Das Schamgefühl wird vergleichsweise wenig besprochen und doch hemmt es uns mehr in unserem Tun, als es uns bewusst ist. Nicht jedes Mal drückt sich ein Schamgefühl durch Rotwerden oder aufsteigende Hitze aus. Manchmal blitzt es kaum merklich auf und verhindert oder forciert ein bestimmtes Verhalten. Außerdem prägt die Scham nicht nur unser Verhalten, sondern sie hat zudem einen Einfluss darauf, wie wir von uns selbst oder anderen Menschen denken. Das Schamgefühl ist ein unterschätztes Gefühl, das oftmals in Psychologie und Gesellschaft zu wenig Beachtung findet. Welche Ursachen liegen dem Schamgefühl zugrunde? Und wie können wir damit umgehen, wenn wir Scham empfinden – ohne dass wir uns infolgedessen noch mehr schämen?
Schamgefühl: Woher kommt es?
Häufig ist das, wofür wir uns schämen, kulturell bestimmt. Es lehnt sich an bestehende Normen an. Außerdem steht das Schamgefühl eng mit der Eigenverantwortung in Verbindung. Wenn ich einen Misserfolg erziele, der in meinem Verantwortungsbereich liegt, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit für das Schamgefühl.
Verschiedene Gründe können ursächlich dafür sein, warum manche mehr Scham empfinden als andere.
Schamgefühl und Selbstwert
Wie so vieles in der Psychologie ist auch das Schamgefühl oft auf den Selbstwert zurückzuführen. Wer von sich tief verankert glaubt, dass er liebenswert ist, wer voller Zufriedenheit in sich ruht und es als absolut selbstverständlich ansieht, auf dieser Erde zu sein, der wird weniger mit Schamgefühlen zu kämpfen haben. Hat man dagegen negative Glaubenssätze verinnerlicht, nicht gut genug zu sein, wird auch eher ein Schamgefühl empfunden, weil in der schamauslösenden Situation die eigene Person in ihrer Ganzheit infrage gestellt wird. Menschen, die zu einem stärkeren Schamgefühl neigen, fühlen sich oft schneller und vollumfänglich abgewertet. Sie haben Schwierigkeiten damit, einen gemachten Fehler oder einen Misserfolg von sich als Person abzugrenzen und bringen ihren Selbstwert damit in Verbindung. Sie denken, überspitzt formuliert: »Ich bin schlecht und dumm, weil ich einen Fehler gemacht habe.«
Beschämung in der Kindheit
Nicht selten empfinden Menschen mehr Scham, wenn sie in ihrer Kindheit öfter Bloßstellungen und Herabsetzungen erfahren haben. Die Behandlungen in der Kindheit haben einen unmittelbaren Einfluss auf den Selbstwert und damit die Art, wie ein Mensch sich selbst sieht. Für Kinder gibt es keine alternativen Erklärungen, wenn nahestehende Bezugspersonen sie schlecht behandeln. Sie glauben, es hat mit ihnen zu tun und beziehen das schlechte Verhalten auf sich. Wenn Bezugspersonen ihnen suggerieren, mit ihnen stimme etwas nicht oder sie wären nicht gut genug, dann nehmen Kinder dieses Bild von sich selbst im Inneren erst einmal an. Reagieren beispielsweise Eltern oder Geschwister mit Verärgerung, Zurückweisung oder Angeekelt sein auf das Verhalten des Kindes, entsteht Scham bei ihm.
Auch Bloßstellungen in der Schule oder in der Peergroup (Bezugsgruppe anderer Kinder) gehören zu den typischen Beschämungen in der Kindheit. Machtspiele gehen mit dem Gefühl bei den Betroffenen einher, den Erwartungen anderer und den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden.
Individuelle Prägung
Je nachdem wie wir geprägt sind, empfinden wir manche Situationen als schambehafteter im Vergleich zu anderen. Eine Person schämt sich zum Beispiel vor einer Gruppe zu sprechen, eine andere hat damit kein Problem. Vielleicht hat die andere Person aber ein Problem damit, sich in einem Zweiergespräch Auge in Auge einem anderen Menschen gegenüber zu offenbaren. Sie ist beschämt, weil sie keine Schwäche zeigen möchte.
Situationen, in denen wir bereits in der Vergangenheit beschämt wurden, führen zu mehr Angst vor einer erneuten Beschämung. Nicht selten tritt dann auch Scham auf, gerade weil man beschämt ist. Der Klassiker ist das Rotwerden. Wird einem bewusst, dass die Röte aus Scham ins Gesicht schießt, prangt sie im Anschluss an die Erkenntnis nur noch stärker auf den Wangen.
Überschreiten von Grenzen
Überschreitet eine andere Person unsere Grenzen, etwa durch Kritik oder übergriffiges Verhalten, empfinden viele häufig ein Schamgefühl. Die Scham lähmt einige unter Umständen. Sie sind dann wie erstarrt und können nicht mehr angemessen reagieren. Die Angst und die Bloßstellung sitzen ihnen in den Knochen. Einige schämen sich auch im Anschluss dafür, das Verhalten zugelassen zu haben. Häusliche Gewalt ist diesbezüglich ein dramatisches Beispiel. Die Scham führt oft neben der Angst dazu, dass die Betroffenen sich keine Hilfe holen oder an eine andere Person wenden, um sich ihr anzuvertrauen. Indirekt stehen die Gefühle, Gedanken- und Verhaltensmuster auch meist mit der früheren Prägung in der Kindheit in Zusammenhang.
Soziale Rollenmodelle
Sehen wir in der Kindheit, wie befangen nahestehende Personen oder Vorbilder mit ihrer Scham umgehen, werden wir vermutlich das Schamgefühl als wesentlich dramatischer einschätzen und uns umso stärker schämen. Bemerken wir dagegen, wie locker jemand damit umgeht, wenn er rot wird, werden wir das Schamgefühl als weniger bedrohlich einschätzen.
Soziale Vergleiche
Menschen, die sich mit anderen vergleichen, achten auch häufiger darauf, wie sie selbst bei anderen ankommen. Ihr Selbstwert hängt oft auch von ihrer Einschätzung der Meinung anderer über sie ab. Demzufolge hat eine potenzielle Beschämung mehr Raum.
Evolutionäre Anbindung an eine Gruppe
Das Schamgefühl lässt sich vor einem evolutionsbiologischen Hintergrund als funktionale Emotion deuten. Es sorgt unter anderem dafür, dass wir uns innerhalb eines normativen Kontextes in einer Bezugsgruppe bewegen, keine Grenzen überschreiten – und folglich nicht verstoßen werden. Ohne eine Gruppe oder Horde war das eigene Überleben weniger sichergestellt, wir waren und sind auf andere Menschen angewiesen.
Darüber hinaus wird bei einem erfolgten Grenzübertritt beziehungsweise einem Verstoß gegen die sozialen Regeln durch das Schämen die Zugehörigkeit zur Gruppe wiederhergestellt. Wer Reue zeigt, dem wird verziehen.
Verstöße gegen die Norm
Wie zuvor bereits angedeutet, kann Scham entstehen, wenn man gegen gesellschaftliche Normvorstellungen verstößt. Peinliche Situationen kommen ja oft deshalb zustande, weil eine bestimmte Vorstellung davon innerhalb einer Gesellschaft existiert, dass eine solche Situation peinlich ist. Auch bei Verhaltensweisen, die gegen bestehende moralische und ethische Prinzipien verstoßen, werden selbstreflektierte Menschen Reue und Scham empfinden. Das Schamgefühl sorgt also dafür, dass wir uns innerhalb einer sozialen Bezugsgruppe anständig und den vorherrschenden Werten entsprechend benehmen.
Starkes Schamgefühl: Was kann ich tun?
Schamgefühle können stark sein und zu einem hohen individuellen Leidensdruck führen. Das Schamgefühl ist ein soziales Gefühl. Ohne andere Personen gäbe es kein Schamgefühl. Selbst wenn wir allein sind und uns schämen, so geschieht die Scham aufgrund der Vorstellung davon, wie andere uns aufgrund unseres Verhaltens nun sehen beziehungsweise beurteilen könnten. Wie können Betroffene es sich leichter machen, um mit ihrem Schamgefühl umzugehen?
Die Arbeit am Selbstwert für weniger Schamgefühl
Wie so oft in der Psychologie ist der Dreh- und Angelpunkt der Selbstwert. Sobald wir uns selbst annehmen können, mit unseren Stärken und Schwächen, werden wir uns als selbstverständlicher betrachten und weniger Scham empfinden.
Neue Einstellung zu Fehlern
Misserfolge oder Fehler sollten nicht dazu führen, dass man sich selbst als Ganzes abwertet. Seit einigen Jahren wird sich um einen gesellschaftlich veränderten Umgang mit Fehlern bemüht. Es besteht zunehmend eine Fehlerakzeptanz. Weil Fehler uns dabei helfen zu lernen. Wenn du dein Arbeitsergebnis von deinem Selbstwert unabhängig machst, wirst du automatisch weniger Scham empfinden, sobald du einen Misserfolg erzielst. Sätze wie »Jeder macht Fehler« oder »Fehler sind ganz normal« sind mehr als eine Floskel. Du solltest sie für dich verinnerlichen.
Gefühle aushalten, auch Schamgefühle
Das Schamgefühl mag sich in bestimmten Situationen überwältigend anfühlen, aber es ist aushaltbar. Bei vielen Betroffenen besteht eine Angst vor dem nächsten Schamgefühl. Das führt zu einem hohen Leidensdruck und zu Beeinträchtigungen im Leben, weil sie sich bestimmte Sachen schlichtweg nicht trauen. Wenn du für dich erfahrbar machst, dass du das Schamgefühl aushalten kannst, es vorübergeht, wirst du es umbewerten können und als weniger problematisch einstufen. Dieser Prozess der Umbewertung gelingt gut auf emotionaler Ebene. Dein Gehirn wird in einer Situation, in der du Scham empfindest, bemerken, dass die Scham gar nicht die Dramatik hat, die du aus der Kindheit heraus damit verknüpfst.
- Halte das Schamgefühl aus und veratme es.
- Halte die Beschämung nicht durch unnötige Gedankenspiralen aufrecht, indem du dich selbst beschämst und herabsetzt.
- Spreche dir wohlwollend zu: »Was soll’s? Das passiert jedem doch mal.«, »Die Situation geht auch vorbei. Ich werde gestärkt daraus hervorgehen, weil ich sie bestehen kann.«, »Das, was gerade passiert, hat nichts mit meinem Wert zu tun.«
Stehe für dich ein
Mentale Bilder können dir dabei helfen, dich stärker zu fühlen. Beispielsweise kannst du dir vorstellen, dass du eine Mauer um dich herum hast, deinen Safe Space. Niemand dringt durch diese Abgrenzung und hat einen Zugriff auf deine Seele. Wagen es einige Personen dennoch, grenze dich von ihnen ab und sorge für dein Wohlergehen.
Liste der Stärken gegen das Schamgefühl
Mache dir bewusst, was du schon alles ausgehalten und geschafft hast. Schreibe es auf, wenn du magst. Vielleicht gab es früher schon einmal schambehaftete Situationen, die du ausgehalten hast und die heute keinerlei Bedeutung mehr für dich haben. Niemand spricht mehr darüber. Und selbst wenn: Who cares?
Weniger Schamgefühl: Bleib in deinem Kopf
Niemand denkt so stark über dich nach, wie du es tust. Jeder Mensch hat sich selbst zum Mittelpunkt in seinem Leben. Die Bedeutung, die du bestimmten Situationen oder Verhaltensweisen zusprichst, diese Bedeutung sprechen andere Personen dem nicht zu. Das Meiste, was du antizipierst, geschieht nur in deinem Kopf.
Personen, die lästern, weil die Lästereien sie selbstwerttechnisch unterfüttern, werden dies immer tun, egal wie korrekt du dich verhältst. Willst du dich tatsächlich von solchen Menschen abhängig machen?
Demaskiere das Schamgefühl
Zu guter Letzt noch ein Praxistipp, wie du mit deinem Schamgefühl in einer sozialen Situation umgehen kannst. Je offener du ein beschämendes Verhalten von dir ansprichst, umso mehr entziehst du der Situation (und anderen Menschen, die dich bloßstellen würden) die Macht. Nehmen wir an, du hast vergessen, wie jemand heißt oder nennst einen falschen Namen. Dann kannst du ganz offen sagen: »Oje, ich habe dich eben Peter genannt. Das tut mir leid.« Je selbstverständlicher du mit dir umgehst, umso weniger Angriffspunkte finden andere Menschen, die dich zum Beispiel bloßstellen wollen, bei dir.