Der Narzissmus in der Gesellschaft ist ein Problem, was als solches meistens nicht erkannt wird, weil wir nicht sehen, dass eine narzisstische Pathologie den roten Faden zwischen vielen Entwicklungen darstellt, die wir heute als Einzelphänomene erleben und kritisieren.
Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da beschrieben wir hier die Verunsicherung als das aktuelle Grundgefühl der Gesellschaft und der Befund hat an Aktualität nichts verloren. Das Gefühl einer Spannung ist geblieben und die Angst vor einer drohenden Spaltung der Gesellschaft sogar noch dazu gekommen.
Versuchen wir also nun, die Bereiche zusammen zu bringen und den inneren Zusammenhang zu erklären.
Innerpsychisch und gesellschaftlich
Manche Phänomene, wie der Narzissmus in der Liebe, der Perfektionismus im privaten und beruflichen Bereich, sowie der Wegfall des Ödipuskomplexes haben private und gesellschaftliche Folgen und wenn die Betonung auch manchmal mehr auf der einen oder anderen Seite liegt, so gibt es doch breite Schnittmengen, deren innerer Zusammenhang sich recht offensichtlich ergibt.
Weniger offensichtlich ist jedoch der Zusammenhang zwischen vermeintlich rein gesellschaftlichen Themen, wie dem Wirtschaftssystem, mit dem wir zu tun haben und der Psyche, unserer Innerlichkeit.
Der Neoliberalismus
Einer der Hauptangeklagten derzeit ist der Neoliberalismus. Es wäre ein eigenes Thema, der Frage nachzugehen ob der gegenwärtige Neoliberalismus wirklich so gemeint war, oder nicht und wie immer wird man unterschiedliche Stimmen hören können. Bleiben wir bei der allgemeinen Kritik und dem Verständnis des Begriffs. Der Neoliberalismus ist eine Zuspitzung des Kapitalismus. Seine Vertreter haben einige Versprechungen gemacht, die sie nicht oder nur unzureichend haben einlösen können.
Grob gesagt, war die Ansage der neoliberalen Vertreter: Bahn frei für die Wirtschaft. Lasst uns gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schaffen, „belästigen“ wir die wirtschaftlichen Entwicklungen und die des Finanzmarktes nicht mit Gesetzen und Bürokratie und dann wird alles gut. Der Markt wird dafür sorgen, dass schon bald mehr Gerechtigkeit und Zufriedenheit herrschen wird. „Sozial ist, was Arbeit schafft“, ist ein markiger Slogan dieser Denkweise.
Die Versprechungen wurden nicht eingehalten. Der Markt bekam weitgehend freie Hand, was 2007 zu einer knackigen Finanzkrise führte und in unschöner Reihe zu verschiedenen Skandalen und Manipulationen im Wirtschaftsbereich führten, die Wahlweise auf Gier oder den Druck um jeden Preis gute Zahlen präsentieren zu müssen zurück gehen und das bis in Bereiche der städtischen Infrastruktur und unseres Gesundheitssystems. Man sieht sich, mit dem Gefühl der Ohnmacht einem Gegner gegenüber, gegen den kein Kraut gewachsen scheint. Die Lösung aus dem linken Lager ist seit ewigen Zeiten immer die Revolution, doch wo man sie versuchte, muss uns das Ergebnis zu oft entsetzen.
Die kritischen Beschreibungen der Folgen des Neoliberalismus, wie eine Leistungsbereitschaft bis zur Selbstausbeutung, neudeutsch „Burnout“ oder eine Entsolidarisierung der gesellschaftlichen Klassen und die Angst der schrumpfenden Mittelschicht sind alle treffend, doch es wird viel zu selten der Blick auf die Psyche, die Struktur unserer Innenwelt gelegt. Hier wird Potential verschenkt, weil man hier die Lösung einfach nicht vermutet. Was soll eine psychische Korrektur an unserem Wirtschaftssystem ändern?
Aber stellen wir die Frage anders: Warum kann ein offensichtlich kaltes und herzloses System der Selbstausbeutung so gut in unserer Gesellschaft greifen? Wieso winken wir nicht ab und zeigen denen, die so etwas von uns fordern eine Vogel, sondern machen, bis zur völligen Erschöpfung mit? Was ist bloß mit uns passiert?
Rettet unsere Werte!
In Dresden gehen besorgte Bürger Montags spazieren um unsere Werte zu retten. Auch an weiteren mehr oder weniger passenden Stellen wird dazu aufgerufen unsere Werte zu verteidigen. Das ist soweit in Ordnung, weil ein Teil der Ich-Identität auch die Identifikation mit den Normen und Werten der Gesellschaft, aus der man stammt, ausmacht. Verwirrend ist, dass so gut wie niemand sagt, welche Werte da eigentlich gemeint sind. Meistens kommt dann raus, irgendwas mit Grundgesetz und Menschlichkeit, doch die Prüfung, ob die, die am lautesten schreien sich selbst an das halten, was sie da fordern (oder es überhaupt wirklich kennen) fällt dann entweder flach oder eher peinlich aus.
Es ist in meinen Augen fundamental wichtig über Werte zu diskutieren und diese auch zu schützen, aber erst mal muss ausgehandelt werden, um welche Werte es überhaupt gehen soll. Wie wollen wir zukünftig alle zusammen leben, was geht, was geht nicht, was geht gar nicht? Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln lassen diese Frage nur umso dringender werden.
Die Antwort ist, in nicht wenigen Fällen, dass wir keine Werte mehr haben. Oder anders ausgedrückt, ziemlich viele, verwirrend viele. Irgendwie geht alles bei uns und das finden wir ganz nett, tolerant und liberal, aber die Kehrseite ist, dass sich jeder seine Lieblingsideen aus dem reichen Gesamtpaket herausgreifen kann, es sind ja für jeden beliebigen Lebensansatz die entsprechenden Werte vorhanden. Man kann leben, wie man will, irgendwo findet man immer jemanden, der einem erklärt, warum der eigene Lebensansatz ganz wunderbar ist, für alles gibt es den entsprechenden Baukasten mit Versatzstücken, Praktiken, Anweisungen, Normen und Werten.
Aber, Moment mal. Ist da nicht eigentlich was auf den Kopf gestellt? Ist es wirklich so, dass Normen und Werte primär dafür da sind, sich nach meinem Leben zu richten? Wir finden Normen und Werte heute oft total chic, hip und süß, solange wir uns selbst nicht dran halten müssen. Man kann heute überzeugte Veganerin sein oder Katholik, Atheist oder Feministin, gegen Kapitalismus oder dafür. Ökologisch bewegt oder esoterisch, Demokrat oder Postdemokrat, irgendwie geht alles … warum eigentlich?
Weil unsere Werte in einem nicht unerheblichen Ausmaß ihre Verbindlichkeit verloren haben. Sie gelten, wenn man Spaß hat sich drauf festzulegen, wenn nicht, wechselt man sie aus, wirft sie weg; wie so vieles in unserer Wegwerfgesellschaft. Doch Normen und Werte, die Kraft haben sollen, haben es nur dann, wenn sie für alle verpflichtend sind. Wenn man sie nach Belieben an- und ausknipsen kann, sind die Werte nichts wert.
Werte und der Narzissmus in der Gesellschaft
Einige Narzissten haben keine Lust sich auf Werte festlegen zu lassen. Eines ihrer Grundgefühle ist, dass verbindliche Normen und Werte eine Frechheit und eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit darstellen. Das stimmt in gewisser Weise, aber sie haben keinerlei Probleme damit, wenn ihr eigener Lebenswandel die Freiheit anderer Menschen einschränkt. Das definiert Narzissten, dass sie das kalt lässt und sich stets etwas wichtiger finden, als den Rest der Welt.
In dieser weitgehend wert- und verpflichtungsfreien Welt bleibt dann oft nur noch ein übersteigerter Idealismus, der irgendwas zum wichtigsten Thema der Welt erklärt und Menschen in gut und böse unterteilt, weil sie entweder vegan essen oder nicht. Alternativ bleibt die Welt als große, ziemlich schnell langweilige Spielwiese in der jeder tun und lassen kann, was er will und es als Toleranz verkauft wird, wenn sich niemand für den anderen interessiert. Weltschmerz, Sinnlosigkeitsgefühle, chronische Langeweile und die beständige Sorge um das eigene Ansehen und/oder die eigene Gesundheit sind Resultate und die sind nicht selten in unserer Zeit.
Eine andere Form des Narzissmus stellt der lauwarme und stromlinienförmige Opportunismus dar. Still und duldsam macht man alles mit, was gefordert wird und wird zum kritiklosen Pflichterfüller und mitunter, wenn man Anerkennung bekommt, zum Selbstausbeuter. Man tut halt niemanden weh, tut wie befohlen (still oder offen), verzichtet auf eigene Meinungen, Standpunkte und Widerspruch. Scheinbar das Kontrastprogramm zum Narzissten der sich nichts vorschreiben lässt, doch es gibt ein verbindendes Element.
Oberflächlichkeit
Der opportunistische Narzisst ist an den Werten, die er da erfüllt, so wenig interessiert, wie der konfrontative und präkonventionelle Narzisst. Beide wollen ihre Komfortzone nicht verlassen, der eine will sich nichts vorschreiben lassen, nie und von niemandem, dem anderen ist es prinzipiell egal wem er da nachläuft und welche Überzeugungen er vertritt, denn er hat eigentlich gar keine. Er könnte auch Morgen das Gegenteil vertreten, es juckt ihn nicht, weil er sich keine eigene Meinung leistet und nur daran interessiert ist reibungslos durchs Leben zu kommen. Da ist es von Vorteil, wenn man eigentlich für und gegen gar nichts steht und sich eben auf nichts verpflichtet, was man nicht gesagt bekommt. Das ist äußerst bequem, denn verantwortlich sind dann die anderen, man selbst hat ja nur seine Pflicht getan. Das mitunter mit Volldampf, denn ansonsten gibt es oft nicht viel, wofür sich ein Mensch, der diese Einstellung hat, einsetzt, so richtig viel interessiert ihn aus eigenem Antrieb auch nicht.
Ein Ringen mit sich, mit eigenen Überzeugungen und Werten kommt in einem solchen Leben nicht vor, so wenig wie beim konfrontativen Narzissten. Auch der muss mit nichts ringen, sondern lebt in der Überzeugung, immer recht zu haben und besonders wichtig zu sein. Da kann man anderen die Welt und ihre Fehler erklären, wirklich diskutieren – was voraussetzt, den anderen ernst zu nehmen – muss man nicht.
Pluralismus
Der Pluralismus ist die an sich reife Überzeugung, dass die Vielfalt der Meinungen und Lebensansätze eine konstruktive Bereicherung unseres Lebens darstellt und, dass „jeder nach seiner Façon selig werden“ soll. Doch Friedrich II. von Preußen, von dem dieses Zitat stammt, wollte damit bezwecken, dass man einander toleriert und respektiert und das ist längst nicht bei allem, was sich selbst als Pluralismus bezeichnet gegeben. Ignoranz und Desinteresse, also, dass einem der andere im Grunde vollkommen egal ist, tarnen sich heute oft hinter Begriffen wie Toleranz und Offenheit, schon weil das besser klingt und wir uns eben dran gewöhnt haben, nicht nachzufragen, wie die Begriffe denn nun gemeint sind. Wer Näheres wissen will ist am Anderen eigentlich wirklich interessiert, gilt in einer von Narzissmus und Oberflächlichkeit durchdrungenen Gesellschaft aber eher als Spaßbremse und Spielverderber.
So werden als Pluralismus, Mulitkulturalismus, Toleranz und Offenheit heute Einstellungen verkauft, die nett klingen, oft ohne es zu sein. Und, es sind Einstellungen, die keinen gesellschaftlichen Schutz bieten – auch die Gesellschaft hat eine Art Immunsystem – und selbst schutzlos sind.
Was läuft da falsch?
Wenn alles irgendwie gleich gut ist und es keine Perspektive gibt, die einer anderen gegenüber bevorzugt werden sollte, dann ist diese Einstellung ein Einfallstor für buchstäblich jedes Weltbild, jede Ideologie und sei sie noch so ekelhaft. Wenn man einzig die Perspektive des anderen einnimmt, hat dann nicht irgendwie jeder recht? Kann man den anderen nicht tatsächlich verstehen, wenn man es nur versucht und sich in seine Lage versetzt? Ja, kann man. Und psychologisch Geschulte sogar in besonderer Weise. Aber das allein ist nicht die Frage, sondern die lautet, ob der andere denn auch – mit der gleichen Anstrengung – gewillt ist, unsere oder meine Einstellung zu verstehen.
Pluralismus ist ein Spiel auf Gegenseitigkeit oder es funktioniert nicht. Linksliberale, Pluralisten und andere, die in etwa diese Einstellung vertreten, erkennen das durchaus. Sie wollen diese Einstellung auch unbedingt unterstützen und tragischerweise versagen sie hier oftmals komplett.
Wenn Pluralismus das Ziel ist, dann, so die Überzeugung, sollte man dieses Ziel möglichst früh anpeilen. Häufig idealisiert man hier die unverdorbene Natur und das, was ihr am nächsten kommt, die Kinder. Kinder, so heißt es, sind noch unverbildet, sie sind offen und haben keinerlei Vorurteile. Das mag sein oder auch nicht („Kinder können grausam sein“, lautet das andere Extrem), in jedem Fall können kleine Kinder noch keine Klassen bilden und Konzepte erkennen. Ihre Offenheit ist zu einen guten Teil einer Unfähigkeit geschuldet, was an sich nicht schlimm ist, dafür sind es eben Kinder, aber es besteht kein Grund dieses Unvermögen zu verherrlichen. Pluralismus wird erst dann interessant und überhaupt er ist ein echter Pluralismus, wo man Unterschiede erkennt und sie dann – zu einem kleineren oder größeren Teil – akzeptiert. Alles andere ist, auch im übertragenen Sinn, Kindergarten.
Wir können Klassen bilden und Konzepte verstehen, wir haben die Fähigkeit Urteile zu bilden, auch Vorurteile. Es bringt nichts, so zu tun, als sei dies nicht so. Aber manche von uns können ihre Vorurteile auch zurückstellen und den Einzelfall prüfen oder die Herkunft ihrer Urteile erkennen und einschätzen.
Sich selbst zu verpflichten, auf Aussagen, auf ein Wertesystem war mal eine Auszeichnung. Es war ein Zeichen des Stolzes und des Respekts vor sich selbst. Zwar hat man möglicherweise den äußeren Autoritäten gehorcht, doch noch wichtiger waren einem die inneren Werte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt der vielleicht großartigste Satz unseres Grundgesetzes, hier treffen wir auf ihre Herkunft, ihren Kern. Die Würde, die man hinterher allen anderen zuschriebt, muss man erst mal finden, man findet sie, in der Selbstverpflichtung. Im Willen, sich über die inneren und äußeren Zwänge zu erheben und eine innere Überzeugung zu kultivieren.[1]
In nicht wenigen Bereichen befinden wir uns ziemlich genau am anderen Ende dieser Haltung und lassen uns auf gar nichts (oder Beliebiges) festlegen. Wir verkaufen unseren Stolz und unsere Überzeugungen und unsere Menschlichkeit, wenn wir für nichts mehr stehen. Das läuft falsch!
Die Perspektive der Entwicklungspsychologie
Der Gedanke, eine im besten und nicht im oberflächlichsten Sinne pluralistische Gesellschaft anzustreben, ist nicht verkehrt, sondern gut und richtig. Die gesellschaftliche Linke, die sich das zum größeren Teil auf die Fahnen geschrieben hat, hat keinen Sinn dafür, dass Entwicklung eine stufenweiser Prozess ist und man die Stufen nicht überspringen kann.
Einen Teil des Weges macht aus, dass man lernt, zu gehorchen und sich an Regeln und Wertesysteme anzupassen. Das klingt für unsere Ohren hoch unattraktiv, aber vergessen wir nicht, es ist nur ein Teil des Weges. Und ein anderer Ausdruck für Gehorsam ist eben, sich auf etwas verpflichten zu lassen. Es heißt Verantwortung zu übernehmen. Den Kindern zuzutrauen, die Tür abzuschließen, eine Kleinigkeit einkaufen zu gehen, sie immer mehr am Leben zu beteiligen, ihnen das Vertrauen zu schenken, dass sie das hinbekommen. Wir sagen ihnen, wie es geht und dann lässt man sie machen.
Regeln sind dazu da, dass sie interpretiert werden und irgendwann gibt es andere Interpretationen, neue Wege und Ansätze und es ist gut so. Der bloße Gehorsam geht im besten Fall in die Fähigkeit über, die Regeln, Normen und Anforderung zu prüfen, zu kritisieren, zu durchdenken und infrage zu stellen. Doch von vornherein auf alle Regeln zu verzichten und sich auf nichts festzulegen, bedeutet, nicht in der Lage zu sein Verantwortung zu übernehmen. Ich würde mir nicht die Welt von jemandem erklären lassen, der es nicht schafft eine Zimmerpflanze durchzubringen oder alleine einkaufen zu gehen.
Narzissmus in der Gesellschaft und der Ödipuskomplex
Vielleicht haben Sie bisher den Ödipuskomplex vermisst? Der kommt jetzt ins Spiel. Wir sahen in der letzten Folge, dass die väterliche Autorität für das Kind belastend ist, einengend, aber eben auch verbindlich. Der Vater ist die Autorität für das Kind, an ihm muss das Kind sich abarbeiten und bewähren, mit ihm muss es all die inneren und äußeren Kämpfe ausfechten. Das drückt und es schützt. Es schützt vor den Eindrücken und Einflüsterungen all der anderen Stimmen, die auch weiter gehört werden, aber nur im dominierenden Kontext der väterlichen Interpretation. Ist das gut oder schlecht? Wir scheinen zum ersten Mal in der Geschichte den Ödipuskomplex, dem unterstellt wird ein universaler menschlicher Konflikt zu sein, ein wenig ausgehebelt zu haben und es scheint Gründe dafür zu geben, dass uns das nicht sonderlich gut bekommen ist.
Die Einflüsterungen (oder Anregungen), die nun ungeschützt von allen Seiten auf uns einprasseln, scheinen einen kleinen Teil der Menschen sehr bereichert zu haben, aber möglicherweise haben sie einen größeren Teil verwirrt und verunsichert. Sollte das tatsächlich der Fall sein – und das wäre zu diskutieren – dann wäre eine logische Folge, entweder die ödipale Konfliktsituation wieder zu stärken oder andere Orientierung spendende Strukturen anzubieten oder auszubauen. Das wären Religion, Ideologie und Bürokratie. Alle diese Strukturen haben das Potential gut ud hilfreich zu sein, aber sie alle können auch entarten und das ist das Problem vor dem wir stehen.
Es ist durchaus möglich, dass ein moderates Patriarchat ein größerer Teil der Lösung ist, als bisher angenommen. Jedenfalls scheint eine Entwertung der Vaterrolle und des Mannes mit gravierenden Problemen behaftet zu sein. Zum einen die, die wir im letzten Beitrag vorstellten, zum anderen scheinen Strukturen, die die eigenen Werte und Normen stark hinterfragen und zuweilen entwerten, ein Einfallstor für Beliebigkeiten und narzisstische Pathologien in der Bevölkerung zu sein. Das macht insofern Sinn, als Kriterien der psychischen Normalität, die Kernberg auf der Basis bedeutender anderer Autoren darstellt, auch das Wertesystem, Über-Ich oder Gewissen umfasst:
„Ein dritter Aspekt der normalen Persönlichkeit zeigt sich in einem ausgebildeten und integrierten Über-Ich mit internalisiertem Wertesystem. Dieser Wertekodex muss stabil und auf das Individuum zugeschnitten sein und darf nicht zu stark von unbewussten kindlichen Verboten beeinflusst werden. Eine solche normale Über-Ich-Struktur zeigt sich in dem Gefühl für persönliche Verantwortung und in der Fähigkeit zu realistischer Selbstkritik. Ebenso zählen dazu persönliche Integrität und eine gewisse Flexibilität beim Umgang mit den ethischen Aspekten von Entscheidungen. Ein normal ausgebildetes Über-Ich fühlt sich den Standards, Werten und Idealen seiner Kultur verpflichtet und unterstützt die oben ausgeführten Ich-Funktionen: Vertrauen entwickeln, Gegenseitigkeit anerkennen und tiefgehende Beziehungen zu anderen aufbauen.“[2]
Man kann kritisieren, dass all dies letztlich nur zirkulär ist, aber dann muss man auch konfrontieren, dass uns mehr als willkürliche Setzungen in letzter Konsequenz bisher noch nicht geglückt sind. Wie haben bislang versucht Regeln des guten und richtigen Lebens aus der religiösen Sphäre, aus dem Reich der Natur und dem der Vernunft abzuleiten. Nichts davon konnte alle überzeugen, das geringste Übel scheint zu sein, die Gründe, die man hat, gut und für alle nachvollziehbar zu erklären.
Zum anderen sorgt Verständnis für alle Positionen nicht dafür, dass diejenigen die ich verstehe und toleriere auch mich verstehen und tolerieren. Ins Allgemeine und Politische ausgedehnt, machte Jaques Derrida, der postmoderne Philosoph, auf diesen Zusammenhang aufmerksam:
„In ihrer allgemeinen Form gründet die Aporie, was diesen Punkt angeht, in der Freiheit selbst, in dem Spielraum im Demokratiebegriff: Muss eine Demokratie diejenigen in Freiheit lassen und ihnen die Möglichkeit der Machtausübung belassen, die im Namen der Demokratie und der Mehrheit, die sie voraussichtlich dafür zusammenbringen werden, die demokratischen Freiheiten anzutasten und der demokratischen Freiheit ein Ende zu setzen drohen?“[3]
Einwanderer und Flüchtlinge? Die unerwartete Pointe
Die Ereignisse der Silversternacht in Köln werden kontrovers diskutiert, sie stellen in meinen Augen eine Zäsur dar. Ich hatte mir die ohnehin nicht leichte Aufgabe der Integration anders gewünscht und vorgestellt, aber es bringt meines Erachtens nichts ideologisch an das Thema heranzugehen, sondern man muss die Schwierigkeiten bei der Integration und die Übergriffe offen benennen.
Die mitunter verständlich hochgekochte Stimmung sollte wieder auf ein normales Maß reduziert werden und der Eindruck, dass wir einander etwas zu sagen haben, wieder in den Vordergrund treten. Denn genau das haben wir. Wir müssen nur präzise hinschauen und versuchen, die Polemik zu unterlassen. Insofern gilt es zwei Dinge zu trennen: Die Probleme eines harten Patriarchats oder, wie im letzten Beitrag der Reihe angeklungen, sogar eine sadistische Einstellung, braucht kein Mensch. Willkür, Sadismus, Machtausübung aus Gewohnheitsrecht, nein, das haben wir überwunden und ich glaube so erfolgreich, dass es etwas ist, was wir anderen guten Gewissens erklären können und es lohnt sich, unsere Perspektive anzuhören.
Doch möglicherweise sind wir tatsächlich in unserer Angst und unserer Skepsis gegenüber Autoritäten, ordnenden Strukturen, Vaterfiguren und dem realen Vater zu weit gegangen. Wir finden es gut und richtig vor nichts und niemandem Respekt zu haben erst recht nicht vor einer „natürlichen“ Autorität (die eigentlich eine kulturell erworbene ist), wie vor älteren Menschen, manchmal nicht einmal vor unseren Eltern oder Großeltern. Das ist für Mitglieder eher patriarchal oder paternalistisch geprägter Kulturen extrem schwer zu verstehen und vermutlich auch extrem schwer zu ertragen. Möglicherweise rührt es sogar an unseren eigenen kulturellen Wurzeln, wenn Larry Siedentops Erzählung „Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt“ stimmt.
Die Pointe wäre, dass wir trotz aller Probleme, von denen wir inzwischen täglich hören, doch gute Gründe hätten einander anzuhören. Die zurecht geforderte Integration könnte ein Gewinn für beide Seiten sein und kein einseitiger Vortrag über das „richtige Leben“ von „uns“, an „jene“. Mir ist bewusst, dass diese Vorstellung in der aktuellen Lage eine große Herausforderung bedeutet und alles andere als ein Selbstläufer ist. Doch je schneller wir uns trauen auch in diese Richtung zu denken, umso besser kann nach meinem Dafürhalten der Prozess gelingen, der Prozess einer Integration fremder Denk- und Lebensweisen in unsere Kultur und zugleich der Prozess einer Revitalisierung ödipaler Konflikte, deren Abbau durch eine kulturell geschwächte bis entwertete Rolle des Vaters vermutlich schlimmer ist, als das noch immer anstrengende Durchleben der ödipalen Konflikte und des Ödipuskomplexes. Man darf hoffen, ohne zu blauäugig zu sein, auch wenn niemand mehr denkt, dass das alles ein Spaziergang wäre.
Der Narzissmus in der Gesellschaft ist inzwischen möglicherweise die größte Wunde unserer Kultur, weil ihre zersetzende Kraft so groß ist und die Rolle narzisstischer Pathologien zwar in letzter Zeit stärker beleuchtet wird, aber mehr als privates, denn als gesellschaftliches Problem gesehen wird. Wenn wir den Blick erweitern und die Zusammenhänge zwischen dem Individuum und der Gesellschaft erkennen, steigt unsere Chance gegen zu steuern.
Quellen:
- [1] Sehr ausführlich erklärt das Larry Siedentop in seinem Buch: Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt, Klett-Cotta 2015.
- [2] Otto F. Kernberg, Narzißmus, Aggression und Selbstzerstörung, Klett-Cotta, 2006, S.22f
- [3] Jaques Derrida, Schurken: Zwei Essays über die Vernunft, Suhrkamp 2006, S.55