Mann mit Bart und Brille macht fragmentiertes Selfie

Dissoziationen könnten mehr sein, als ein pathologischer Zustand. © Jonathan Lidbeck under cc

Dissoziationen sind eine Art Notfallprogramm der Psyche, um mit Situationen umzugehen, die einen überfordern. Doch sie könnten viel mehr erklären.

Wir erleben unser Ich immer als Ganzes. Wenn wir wach sind, erleben wir uns als ganzes Ich, wenn wir träumen sind wir mit einem Traum-Ich identifiziert, aber nicht mit unserem Ich im Wachzustand, was sich sofort wieder ändert, wenn wir aufwachen.

Dieses Ganzheitserleben liegt sogar bei Menschen vor, die von den härtesten Formen dissoziativer Störungen betroffen sind, dem was man früher multiple Persönlichkeitsstörung nannte. Dabei kommen in einem Menschen mehrere mitunter äußerst verschiedene Persönlichkeiten im Wechsel zum Vorschein, was kurios wirkt, weil diese mitunter andere Charakterzüge haben, mit anderen Stimmen sprechen, andere Handschriften haben und dergleichen. Aber in Vordergrund ist nur jeweils eine der Subpersönlichkeiten.

Wodurch entstehen Dissoziationen?

Wenn wir in Situationen kommen, die uns extrem überfordern, bis zu traumatischen Situationen, dann hat die Psyche die geniale Möglichkeit auszusteigen. Ein Notfallprogramm, um eine überwältigende Situation psychisch zu überleben. Was passiert dabei? Der überfordernde Bereich wird sozusagen abgeschaltet oder ausgeschnitten, von der Normalpersönlichkeit getrennt und das so gut, dass er manchmal für das Normalbewusstsein buchstäblich verschwunden ist.

So übersteht man schwere Schicksalsschläge, Formen von schwerem Missbrauch, sie existieren in der eigenen Biografie einfach nicht. Irgendwo im Unbewussten, im Tresor in einem Kellerraum, da sind sie abgelegt, aber sie spielen im Leben erst mal keine Rolle, das geht vergleichsweise normal weiter.

Doch manche Erlebnisse im Alltag sind in der Lage diesen Tresor für kurze Zeit zu öffnen, weil bestimmte Reize, wie Geräusche, Gerüche, Engesituationen sofort die ganze emotionale Wucht der Traumatisierung hervorbringen, die sogenannten Flashbacks. Man kann sie therapieren und langsam lernen, immer stabiler zu werden, sowie ein Notfallkonzept erarbeiten.

Retraumatisierungen können aber auch in Psychotherapien auftreten, gerade wenn die Ereignisse besonders gut verschlossen sind. Da Dissoziationen unbewusste Prozesse sind, von denen man gerade nichts weiß und es die Aufgabe vieler Therapien ist, im Keller zu wühlen, kann eben auch dadurch der Tresor geöffnet werden, da ist man dann wenigstens gleich an der richtigen Stelle.

Bei chronischen Fällen von sexualisierter und anderer Gewalt, aber auch bei Schizophrenie kommt es zur Ausbildung mehrerer Subpersönlichkeiten in einem Körper. Oft haben sie die Funktion Konflikte zu vermeiden. Konfrontiert man einen Menschen mit seinen Widersprüchen in Aussagen, Verhalten oder beidem, erscheint eine andere Persönlichkeit. Auch diese kann man psychotherapeutisch zu einem Ich integrieren, das all die gelebten widersprüchlichen Aspekte integrieren kann, es mag seine Zeit dauern, geht aber in den meisten Fällen.

Dieses Umschalten zu anderen Persönlichkeiten ist nicht gespielt, es ist real. Die betroffenen Menschen erleben sich, auch wenn die Psyche in 2, 12 oder 20 Einzelpersönlichkeiten zerfällt immer als ganze Persönlichkeit, die gerade im Vordergrund ist und auch von den anderen Persönlichkeiten weiß, sich aber im Moment ihres Erscheinens nur mit dieser einen Persönlichkeit identifiziert. Das ist sehr wichtig für das was nun folgt.

Die eigene Welt der Dissoziation

Manchmal könnte man denken, ob das nicht doch gespielt ist, es kann doch eigentlich nicht sein. Warum sind wir skeptisch? Weil wir das selbst selten erleben und es auch in unserem Umfeld selten vorkommt. Wir haben die Idee, dass es einen Körper gibt, zu dem genau ein Ich gehört, das sich mit diesem Körper, sowie mit Beziehungen, Einstellungen und Werten identifiziert.

Doch es gibt interessante Untersuchungen aus dem fMRT, die populären Brainscans, die erstaunliche Ergebnisse bei einem Menschen mit multiplen Persönlichkeiten hervorbrachten. Einige der Subpersönlichkeiten dieses Menschen waren blind, andere konnten jedoch sehen. Kann man das faken? Vielleicht, vielleicht nicht, aber im Brainscan sah man, dass in dem Moment, wo die blinden Persönlichkeiten auftraten, im Gehirn die Areale, die für die Verarbeitung von visuellen Reizen zuständig sind, sozusagen abgeschaltet waren. Sie arbeiteten nicht. Als jedoch die sehenden Persönlichkeiten die Regie übernahmen, arbeiteten diese Hirnbereiche ganz normal.[1]

Ist unser Verhalten also von dem anhängig, was unser Hirn vorgibt? Offensichtlich nicht, denn es kann ja beides, in diesem Fall ein und dasselbe Gehirn.

Weniger spektakulär, aber weitaus interessanter für unsere Schlussfolgerungen sind die Träume von Menschen mit multiplen Persönlichkeiten. Diese Persönlichkeiten träumen denselben Traum, aber aus ihrer jeweiligen Perspektive. Sie können mit den anderen Subpersönlichkeiten im Traum interagieren, aber erzählen ihre Traumerlebnisse jeweils aus ihrer Sicht. Die einen eben aus der eines blinden Menschen oder welche physischen und psychischen Eigenschaften die jeweiligen Subpersönlichkeiten auch gerade haben.[2]

Wie gesagt, man kann sie therapieren, die Subpersönlichkeiten in ein Ich integrieren, das sich dann noch an die dissoziativen Erlebnisse erinnert, denn die Einzelpersonen gehören oder gehörten vielleicht immer schon zu diesem einen Ich. Nun folgt ein spektakulärer Schritt.

Eine neue Sicht auf die Welt

Bernardo Kastrup, der die philosophische Richtung des analytischen Essentialismus vertritt sagt, dass das Universum nicht aus Materie besteht, die dann irgendwie Bewusstsein formt, sondern, dass das ganze Universum Bewusstsein ist. Diese Idee ist keineswegs neu, nur haben wir uns die letzten knapp 250 Jahre dem Materialismus oder Physikalismus verschrieben.

Herausgekommen ist eine oft beschriebene Weltsicht, die lange Zeit große Erfolge verzeichnen konnte, deren erklärende Kraft aber seit 100 Jahren spürbar nachlässt und sich längst in einem Rückzugsgefecht befindet und sich gezwungen sieht, eine Hilfshypothese an die nächste zu nageln, damit man irgendwie noch retten kann, was im Grunde nicht mehr zu retten ist, der Materialismus oder Physikalismus und weil dieser intergraler Bestandteil des Naturalismus ist, muss auch hier kräftig umgebaut werden.

Kastrup sieht sich aber weiter als ein Unterstützer der Wissenschaft, die er vom metaphysischen Ballast des Materialismus/Physikalismus befreien will. Kritik am Weltbild des Naturalismus kommt schon lange aus vielen Ecken – auch von uns –, aber die Taktik bestand über lange Jahre darin, die Kritik einfach als ‚unwissenschaftlich‘ zu bezeichnen und zu diskreditieren. Als dies nicht mehr klappte, wurden die Daumenschrauben angezogen und zum Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit noch der des Rechtsextremismus hinzugefügt, hier schon deutlich ideologisch motiviert, wir haben das in Die politisch-ideologische Fehldeutung analysiert und in Psychische Heilung aus der Sicht zweier ungleicher Geschwister beispielhaft dargestellt.

Kastrup wählt seine Beispiele um gegen den Materialismus zu argumentieren alle aus der Wissenschaft selbst. Auch er sagt, dass die Darstellung hinten und vorne nicht aufgeht, aber was er anbietet ist mehr als nur Kritik, es sind die Grundzüge eines neuen Weltbildes. Es wird so lange am alten festgehalten, so absurd es auch sein mag, bis ein neues vorliegt und dessen Konturen treten inzwischen immer klarer zum Vorschein.

Das einzelne Ich im großen Bewusstsein

Die Widersprüche des Physikalismus sind enorm, wir glauben sie nur, weil wir sie glauben wollen und wir wollen es, weil wir noch kein anderes Weltbild zur Verfügung haben. Bernardo Kastrup macht uns aber ein solches Angebot und da kommen nun wieder die Dissoziationen ins Spiel.

Wenn das Universum Bewusstsein ist, also ein einziges großes Bewusstsein, warum gibt es dann eigentlich einzelne Personen und Iche? Warum identifiziert man sich nicht mit dem anderen oder gleich mit dem großen Ganzen? Warum hat man kein kosmisches Bewusstsein? Die Antwort ist, dass das was wir als Ich erleben nichts anderes als Dissoziationen des großen Bewusstseins sind.

So wie sich einzelne Subpersönlichkeiten eines dissoziierten Ichs im Traum begegnen und miteinander kommunizieren und sich anfassen können, so sind wir, die wir uns als Ich erleben, Teile eines kosmischen Traums, eine kosmischen Dissoziation. Dissoziiert heißt hier mit einer eigenen Innenwelt ausgestattet zu sein. Innerhalb dieser Innenwelt erscheint anderes dissoziiertes und undissoziiertes Bewusstsein als materielle Außenwelt. Leben ist die Erscheinungsform der Dissoziation.

Wir können die Analogie weiter denken. So wie man dissoziative Störungen therapieren kann und die Erinnerungen der Dissoziation im integrierten Ich erhalten bleiben, so können die Dissoziationen des Bewusstseinsganzen auch vergehen, wenn die Dissoziation beendet ist und man stirbt. Oder der Ichtod eintritt. Denn auch das gehört dazu, die Grenzen der Dissoziation sind nicht völlig undurchlässig.

Empirische Daten sprechen dafür, dass die Durchlässigkeit der Grenze größer wird, wenn die Hirnaktivität sinkt. Das bedeutet, dass die Erfahrung des erlebenden Subjekts reicher und intensiver wird, wenn die Hirnaktivität reduziert ist. Ist sie hoch, erlebt man weniger. Das ist kontraintuitiv aber es gilt für viele Bereiche. Das Ich öffnet dann möglicherweise die Grenze zum großen Ganzen, das es immer war. Welche dramatischen Folgen das für den Tod hätte, haben wir im letzten Beitrag beschrieben. Wir werden das weiter vertiefen und von vielen Seiten beleuchten.

Quellen:

  • [1] https://www.essentiafoundation.org/ef-keytoe-analytic-idealism-course/
  • [2] ebd.