Seelische Belastungen zeigen sich in vielen Facetten – von innerer Unruhe über depressive Verstimmungen bis hin zu Ängsten und chronischem Stress. Was viele Betroffene nicht wissen: Hinter diesen Symptomen verbirgt sich oft ein tiefer liegendes Thema – eine frühe Destabilisierung des Selbstwertes in der Kindheit. Ein stabiler Selbstwert ist ein Fundament unserer psychischen Gesundheit. Er entwickelt sich meist früh im Leben und prägt, wie wir mit uns selbst, mit anderen und mit Herausforderungen umgehen.
Seelische Belastungen: Wenn der Fluss des Lebens sich früh verengt
Stellen wir uns unser Leben wie einen Fluss vor. In der Kindheit ist dieser Fluss noch weit und voller Möglichkeiten. Wir genießen den Tag auf dem Wasser, spielerisch, auf noch seichtem Grund. Die Oberfläche des Wassers glitzert in der Sonne. Zwar müssen wir dem Wasser mit Respekt begegnen und auf uns aufpassen, aber es ängstigt uns nicht. Denn wir lernen, was zu tun ist, um darin nicht unterzugehen. Wir bleiben in sicheren Gefilden, wagen uns nur etwas hinaus und machen unsere Schritte, die erforderlich sind, um darin bestehen und es genießen zu können.
Allerdings können schon kleinere negative Erlebnisse in der Kindheit Strudel, Sandbänke und Engstellen formen, die den Lauf des Flusses beeinflussen, insbesondere wenn sie, zum Beispiel in dysfunktionalen Familien, wiederholt erfolgen. Nicht immer muss es offenkundige körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch geben, um den Fluss des Lebens zu einem reißenden Strom werden zu lassen. Es genügen schon herabsetzende Worte oder Verhaltensweisen, die dem Kind keine bedingungslose Liebe zeigen und ihm vermitteln, nicht gut genug zu sein. Wie der deutsche Kinderschutzbund mit einer Kampagne betont: Gewalt ist auch emotionale Gewalt. Liebesentzug, Verurteilungen, ambivalente Verhaltensweisen, Bloßstellungen, Beschuldigungen und überhöhte Erwartungen können den kindlichen Selbstwert untergraben. Kinder, die solche Erfahrungen machen, entwickeln häufig das Gefühl, nicht liebenswert oder nicht richtig zu sein. Sie ziehen daraus fatale Schlussfolgerungen über sich selbst – nicht, weil sie etwa Schuld daran sind, wenn die Erwachsenen ihnen destruktiv begegnen, sondern weil sie keine andere Erklärung haben. Sie wissen nicht, dass Eltern oder andere Bezugspersonen gerade Probleme haben oder mit Schwierigkeiten aus der Vergangenheit kämpfen. Stattdessen glauben sie, es läge an ihnen, wenn man sie herabsetzend behandelt. Sie glauben, es stimmt, was die Erwachsenen sagen.
Weitere Erfahrungen als scheinbare Bestätigung
Hinzu kommen weitere Einflüsse neben negativen familiären Prägungen oder problematischen Bindungserfahrungen. Unsere Lebenswelten in Schule oder Freizeit können aufgrund von zu starkem Leistungsdruck und fehlerhafter Behandlung von Schutzbefohlenen in manchen Schulen/Klassen sowie durch die regulären gesellschaftlichen Erwartungen ebenfalls ein Untergraben des Selbstwerts mit sich bringen. Neben dem »Ich bin nicht liebenswert« oder »nicht gut genug« werden Sätze verstärkt wie: »Ich bin nur etwas wert, wenn ich leiste« oder »Ich darf keine Fehler machen«.
1. Glaubenssätze werden zu schwerer Last
Das passiert nicht zwangsläufig. Aber Kinder, die eh schon die verankerte Überzeugung in sich tragen, »Ich bin nicht gut genug«, sehen dann etwaige Misserfolge in der Schule als Bestätigung ihres Minderwerts an. Statt einen Misserfolg als das abzutun, was er ist, nämlich ein schlichter Misserfolg, den jeder Mensch in seinem Leben hin und wieder einfährt, müssen Betroffene ständig emotional gegenregulieren, um nicht vollends selbstwerttechnisch unterzugehen.

Der Fluss des Lebens kann durch negative Erfahrungen in der Kindheit einen steinigen Grund bekommen und das Vorankommen erschweren. © Brigitte under cc
Diese innere Überzeugung von »Ich bin nicht gut genug« wirkt wie ein innerer Filter, durch den sämtliche Erfahrungen verzerrt wahrgenommen werden. Auch hier kommt ein Confirmation Bias zum Tragen: Wir interpretieren Ereignisse in unserem Leben dann vor diesem Hintergrund. Erfolge werden als Glücksfall interpretiert oder dass jemand uns zu positiv eingeschätzt haben könnte. Misserfolge gelten als Bestätigung für uns, nicht gut genug zu sein.
Ein Misserfolg wird dadurch nicht mehr als isoliertes Ereignis bewertet, sondern als Beweis für einen grundsätzlichen Makel der eigenen Person. Das führt dazu, dass betroffene Kinder eine dauerhafte innere Alarmbereitschaft entwickeln. Jeder Test, jede Rückmeldung und jede Herausforderung wird zu einer potenziellen Bedrohung für das ohnehin fragile Selbstbild. Diese ständige emotionale Anspannung zehrt an den psychischen Ressourcen, weil Betroffene gezwungen sind, fortlaufend innere Gegenbeweise zu erbringen oder sich durch Rückzug und Vermeidung vor weiteren »Bestätigungen« ihrer Unzulänglichkeit zu schützen. So entsteht ein Kreislauf, der nicht nur schulisches Lernen hemmt, sondern auch langfristig das Selbstvertrauen und die persönliche Entwicklung beeinträchtigen kann.
2. Sanfter Flusslauf versus reißender Strom
Anfangs fällt das kaum auf, aber die Strömung des Flusses verändert sich. Aus einem sanften Dahinplätschern im Fluss des Lebens wird ein immer engerer Flusslauf, mit weniger Spielraum, unberechenbarer Strömung, auf dem das Vorankommen zunehmend beschwerlicher wird. Statt sich gemächlich dahintreiben zu lassen und bei Problemen hin und wieder ruhig zu paddeln, um im Flusslauf zu bleiben, haben wir das Gefühl, wir müssten strampeln, ums Überleben kämpfen, um nicht zu ertrinken. Das Leben und seine Herausforderungen wirken bedrohlicher und schwerer zu bewältigen. Weil wir alles mit emotional schwerem Gepäck erledigen müssen. Unser Rucksack voller Unsicherheit, Ängste und Selbstzweifel macht das Halten über Wasser für uns problematischer. Was für andere eine Herausforderung im Leben ist, die sie entweder bestehen oder eben nicht, wird für die Betroffenen zu einer Stromschnelle, die sie jederzeit niederreißen und zum Untertauchen zwingen könnte. Sie fühlen sich ausgeliefert.
Es kommt zu ungesunden Bewältigungsstrategien wie etwa Perfektionismus, Rückzug oder heftiger Selbstkritik sowie Selbstabwertung. Dadurch verstärkt sich der innere Druck weiter. Wer in diesen Strudeln feststeckt, verliert die innere Ruhe und einen authentischen Kontakt zu sich selbst.
Aufgabe: Zurück zum sanften Strom
Als Erwachsene müssen wir nun wieder zurück in diesen sanften Strom finden – indem wir unsere Selbstzweifel und Ängste neu einordnen. Die negativen Rückmeldungen, die wir in der Kindheit erhielten, waren Projektionen des Innenlebens erwachsener Bezugspersonen auf uns. Ihre Zweifel, Ängste, Frustrationen trübten den Umgang mit dem Kind ein – weil sie es nicht vermochten, eine emotionale Selbstregulation zu vollführen. Diesen Ballast können wir den anderen wieder zurückgeben. Er ist nicht der unsere. All das, was sich in uns negativ potenziert hat, gilt es nun, Stück für Stück abzubauen.
Ein weiteres Gleichnis hilft uns dabei.
Der wuchernde Garten: Ein Labyrinth aus Selbstzweifeln

Negative Glaubenssätze und Gefühle können zu seelischen Belastungen werden, Gepäck, das wir mit uns herumtragen und das alles im Leben schwerer macht. © Eden, Janine and Jim under cc
Das Aufarbeiten seelischer Belastungen kann damit verglichen werden, dass wir uns als Ausgangslage in einem Labyrinth eines verwilderten Gartens befinden. Wer versucht, seine Symptome zu verstehen, irrt oft durch ein Dickicht aus problematischen Denkstrukturen, Fehlannahmen über sich und die Welt, damit verbundenen Ängsten, emotionalen Impulsen, ungesunden Schutzmechanismen und Bewältigungsstrategien. Wir sind tief in diesem Labyrinth drin und die ursprünglichen Strukturen sind ob dieser Verwachsungen nicht mehr erkennbar.
1. Gründe für mangelnden Selbstwert erkennen
Daher lohnt es sich, sich nicht immer weiter in der Komplexität des Gartens zu verirren, sondern innezuhalten, sich umzusehen und zu fragen: Wann habe ich begonnen, an mir zu zweifeln? Welche Botschaften über mich selbst habe ich früh verinnerlicht? Welche Erwartungen wurden an mich herangetragen? Der Blick zurück auf diese frühen Prägungen ist schmerzhaft, aber notwendig. Denn genau hier können wir beginnen, uns selbst neu zu begegnen – mit Verständnis statt Abwertung, mit Mitgefühl statt innerem Druck.
Wir müssen uns fragen: Wie geriet ich überhaupt in dieses Labyrinth? Wann wurde mein Leben zunehmend verwinkelter, verschachtelter, komplizierter – und nicht mehr klar und emotional bewältigbar. Und was noch viel wichtiger ist: Wie komme ich aus diesem Labyrinth des wuchernden Gartens wieder hinaus?
2. Selbstwert stärken
Die Ursache liegt also beim Eingang des Labyrinths – nämlich dort, wo unser Selbstwert ins Straucheln geriet. Gehen wir diesen an, faltet sich alles andere wie von selbst auf. Es ist ein gegenseitiges Bedingen. Wenn wir an dem einen ansetzen, verbessert sich auch das andere und vice versa. Unsere Selbstwert wird stabiler, wenn wir unter anderem:
- mit innerlich wohlwollender Stimme zu uns sprechen
- uns gegenüber destruktiven Verhaltensweisen anderer schützend abgrenzen
- Fehler als wichtige Lernerfahrungen sehen und nicht als abwertende »Bestätigungen«
- Erfolge als Leistung sehen
- uns unabhängig vom Urteil anderer machen und uns mit immer gleichem Wert betrachten
- unseren Körper innerlich ruhiger werden lassen durch Yoga, Meditation etc.
- positive und bestärkende soziale Kontakte haben
- für uns selbst Sorge tragen, unsere Bedürfnisse berücksichtigen und unabhängig sind
Realitätsabgleich: Wenn der innere Kritiker auf die Welt trifft

Ein wuchernder Garten ermöglicht kein Durchkommen mehr – das Innenleben gleicht einem Labyrinth aus Fehlannahmen, negativen Gefühlen und ungesunden Bewältigungsstrategien. © Luke McKernan under cc
Ein weiterer Schritt zur Heilung ist der sogenannte Realitätsabgleich. Menschen mit einem geringen Selbstwert tragen oft ein stark verzerrtes Selbstbild in sich. Sie glauben, dass sie weniger wert sind, dass sie nur durch Leistung oder Anpassung bestehen können, dass sie mehr tun müssen als andere, um im Leben zurechtzukommen. Dieser innere Kritiker bzw. die inneren Überzeugungen stehen im Widerspruch zur Realität, werden aber selten überprüft – aus Angst, dass sich die inneren Zweifel bestätigen könnten. Wird jedoch ein bewusster Abgleich vorgenommen, entsteht Raum für neue Erfahrungen: Ein Nein wird nicht mit Ablehnung bestraft und ist auch nicht »das Ende der Welt«. Eine ehrliche Meinung wird angenommen. Ein Fehler führt nicht zum Ausschluss, sondern zum Lernen. Diese neuen Erfahrungen helfen, die alten, negativen Glaubenssätze langsam zu entkräften. Die seelischen Belastungen werden geringer, weil wir weniger stark uns bewerten und bemerken, dass der Ausgang einer Situation oft viel sanfter und geebneter ist, als wir es immer angenommen haben. Doch dieser Prozess braucht Zeit. Die emotionale Umdeutung geschieht nicht sofort, sondern durch wiederholte Reflexion, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl.
1. Einfach machen!
Selbst wenn es mal zu einer vermeintlichen Bestätigung der negativen Glaubenssätze, sprich einem Misserfolg oder einer Ablehnung, kommt, können wir auch diese aushalten. Die Welt bricht nicht über uns zusammen. Als Kinder waren wir auf eine »positive Meinung« unserer Bezugspersonen angewiesen. Das liegt in der Natur der Sache, denn ohne Erwachsene hätten wir evolutionsbedingt nicht überleben können. Aber jetzt sind wir erwachsen. Es kommt nicht zu einer Katastrophe, nur weil wir mal »versagen« oder uns angeblich »unliebsam benehmen«. Selbst wenn wir öfter versagen, weil wir noch nicht so geübt mit dem Leben sind, werden immer neue Chancen auf uns zukommen. Wir müssen uns nur den Spielraum geben, neue Wege einzuschlagen, ohne Angst vor dem Versagen zu haben. Einfach machen! Ohne sich selbst ständig zu bewerten. Fehler sind absolut ok. Wir lernen mehr aus Fehlern als aus Erfolgen.
2. Für sich stehen

Damit das Leben einem sanften Fluss mit einigen Herausforderungen gleicht, müssen wir unser emotionales Gepäck abwerfen. © Mia & Steve Mestdagh under cc
Ein geringes Selbstwertgefühl führt oft dazu, dass Menschen ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Nein zu sagen, fühlt sich gefährlich an – als riskiere man Ablehnung, Liebesentzug oder den Verlust von Bindung. Wir ordnen uns unter, sprechen anderen, die dominanter sind, zu und nehmen unsere eigenen Bedürfnisse zurück. Diese Angst vor Ablehnung berührt ein zutiefst menschliches Grundbedürfnis: den Wunsch nach Bindung und Zugehörigkeit. Der Psychotherapeut Klaus Grawe nennt neben Bindung noch weitere zentrale Grundbedürfnisse: Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Selbstwerterhöhung. Haben wir jedoch ständig Angst vor Ablehnung oder Selbstwertbedrohung und lassen unser Handeln davon leiten, verlieren wir die Fähigkeit, für uns einzustehen und uns autonom zu entwickeln. Unser Bedürfnis nach Autonomie gerät in den Hintergrund. Aber die Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie sollten in einem Gleichgewicht zueinander sein. Dazu gehört auch, für sich Entscheidungen zu treffen und zu sich zu stehen. Übrigens: Entscheidungen fühlen sich nur selten hundertprozentig sicher an.
Einheit durch Integration
Der Weg zur psychischen Gesundheit und zu weniger seelischen Belastungen führt über Selbstannahme. Das bedeutet: nicht nur die hellen, sondern auch die dunklen Seiten in sich zu akzeptieren. Angst, Wut, Scham – all diese Emotionen gehören zum Menschsein. Wer lernt, sich selbst mit Mitgefühl zu begegnen, statt sich für seine Gefühle zu verurteilen, legt den Grundstein für Resilienz und innere Stabilität. Auch im Alltag gibt es Möglichkeiten, mit sich selbst in Verbindung zu treten: Innehalten, tief durchatmen, den eigenen Körper spüren. Kleine Rituale der Entspannung, bewusste Entscheidungen mit Nachsicht in Bezug auf die Konsequenzen und Selbstreflexion helfen, den wohlwollenden Kontakt zu sich zu stärken. Wer sich Halt gibt, braucht weniger Bestätigung von außen und findet mehr Ruhe in sich. Die seelischen Belastungen wiegen weniger schwer, wenn wir uns von dem externen Urteil freimachen, sondern uns selbst als Mensch für wertvoll erachten.
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