Generationstrauma beziehungsweise transgenerationale Traumatisierungen können von Generation zu Generation über verschiedene Wege weitergegeben werden. Meist geschieht die Weitergabe an die nachfolgende Generation unbewusst. Betreffende sind sich über ihre eigenen psychischen Belastungen kaum gewahr.
Generationstrauma: Vererbung der Traumalast
Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar, wie eine Traumalast »vererbt« werden kann. Letztendlich zeigt sie sich auch nicht immer eins zu eins so wie bei der vorangegangenen Generation. Vielmehr geht es darum, dass seelische Belastungen, die unaufgearbeitet bleiben, auch Auswirkungen auf die nachfolgende Generation haben können.
Weitergabe über Epigenetik
In der Forschung werden in Bezug auf Generationstrauma unter anderem epigenetische Ansätze diskutiert. Unter epigenetisch versteht man Abläufe, die zwar nicht die Erbinformation verändern, aber sie ähnlich einem An- und Ausschalter besser oder schlechter zugänglich machen. Beispielsweise könnte eine Störung der Stressregulation auch an die Nachkommen epigenetisch weitergegeben werden. Diese hätten dann ebenfalls mit einer Stressregulationsstörung zu kämpfen, obwohl sie selbst starkem Stress eigentlich nicht ausgesetzt waren. So scheinen selbst traumatische Erfahrungen, die noch vor der Schwangerschaft stattgefunden haben, über epigenetische Veränderungen an die Kinder vererbt werden zu können.
»FKPB5 bestimmt, wie wirkungsvoll der Körper auf Stresshormone reagieren kann und steuert so das gesamte Stresshormonsystem. Das FKBP5-Gen ist bei vielen Krankheiten, wie beispielsweise der Posttraumatischen Belastungsstörung oder der Depression, verändert. Jetzt konnten wir zeigen, dass es wohl auch generationsübergreifende Effekte gibt.«
Prof. Dr. Dr. Elisabeth Binder, Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, zitiert nach Max-Planck-Gesellschaft
Weitergabe über Verhalten
Ein häufiger Weg der Weitergabe von traumatischen Belastungen passiert über das Verhalten. Beispielsweise werden gegenüber den Kindern bestimmte Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die schädigend für die kindliche Psyche sind. Eltern sind aufgrund ihrer eigenen traumatischen Erfahrungen nicht fähig, warme, emotionale Bindungen aufzubauen. Traumatisierte wirken oft unterkühlt, wie abwesend oder aber auch impulsiv und dominant.
Die abwesenden, impulsiven oder ambivalenten Verhaltensmuster wirken auf ein Kind bedrohlich. Dadurch kann es bei den betroffenen Kindern zu chronischen Traumatisierungen in der Kindheit kommen. Sie befinden sich ob des elterlichen Verhaltens, welches etwa durch verbale, emotionale und körperliche Übergriffe gezeichnet ist, ständig in einer Habachtstellung. Kindliche Traumatisierungen haben mitunter Veränderungen in der Gehirnentwicklung zur Folge. So kann die Amygdala, also das Angstzentrum im Gehirn, eine erhöhte Reaktivität aufweisen.
Generell können Traumatisierungen mit einer Übererregung des autonomen Nervensystems einhergehen. Betreffende haben eine höhere emotionale Grundanspannung. Sie reagieren schneller und stärker auf Stressreize und die Stressantwort dauert länger an.
Auch durch Beobachtungen werden elterliche Lebensängste an die Kinder übertragen. Kinder beobachten ihre Eltern sehr genau. Nehmen sie eine erhöhte Wachsamkeit bei ihnen wahr, werden sie vielleicht ihrerseits auch wachsamer und ängstlicher sein.
Weitergabe über kulturelle Prägung
Werden kollektive Traumatisierungen, wie beispielsweise in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, nicht besprochen, werden sie von der Gesellschaft nicht anerkannt und tabuisiert und schweigt man sich gesamtgesellschaftlich darüber aus, dann werden sie unverarbeitet an die Kinder der Traumatisierten weitergegeben. Diese wissen zunächst nicht, warum sie ein negatives emotionales Erleben haben, obwohl sie doch rein theoretisch »gar nichts Schlimmes erlebten«. Ihre Eltern unterstellen ihnen womöglich noch zu sensibel zu sein, weil sie derart empfindlich reagieren, obwohl sie doch »eigentlich alles haben«. Es erschließt sich für die Eltern nicht, warum die Kinder mit beispielsweise Depressionen, Ängsten oder einem starken Minderwertigkeitserleben zu kämpfen haben. Und das obwohl diese nie einem Krieg, Hungersnöten oder sonstigen Gefahren und Entbehrungen ausgesetzt waren.
Grundbedürfnisse zählten
Für die elterliche Generation, also die Generation der Kriegskinder im Zweiten Weltkrieg, war es nach dem Krieg vor allem wichtig, für ihre eigenen Kinder ein gutes Heim und eine ausreichende finanzielle Versorgung sicherzustellen. Es ging um genügend Essen auf dem Tisch, ein warmes Zuhause und Bildungsmöglichkeiten. Nach dem Krieg galt es für die Kriegskinder, nach vorn zu schauen und im Zuge des Heranwachsens nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Land wieder aufzubauen. Für die seelische Aufarbeitung der Kriegserlebnisse blieb ihnen im Grunde keine Zeit und auch kein Spielraum. Denn der Shutdown eines Landes nach einem Krieg sieht zunächst erst einmal die Erfüllung existenzieller Bedürfnisse vor. Der emotionale Ballast ist hinderlich beim Funktionieren und wird erst einmal verdrängt. Dennoch sucht er sich seinen Weg an die Oberfläche.
War der Vater, der eine Kindheit im Krieg erlebte, angespannt, dann schrie er eben rum, beleidigte und beschimpfte die Kinder. Manche Väter sprangen wütend auf, sobald es im Fernsehen um Kriegserlebnisse ging, und die Kinder sahen erschrocken und nicht verstehend dem Treiben zu. Andere Väter kamen abends betrunken nach der Arbeit aus der Kneipe heim. Waren die Kinderzimmer nicht aufgeräumt oder sie auf andere Art frustriert, »setzte es was«. Mütter, die als Kinder zu Kriegszeiten vielleicht die Vergewaltigung der eigenen Mutter mitansehen mussten, haben sich emotional abgeschottet und sind für die eigenen Kinder emotional nicht erreichbar.
Seelischer Missbrauch oder ein respektvoller Umgang mit Kindern wurde zu jener Zeit überhaupt nicht diskutiert. Erst seit kurzem befassen wir uns gesellschaftlich damit, dass nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Gewalt tiefe Spuren auf der Seele eines Kindes hinterlassen und zu psychischen Erkrankungen führen kann.
Bei einem Generationstrauma geht es nicht immer um gesamtgesellschaftliche negative Ereignisse wie Kriege, die viele betreffen. Es kann sich auch auf Einzelfälle beziehen. Beispielsweise wenn Eltern in ihrer Kindheit selbst geschlagen wurden und diese »Erziehungsmethoden« nun an ihren eigenen Kindern praktizieren. Sie können und wollen sich nicht eingestehen, wie seelisch geschädigt sie selbst dadurch sind.
Die psychologische Forschung und klinische Praxis haben seit Langem erkannt, dass nicht aufgearbeitete seelische Belastungen in vielen Fällen an die nachfolgende Generation weitergegeben werden, und sie beschäftigen sich damit. Beispielsweise in Zusammenhang mit seelisch belasteten Müttern und deren Kindern:
»Häufig geben sie diese Missbrauchserfahrungen an ihre eigenen Kinder weiter. „Die Übertragung von Gewalt in die nächste Generation beobachten wir leider häufig in der Klinik“, sagte Prof. Felix Bermpohl von der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwigs Krankenhaus. Auch andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen bestätigen diese Beobachtung. In vielen Fällen ist die elterliche Fürsorgefähigkeit beeinträchtigt. Den betroffenen Müttern gelingt es nicht, die Gefühle ihrer Kinder einzuordnen und angemessen zu reagieren.«
zitiert nach Charité Universitätsmedizin Berlin
Generationslast durchbrechen
Für die Kinder traumatisierter Menschen, wie beispielsweise der Kriegskinder, ist es nicht einfach, die Generationslast zu durchbrechen. Doch vielleicht ist es auch die Aufgabe der nachfolgenden Generationen, das Schweigen aufzubrechen. Sie müssen die emotionalen Folgen der elterlichen traumatischen Erlebnisse beziehungsweise die Weitergabe eines Traumas an die nachfolgende Generation aufarbeiten.
Es gilt, sich mit den eigenen Ängsten, Depressionen, Dissoziationen etc. auseinanderzusetzen, deren Ursachen zu eruieren und es anders als die Eltern zu machen. Heute haben wir die Ressourcen, uns diesem Thema zuzuwenden. Wir haben das Verständnis und die Forschungsgrundlagen dafür, um epigenetisch, soziokulturell und psychologisch zu verstehen, wie Generationstrauma weitergegeben werden.
Für den einzelnen Menschen kann es wichtig sein, sich von dem elterlichen Verhalten zu distanzieren, es vor dem Hintergrund der elterlichen Prägungen und Erfahrungen zu verstehen – ohne es gutzuheißen oder zwingend zu verzeihen. Im Grunde geht es bei einem Generationstrauma gar nicht so sehr darum, möglichst akribisch die tatsächlichen Ursachen für das elterliche Verhalten zu finden. Es wird ein Zusammenspiel mehrerer Gründe sein, die alle nicht bis ins Einzelne eruiert werden müssen. Vielmehr geht es um eine schlüssige Erklärung für einen selbst, damit man besser mit den negativen Kindheitsprägungen abschließen kann. Es hilft uns dabei, das Geschehene mehr von außen zu betrachten, aus einem inneren Abstand heraus. Und es hilft dabei, zu verinnerlichen, dass das negative elterliche Verhalten zu keiner Zeit mit einem selbst zu tun hatte.
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