Schuldumkehr ist ein Begriff, der in Zusammenhang mit destruktiven Beziehungen, zum Beispiel mit narzisstischen Personen, auftaucht. Sowohl in dysfunktionalen Partnerschaften als auch in problematischen Eltern-Kind-Beziehungen kann es zu einer Schuldumkehr und folglich bei den Betroffenen zu Schuldgefühlen kommen, welche nicht das reale Geschehen abbilden. In diesen Beziehungen findet eine sogenannte Täter-Opfer-Umkehr statt.
Schuldumkehr: Täter-Opfer-Umkehr
Die Täter-Opfer-Umkehr steht aus psychologischer Sicht dafür, dass die missbrauchende Person die vom Missbrauch betroffene Person vollständig oder teilweise für den Missbrauch verantwortlich macht. Das kann direkt ausgesprochen, aber auch unterschwellig suggeriert werden. Zum Beispiel:
- „Hättest du mich nicht so provoziert, wäre ich gar nicht so ausgerastet.“
- „Du bist immer so unsicher. Das macht die Menschen in deinem Umfeld reizbar.“
Die manipulierende, missbräuchliche Person übernimmt für ihr schadhaftes Verhalten keine Verantwortung. Sie weist die Schuld von sich und schiebt sie stattdessen der missbrauchten Person zu. Im Zuge dessen entschuldigt sie sich nicht, sondern rechtfertigt ihr destruktives Verhalten als angebliche Reaktion auf eine Eigenart oder Verhaltensweise ihres Gegenübers. Sie beschuldigt nicht nur die andere Person, sondern sie beschämt sie auch noch für ihr Verhalten oder ihre Persönlichkeit.
Schuld- und Schamgefühle als Bindungserfahrung
Die missbrauchte Person dagegen neigt häufig dazu, vielleicht auch weil sie es aus der Kindheit nicht anders kennt, die Schuld vollständig oder teilweise zu sich zu nehmen. Sie ist es gewohnt, direkt oder indirekt beschuldigt und beschämt zu werden. Diese Schuld- und Schamgefühle sind Teil ihrer bisherigen Bindungserfahrungen. Folglich treten automatisiert bei ihr Gedanken auf wie:
- „Ich hätte ihn nicht so provozieren sollen. Er ist kein schlechter Mensch. Aber wenn ich ständig nachfrage, dann ist es ja klar, dass es ihn irgendwann so aufregt.“
- „Ich bin einfach kein liebenswerter Mensch. Im Grunde hat mich noch nie jemand gemocht. Es ist eigentlich kein Wunder, dass sie mich nicht lieben kann.“
Irrglaube, nicht liebenswert zu sein
Wer sich in der Kindheit bereits nicht angenommen und nicht bedingungslos geliebt fühlte, bei dem entsteht oft eine tiefe Selbstunsicherheit und der irrtümliche Glaube, nicht liebenswert und irgendwie fehlerhaft zu sein.
Kinder stellen ihre Eltern nicht infrage. Da sie auf sie angewiesen sind, hat die Natur es in ihnen nicht angelegt, das Verhalten ihrer Eltern kritisch zu betrachten. Sie glauben, was die Eltern ihnen sagen. Bekommen sie von ihren Eltern das Bild suggeriert, zum Beispiel dumm und nicht liebenswert zu sein, nehmen sie diese Beschuldigungen als Teil ihres Selbstbildes an. Unbewusst tragen sie dann das Gefühl in sich, tatsächlich dumm und nicht liebenswert zu sein. Das problematische Verhalten der Bezugspersonen wird internalisiert. Sie beginnen, sich selbst abzuwerten. Die Stimme ihrer Eltern ist zu ihrer eigenen Stimme geworden.
Zukünftig tragen sie dann diesen emotionalen Ballast durch ihr Leben. Wann immer sie später in herausfordernden Situationen sind oder einen Fehler machen, werden sie nicht denken: „Das wird schwierig, aber ich kann es schaffen“, oder: „Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich lerne daraus.“ Sondern sie werden denken: „Das ist eine schwierige Situation, ich werde es nicht schaffen“, beziehungsweise: „Mal wieder habe ich einen Fehler gemacht. Ich kann es einfach nicht, weil ich zu blöd dafür bin.“
Was Schuldumkehr mit dir macht
Neben diesem Gefühl der Selbstablehnung bewirken die eingeimpften Schuldgefühle noch Weiteres bei der missbrauchten Person. In der Psychologie geht man davon aus, dass alle Gefühle, Denk- und Verhaltensweisen im Ursprung einer gewissen Funktion dienten. Dazu gehört oft der Selbstschutz. Viele Denk- und Verhaltensweisen haben wir etabliert, weil sie den eigentlichen Schmerz abdämpfen sollten. Und so steht auch hinter den Schuldgefühlen eine „gewisse Funktionalität“, die kurzfristig schmerzlindernd ist, langfristig jedoch zum Nachteil gereicht.
Gefühl der Kontrolle
Personen, die missbraucht werden, erlangen durch das Übernehmen von Schuld beziehungsweise eines Schuldanteils ein Gefühl von Kontrolle. Die Situation und die andere Person sind für sie weniger bedrohlich, wenn sie davon ausgehen, ihren Teil zur Eskalation beigetragen zu haben. Das bedeutet nämlich, die Situation und die andere Person wären zu kontrollieren und beeinflussbar. Und jenes wiederum würde die Wahrscheinlichkeit verringern, zukünftig noch einmal in eine derart bedrohliche unvorhersehbare Situation mit dieser Person zu geraten.
Kurzfristig kann ein solches „Schönreden“ vielleicht oberflächlich beruhigen, doch auf lange Sicht schädigt es den Selbstwert der Betroffenen ungemein. Sie verbleiben in einer problematischen Situation beziehungsweise Konstellation, weil sie glauben, selbst Schuld daran zu sein, oder schlimmer noch, es nicht anders verdient zu haben.
Abwendung von Verlustangst
Ein grundlegendes Bedürfnis von Menschen ist die Verbundenheit. Gerade wenn man in der Kindheit abwertende, lieblose Bindungserfahrungen machen musste, sind viele umso mehr auf der Suche nach Verbundenheit in den Beziehungen des Erwachsenenalters. Sie wollen die seelischen Verletzungen aus der Kindheit heilen und sich endlich angenommen fühlen. Häufig ist es dann so, dass viele versuchen, mit den Beziehungen im Erwachsenenalter Unsicherheiten und Ängste zu kompensieren. Sie sind emotional abhängig von ihrem Gegenüber, haben Angst, die andere Person zu verlieren, und nehmen dafür vieles an unschönen Behandlungen in Kauf. Schließlich tragen sie ja auch selbst teilweise Schuld daran, so glauben sie.
Ihre Autonomie als Gegenpol zum Streben nach Verbundenheit vernachlässigen sie, weil sie auch in der Kindheit nie erfahren durften, wie es ist, sich frei entwickeln zu können, ohne den Verlust der Liebe ihrer Bezugspersonen fürchten zu müssen. Sie waren seit jeher damit beschäftigt, um die Liebe nahestehender Personen zu kämpfen, und setzen dieses Verhalten auch im Erwachsenenalter fort.
Durch die Übernahme eines Schuldanteils am desolaten Verhalten des Gegenübers sorgen die Betroffenen unbewusst dafür, dass sie in der Bindung verbleiben können. Sie müssen keine Konsequenzen ziehen, sich nicht trennen oder auf Abstand gehen und verhindern so unbewusst die bedrohliche Verlustangst.
Emotional in Alarmbereitschaft
Allgemein destabilisiert ein solcher Verbleib in einer toxischen Beziehung selbstredend das eigene Wohlbefinden. Die Beleidigungen und Anschuldigungen halten die Betroffenen emotional ständig in Alarmbereitschaft. Durch den fortwährenden Missbrauch befindet sich das autonome Nervensystem in einem Zustand erhöhten Arousals beziehungsweise höherer Erregbarkeit. Das verstärkt die eigenen Ängste und die innere Anspannung. Wird zudem vom Gegenüber getriggert, man käme nicht allein zurecht im Leben, bestätigt jene innere Angst von Verlust und „Nicht gut genug sein“ solche Unterstellungen.
Schuldgefühle dämpfen den Schmerz
Die Täter-Opfer-Schuldumkehr und die damit verbundenen Schuldgefühle bei den missbrauchten Personen verringern den Schmerz. So abstrus es klingen mag. Bin ich selbst schuld an etwas, ist die Behandlung durch die andere Person ein Stück weit begründet. Das, was den Betroffenen widerfährt, lässt dann weniger Ohnmacht spüren. Der Schmerz aufgrund der destruktiven Behandlung ist weniger überwältigend. Sie fühlen sich von dem schlechten Verhalten ihres Gegenübers nicht komplett überrollt, schließlich hätten sie es beeinflussen/verhindern können. So denken sie jedenfalls.
Aber die Ausübenden des Missbrauchs profitieren noch in anderer Art von den Schuldgefühlen und Selbstunsicherheiten der Betroffenen.
Schuldumkehr macht mundtot
Wird den Betroffenen die Schuld für eine missbräuchliche Behandlung gegeben, werden sie automatisch mundtot gemacht. Die Beschämung ist eine mächtige Waffe. Wenn einem Menschen vermittelt wird, er hätte selbst dazu beigetragen, dass ihm ein solches Verhalten des Gegenübers passiert, ist er beschämt und wird häufiger schweigen.
Schuldumkehr verwäscht die Wahrnehmung
Indem den Betroffenen eingeredet wird, selbst Schuld zu sein, werden auch ihre Wahrnehmung und Empfindung verwaschen. Die Person gegenüber sagt etwas anderes als ihr eigenes Bauchgefühl. Oft laufen Streitereien mit missbrauchenden Personen so durcheinander ab – es gibt viele Themenwechsel, Dinge werden übersprungen oder einfach geleugnet –, dass man selbst am Ende gar nicht mehr weiß, wie es überhaupt zu dem Streit kam. Am Ende stehen die Betroffenen verwirrt und von den Anschuldigungen seelisch verletzt da und wissen nicht mehr, was wahr und was falsch, was Recht und was Unrecht ist. Umso mehr sind sie verunsichert und glauben, nicht auf sich selbst vertrauen zu können. Sie werden auch dadurch destabilisiert und in einer Annahme gehalten, nicht lebensfähig zu sein.
Schuldumkehr verstärkt negatives Selbstbild
Jedes Mal, wenn in einer Partnerschaft oder anderen sozialen Beziehung der missbrauchten Person die Schuld für das missbräuchliche Verhalten gegeben wird, verstärkt das bei den Betroffenen ein negatives Selbstbild. Hält man sich selbst für keine gute oder liebenswerte Person, könnten schlechte Behandlungen zukünftig als legitimer erachtet werden. Der Teufelskreis von Missbrauch und Schuldumkehr wird weiter aufrechterhalten.
Teufelskreis durchbrechen
Um aus diesem Teufelskreis von Missbrauch und Schuldumkehr auszubrechen, müssen die betroffenen Personen zum einen erkennen, dass sie Gaslighting, Manipulation und Missbrauch ausgesetzt sind. Sie müssen verstehen, dass diese Schuldzuschreibung und Beschämung von außen kommt und nicht zu ihnen gehört. Ferner müssen die Missbrauchten den Gedanken zulassen, dass das Verhalten ihrer Eltern oder ihres Beziehungsmenschen nicht in Ordnung ist beziehungsweise war.
Zum anderen müssen sie lernen, sich davon abzugrenzen, die Schuld dafür bei ihrem Gegenüber (dem Beziehungsmenschen, den Eltern) zu belassen und für sich einzustehen. Dazu gehören die Selbstannahme von sich als liebenswerter und wertvoller Mensch und natürlich die Ablehnung der Schuldumkehr. Indem man erkennt, welche ungesunden Glaubenssätze, Gefühle, Denk- und Verhaltensmuster einen in schadhaften Bindungen halten, kann man sich aus ihnen herausarbeiten und befreien.
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