Als neue Diagnose wurde im psychiatrischen Klassifikationssystem ICD-11 die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) infolge von schweren, langanhaltenden und sich wiederholenden Traumatisierungen aufgenommen. Traumatisierungen in der Kindheit durch sexuelle, körperliche oder emotionale Misshandlung, Vernachlässigung, aber auch häusliche Gewalterfahrungen in einer Partnerschaft zählen zu den chronischen, sich wiederholenden traumatischen Ereignissen, die komplexe Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten einer Person inklusive der Veränderung der Persönlichkeit haben können. Welche Kriterien charakterisieren die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung?

kPTBS: PTBS plus weitere Symptome

Bei der Diagnostik der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung werden die Kernsymptome der PTBS herangezogen zuzüglich weiterer anhaltender und umfassender Beeinträchtigungen, die sich im Leben eines Menschen zeigen. Beschreiben wir zunächst die Symptome, die in Zusammenhang mit einer klassischen Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten. Im Anschluss gehen wir dann in die zusätzliche Symptomatik der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung über.

Posttraumatische Belastungsstörung

Einer Posttraumatischen Belastungsstörung gehen Ereignisse voraus, die als extrem psychisch belastend oder lebensbedrohlich empfunden werden.

Das Risiko für eine PTBS steigt, wenn das Trauma absichtlich herbeigeführt wurde. Nach einer Vergewaltigung entwickeln mehr als 90 % der Betroffenen eine akute Belastungsstörung und circa 50 % eine PTBS (4). Niedrigere PTBS-Raten finden sich bei Opfern von schicksalhaften Ereignissen wie Naturkatastrophen oder nach Unfällen (3). In Hochrisikopopulationen wie Soldaten ist das Risiko für eine PTBS, das je nach Einsatzort und Kampfeinsatz variiert, ebenfalls erhöht (e1).

Frommberger et al., Deutsches Ärzteblatt

Eine Posttraumatische Belastungsstörung kann mit anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen einhergehen.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Traumatisierungen auch bei schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen (e2), bipolaren Störungen (7), Psychosen (e3, e4), Angststörungen (e2) oder Alkoholerkrankungen (8) eine Rolle spielen. Liegt zusätzlich eine PTBS vor, werden Schweregrad und Verlauf dieser Erkrankungen negativ beeinflusst (7–9, e5).

Frommberger et al., Deutsches Ärzteblatt

Traumatisierungen in der Kindheit und andere Traumatypen

stehendes Kleinkind mit rosa Jacke

Auch wenn Kinder nicht mehr genau erinnern, was sich ereignete. Die emotionalen Eindrücke werden gespeichert. © Aleksandr Zykov under cc

Wie bereits im ersten Teil unserer Artikelserie erläutert, werden im klinischen Bereich sogenannte Typ I- und Typ II-Traumata unterschieden.

Als orientierendes Schema hat sich die Einteilung in menschlich verursachte versus zufällige Traumata sowie in kurze versus langfristige Traumata (Typ I vs. Typ II) bewährt (siehe Tabelle 1). Typ-I-Traumata sind meist durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung gekennzeichnet; Typ-II-Traumata durch Serien verschiedener traumatischer Einzelereignisse und durch eine geringe Vorhersagbarkeit des weiteren traumatischen Geschehens. Typ-I-Traumata resultieren häufig in der klassischen Symptomatik einer PTBS. Typ-II- führen hingegen oft zu einer besonders schweren symptomatischen Reaktion, der sogenannten KPTBS (siehe unten).

Hecker & Maercker, University of Zurich

Traumatisierungen in der Kindheit nicht erinnert?

Es kommt vor, dass die eigenen Traumata nicht oder nur schwammig als nicht klar abgegrenzte Ereignisse bewusst sind. Vielleicht würden die Betroffenen sagen, dass sie nicht unbedingt eine schöne Kindheit hatten oder sie ordnen die körperlichen Züchtigungen als „es war halt so damals“ ein. Dennoch zeigen sich in ihrem Erwachsenenleben Symptome von Traumafolgestörungen. Auch könnten sie retrospektiv ein unbestimmtes Gefühl von sexuellem Missbrauch haben („Irgendwas war da“ oder: „Ich saß auf seinem Schoß und seine Hand war sehr weit oben an meinem Oberschenkel. Ich spürte, dass das falsch war, aber ich hielt es aus.“). Mitunter erinnern sie nicht die Ereignisse in zusammenhängenden Bildern.
Es kann im Erwachsenenalter Trigger geben, auf welche die Betroffenen übermäßig stark reagieren, weil Traumatisierungen in der Kindheit stattgefunden haben, die sie aber als solche aber gar nicht explizit einordnen. Oder sie empfinden „schon immer“ die Welt, in der wir leben, als bedrohlich und das Leben als schwer bewältigbar. Wenn man, solange man denken kann, mit einer bestimmten Gedanken- und Emotionsstruktur und bestimmten Annahmen über sich, die anderen und die Welt lebt, dann ist einem mitunter gar nicht bewusst, dass diese auf Fehlprägungen in der Kindheit fußen und für Traumatisierungen in der Kindheit stehen könnten. Wir haben ja nur dieses eine Mindset. Wir kennen es nicht anders.

Kernsymptome der PTBS

Polizeiauto und Krankenwagen bei Unfall in Sandford

Nach einem schweren Unfall kann man eine PTBS entwickeln. © Donald Lee Pardue under cc

Verschiedene Kriterien müssen nach der ICD-11 aus klinischer Sicht bei einer PTBS und kPTBS erfüllt sein. Es handelt sich um einzelne Symptomcluster. Für die Diagnosestellung muss eines von zwei Symptomen in jedem Cluster zutreffen. (Wahlweise können natürlich auch beide zutreffen.) Die nachfolgend aufgeführten Symptomcluster werden in Anlehnung an die Auflistung der diagnostischen Kriterien für eine PTBS und kPTBS von Eilers und Rosner, veröffentlicht beim hogrefe-Verlag, Fachverlag für Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie, beschrieben.

Die PTBS (ICD-11) wird durch jeweils zwei Symptome in drei Clustern beschrieben. Mindestens ein Symptom aus jedem Bereich muss zur Diagnosestellung erfüllt sein. Die PTBS (ICD-11) kann nach einzelnen oder multiplen potentiell traumatischen Ereignissen auftreten, die als sehr bedrohlich oder schrecklich empfunden werden. Zudem muss eine funktionale Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen vorliegen.

Eilers & Rosner, hogrefe

Vorausgehend: Traumatisches Ereignis

In Zusammenhang mit der PTBS geht ein sehr bedrohliches oder schreckliches Ereignis oder eine Serie von Ereignissen voraus.
In Zusammenhang mit einer komplexen PTBS stehen meist langanhaltende oder sich wiederholende Ereignisse, aus denen eine Flucht schwer beziehungsweise unmöglich ist. Das kann zum Beispiel in Folge von Folter oder wiederholter sexueller, körperlicher oder emotionaler Gewalt (z. B. Traumatisierungen in der Kindheit) der Fall sein.

Symptomcluster: Wiedererleben

Es können (1) Flashbacks, intrusive Erinnerungen oder (2) Albträume, meistens in Verbindung mit körperlichen Reaktionen/ emotionalen Belastungen auftreten.

Intrusionen und Flashbacks gehen oft mit einem Schlüsselreiz, einem sogenannten Trigger, einher. Dieser ist der Auslöser für unkontrolliert wiederkehrendes, ins Bewusstsein drängendes Wieder-Erinnern, Wieder-Spüren/Fühlen (ohne dass man z. B. eine bewusste Erinnerung daran hat, was genau geschehen ist) oder Wiedererleben von traumatischen Ereignissen in der Vorstellung. Sie können auch ohne einen Schlüsselreiz auftreten und entziehen sich der willentlichen Kontrolle.

Symptomcluster: Vermeidung

(1) Gedanken und Erinnerungen an die traumatische Erfahrung werden vermieden oder (2) Aktivitäten, Situationen, Personen werden gemieden, die an die Traumakonstellation erinnern.

Die Betroffenen versuchen oft, die überflutenden Gedanken abzuschalten. Sie entwickeln eine Scheu, Aktivitäten zu vollführen oder Orte aufzusuchen, die an das Trauma erinnern.

Symptomcluster: Übererregung/Beeinträchtigung

Mann mit rotem Pullover und weit aufgerissenen Augen

Eine erhöhte Schreckhaftigkeit bzw. Wachsamkeit zählt zu den Kriterien für eine PTBS. © Ignacio Valdés under cc

Betroffene (1) nehmen subjektiv eine anhaltende Bedrohung wahr oder (2) weisen eine erhöhte Schreckhaftigkeit auf.

Die Betroffenen sind erhöht wachsam und leiden unter einer funktionalen Beeinträchtigung in beispielsweise sozialen, persönlichen, familiären oder anderen Bereichen ihres Leben.

Zusätzliche Kriterien für die Diagnose kPTBS

Für die Diagnose einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung müssen zusätzlich zu den eben genannten Symptomen die nachfolgend aufgeführten in voller oder subsyndromaler Ausprägung zutreffend sein. Als subsyndromal bzw. subklinisch wird eine Ausprägung bezeichnet, die nicht vollständig oder weniger stark das Störungsbild abbildet. (Beispielsweise können die klassischen Symptome durch eine Dissoziationsneigung vermindert sein.)

Die Auflistung ist weiterhin an den Wortlaut von Eilers und Rosner angelehnt. Auch nachfolgend gilt: Bei jedem Symptomcluster muss eines von zwei Symptomen erfüllt sein. Natürlich können auch beide Symptome zutreffen.

Die kPTBS Diagnose ist hierarchisch strukturiert. Sie wird beschrieben durch die Erfüllung der PTBS(ICD-11)-Kriterien und durch zusätzliche sogenannte Schwierigkeiten in der Selbstorganisation (SSO, disturbances in self-regulation) bezüglich Emotionsregulation, Selbstbild und interpersonellen Beziehungen. Jeder dieser Bereiche umfasst zwei Symptome, wovon jeweils mindestens eines für die Diagnosestellung vorliegen muss. Die SSO repräsentieren stressinduzierte und tiefgreifende Beeinträchtigungen, deren Auftreten nicht an traumaassoziierte Reize gebunden ist.

Eilers & Rosner, hogrefe

Symptomcluster: Schwierigkeiten der Emotionsregulation

Es treten (1) eine erhöhte Reizbarkeit und Wut oder (2) eine verminderte emotionale Schwingungsfähigkeit auf.

Die affektiven Fehlregulationen können zu einem verstärkten emotionalen Reagieren, Gewaltausbrüchen, aber auch zu dissoziativen Zuständen unter Belastung führen. Damit zusammenhängend können anhaltende Aufmerksamkeitsstörungen, wiederholte psychogene Bewusstseinstrübungen, Amnesien und zeitweises Depersonalisationserleben auftreten. Ein Fremdheitsgefühl oder Abgestumpftheit/emotionales Betäubtsein sowie ein vermindertes Schmerzerleben sind ebenfalls möglich. Es können Schwierigkeiten auftreten, sich von kleineren Belastungen zu erholen, ebenso das Fehlen der Fähigkeit von Freude oder positiven Gefühlen.

Symptomcluster: verändertes Selbstbild

Strichzeichnung eines Gesichtes auf Mauer

Traumatisierungen in der Kindheit können die Identität verändern. © Quinn Dombrowski under cc

Die Betroffenen verfügen über (1) ein anhaltendes negatives Selbstbild, infolgedessen sie sich als beschädigt, schwach, zerbrochen oder wertlos wahrnehmen oder (2) sie spüren tiefgreifende, anhaltende Gefühle von Scham, Schuld und Versagen.

Sie können ein beeinträchtigtes Identitätsgefühl haben, mit der Überzeugung, dass ihr Leben nicht zu reparieren sei, sie minderwertig sind oder etwas falsch gemacht haben.

Symptomcluster: interpersonelle Schwierigkeiten

In Zusammenhang mit einer kPTBS treten anhaltende Schwierigkeiten auf, (1) Beziehungen aufrechtzuerhalten oder (2) sich anderen nahe zu fühlen.

Betroffene können eine Neigung zu überspannten Ansichten aufweisen. Sie haben Schwierigkeiten, zu vertrauen und eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu führen.

Auftreten über einen längeren Zeitraum

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Die klassische PTBS tritt nach lebensbedrohlichen/traumatischen Lebensereignissen auf und ist gekennzeichnet durch Intrusionen (in Form von sich aufdrängenden Bildern oder Albträumen), Vermeidung und Hyperausal.
Die KPTBS tritt insbesondere als Folge von sich wiederholenden oder langandauernden traumatischen Ereignissen auf und ist neben den Symptomen der PTBS zusätzlich gekennzeichnet durch Affektregulationsstörungen, negative Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörungen.

Hecker & Maercker, University of Zurich

PTBS und kPTBS zählen zu den Traumafolgestörungen. Die Symptome für das Vorliegen einer PTBS beziehungsweise kPTBS müssen über einen längeren Zeitraum auftreten. Bei anhaltenden Traumatisierungen in der Kindheit manifestieren sie sich ggf. in der Art, dass sie sich persönlichkeitsverändernd in Form von anhaltenden, negativen kognitiven und emotionalen Veränderungen auswirken.