um Rücksicht, Empathie und Gleichberechtigung, oder ein Streben danach. Und darum, denen, die keine eigene Stimme haben, eine Stimme zu leihen, auch für sie zu kämpfen und zu argumentieren.

Wozu Argumente gut sind, darüber gibt es zwei sehr verschiedene Auffassungen. Für die einen sind Argumente nichts als Gerede: Reden kann man viel, doch wichtig ist, dass man was tut. Geredet wurde schon zu viel, das bringt nichts. Diametral entgegengesetzt ist die Auffassung, dass wir vor allem diskursive Wesen sind, die sich in einem metaphorischen ‚Raum der Gründe‘ befinden und bei denen das Geben und Nehmen/Verlangen von Gründen das ist, was sie wesentlich auszeichnet.

Richtiger ist die letzte Variante, vor allem, wenn man sie zu einer Sicht erweitert wird, in der Handlungen und Argumente keinen Gegensatz bilden, sondern sich ergänzen. Der Philosoph Robert Brandom hat ein dickes und anspruchsvolles Buch vorgelegt, das im Deutschen den Titel Expressive Vernunft trägt (im Original: Making it Explixit) und in dem er versucht, das theoretisch einzufangen, was wir praktisch im Alltag ohnehin machen und das ist: einander Begründungen geben.

Psychologisch erscheint der Gedanke keinesfalls weltfremd, wenn wir daran denken, dass Freud bei den Hypnoseexperimenten von Charcot, erlebte, wie Menschen auch dann noch erklären, dass sie etwas genauso gewollt hätten wie sie es taten und dies wortreich begründen, wenn gesichert ist, dass sie einem posthypnotischen Befehl folgen. Uns Menschen ist es extrem wichtig, für unser eigenes Verhalten rationale Gründe zu finden. Der Wunsch zu begründen, liegt also auch dann vor, wenn wir mit uns allein sind und wir wissen, dass auch unsere Selbstgespräche oft in dialogischer Form ablaufen. Aber nicht weil wir rationale Wesen wären, das ist zu unscharf.

Wir sind, so Brandom, normative Wesen, die Behauptungen aufstellen und wissen, dass sie diese einlösen müssen, entweder durch weitere Erklärungen oder Handlungen, die zu den Behauptungen passen. Aber nicht jedes Reden ist ein Argument und nicht alles, was man behauptet, wird eingelöst. Idealerweise schon, aber wir weichen mehr oder weniger weit von diesen Idealen ab. Wir bewegen uns in einem Spektrum zwischen dem Bemühen hohe Ideale zu erfüllen und dem, was man leeres Gerede nennt. Unsere Rede und die Tat sollte idealerweise nicht nur wahr, sondern auch wahrhaftig und gerecht sein.

Tiere, die in der Massentierhaltung ihr jämmerliches Dasein fristen, können nicht sagen, wie es ihnen geht. Man kann diesen lebenden, fühlenden und leidensfähigen, aber nicht diskursiven Wesen seine Stimme erheben. Das gilt nicht nur für Tiere, auch für kleine Kinder, demente Alte und manche Menschen, mit geistiger Behinderung. Sie alle können nicht mehr adäquat und noch seltener medienwirksam und geschliffen ausdrücken, was ihnen fehlt. Ein Herz für all diese fühlenden Wesen zu haben, auch ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen, die Vorteile zu erkennen, die ein Miteinander bietet, das und mehr sind die echten Einsichten, die das empfindsame Selbst gewinnt. Man spürt auch dann, wie es anderen geht, wenn sie es nicht sagen können. Dafür haben wir ein Sensorium, wir können Affekte lesen. Diese Fähigkeit ist zig mal experimentell nachgewiesen, wir müssen dafür auch nicht ein Buch über Affekttheorie studieren, es ist uns angeboren, die Spiegelneuronen sind die biologische Grundlage. Ein Erbe der Säugetierzeit, bei denen sich Affekte ausbildeten, vor allem, um die Brutpflege effektiver zu gestalten.

Doch allein ein großes Herz zu haben ist nicht, was die Ebene des empfindsamen Selbst ausmacht. Es ist nicht primär eine gefühlige Ebene, von der wir hier reden, sondern sie hat all die Stufen des Archaischen, Magischen, Mythisch-Rationalen und des wirklich Wissenschaftlich-Technischen integriert, verstanden und ein Stück weit überwunden. Das sind Menschen, die kognitiv in der Lage sind hochkomplexe Zusammenhänge zu erfassen und verschiedene Systeme gedanklich in Beziehung zu setzen. Die einfachste Beziehung zweier Systeme ist das einer Schnecke die vorwärts über ein Brett kriecht, während man gleichzeitig das Brett zurück zieht. Abhängig von der Geschwindigkeit mit der man zieht bewegt sich die Schnecke nun entweder langsamer vorwärts oder sogar insgesamt rückwärts. Das ist noch einfach. Aber wenn wir uns vorstellen, dass dieser Versuch in einem großen Lkw stattfindet, wird es komplizierter. Denn in welche Richtung bewegt sich die Schnecke nun? Aber eigentlich müssen wir noch berücksichtigen, dass sich der Lkw samt Autobahn und Erde ja ständig dreht, um die Sonne kreist, das ganze Sonnensystem am Rande unserer Spiralgalaxie in rasender Geschwindigkeiten um das Zentrum wirbelt und nichts im Universum still steht. Was ist nun die wahre Bewegung der Schnecke?