Der Opportunismus hat keinen guten Klang. Als Opportunisten gelten Menschen, die keine Prinzipien, Werte und Ideale haben, sich wachsweich jedem System anpassen und irgendwie durchmogeln.
Prinzipientreue steht bei uns, jedenfalls als Ideal, höher im Kurs. Jedoch hat auch der seine Schattenseiten, Selbstmordattentätern kann man nämlich nicht vorwerfen, dass sie keine Prinzipien hätten. Aber unsere klassischen Helden sind zwar manchmal listenreich, doch letztlich Idealisten.
Kein leichtes Spiel für Opportunisten. Dabei braucht man die Perspektive nur leicht zu verändern und sofort klingt alles anders. Denn das Darwinsche Prinzip des „Survival of the fittest“ ist nicht, wie man oft hört, das Überleben des Stärksten, sondern das des Bestangepassten, purer Opportunismus. Also müssen wir differenzieren.
Opportunismus im Dienste des Egoismus
Am schlechtesten kommt der egoistische Opportunist weg. Mit Schlauheit und List – Begriffe, die ebenfalls nicht rein positiv besetzt sind: sie werden respektiert, aber nicht wirklich gemocht – passt er sich jedem System an und verrät dabei jene Werte, von denen er gestern noch behauptete, er würde sie vertreten. Das ist unangenehm, weil man denkt, dass man sich im Zweifel auf solche Menschen nicht verlassen kann. Was ist ein Treueschwur von ihnen wert? Sie heulen immer mit den Wölfen und schwimmen nie gegen den Strom: zu anstrengend, zu gefährlich, warum sollte man, wenn es auch anders geht? Vielleicht sind sie uns nur zu ähnlich und wir wollen nicht so gern in den Spiegel sehen? Aber ist es nicht genau das, dass man selbst in den Spiegel blicken können möchte, ohne vor Scham zu erröten, was uns den Opportunisten suspekt erscheinen lässt?
Andererseits, manche loben den Führungsstil von Bundeskanzlerin Merkel als pragmatisch und sie ist in Umfragen die beliebteste Politikerin, selbst wenn es sein könnte, dass sie dem Volk – opportunistisch? – mehr aufs Maul schaut, als man meinen könnte und gut finden muss.
Opportunismus im Dienste eines größeren Ganzen
Doch nicht jeder Opportunismus muss egoistischer Natur sein. Vielleicht muss man tatsächlich manchmal pragmatisch sein, um sein Ziel auf krummen Wegen und im dritten Anlauf dann doch zu erreichen. Das Motiv dabei kann auch sein, dass man einer größeren Sache dienen will und darum ein Stück weit mit dem Strom schwimmt. Abgerechnet wird oft am Schluss.
So mancher Whistleblower spürt diesen Konflikt. Einerseits ist man noch immer von der Sache überzeugt, für die man mal angetreten ist, doch andererseits erlebt man manchmal, wie die eigenen Ideale verkauft werden. Zur Rettung dieser Ideale kann man manchmal die Fronten wechseln und dabei geht es nicht mehr darum, nur mit heiler Haut davonzukommen, hier verwischen die Motive.
So finden wir bei näherem Hinschauen oft Mischformen des Opportunismus, die man zum Teil gutheißen kann. Man muss in einem System leben oder arbeiten, das einem vielleicht nicht gefällt, das man aber momentan nicht ändern kann. Vermutlich ist es eine Temperamentfrage, ob man daraufhin den Frontalangriff startet, sich stromlinienförmig und bewusst anpasst oder ob man die Werte des Mainstream in jedem Moment völlig unkritisch verinnerlicht.
Lebenserfahrener Opportunismus
Wo man mit Diskussionen nichts mehr erreicht, weil das Gegenüber Betonmeinungen hat oder zu einem Diskurs aus Gründen der ideologischen Uneinsichtigkeit oder Dummheit nicht Willens oder in der Lage ist, ist ein taktischer Opportunismus bisweilen angebracht. Man muss nicht so agieren, hat das Recht, auf seine Prinzipien zu pochen und sich heldenhaft gegen das, was man als Unrecht oder Dummheit erlebt, zu stellen.
Manchmal mag es ein Abwägen aus Feigheit oder Angst sein, manchmal eines, weil man in der Situation einfach nicht weiter kommt und eine gewisse Zeit gute Miene zum bösen Spiel machen muss, will man sich nicht selbst kaltstellen.
Opportunismus als subtiler Widerstand
Es gibt auch eine hohe Schule des Opportunismus. In tyrannisch-paranoiden Systemen, in denen Autoritäten alles detailliert vorschreiben oder auch mehr und minder idiotischen Systemen, in denen sich Autoritäten widersprechen und gegenseitig paralysieren, ist der scheinbare Opportunismus eine subtile, etwas boshafte und effiziente Waffe.
Man macht vordergründig alles richtig und führt ein idiotisches System dadurch an seine Grenzen, dass man es scheinbar buchstabengetreu und dienstbeflissen, aber etwas ungeschickt, umsetzt. Virtuos eingesetzt hat das eine erhebliche ironische Note und Sprengkraft. Was närrisch aussieht, ist in Wahrheit oft ein Ausdruck hoher Intelligenz, Gerissenheit und einer strategischen Denkweise.
Eine Regel wendet sich nicht selbst an, sondern muss interpretiert werden, immer. Selbst die erläuternde Regel der Regel schafft hier keine Klarheit, da auch sie den Interpreten braucht. Und spätestens bei der Regel der Regel der Regel erkennt auch der Laie das Problem: es endet im Regress … man muss immer weiter machen. Jedes System braucht daher kompetente Interpreten, die den ganzheitlichen Sinn hinter den Regeln erfassen, der Narr hebelt das aus.
Ein typischer Vertreter dieser Haltung ist der brave Soldat Schwejk, bei dem man letztlich nicht weiß, ob er ein Narr oder ein Genie ist.
Da man kompetente und gutwillige Interpreten braucht, muss jedes System bestrebt sein, seinen Mitgliedern ein gewisses Maß an Freiheit zu gewähren, will man nicht im Regelwust nachträglicher Erläuterungen ersticken und sich selbst lahmlegen. Ob die Vertreter paranoider Systeme allerdings selbst schlau genug sind das zu erkennen, daran darf man manchmal seine Zweifel haben.