Wenn wir früher mit einer schlechten Zensur aus der Schule nach Hause kamen, trösteten unsere Eltern uns damit, dass man aus Fehlern lernen würde. Nur durch Kritik könnten wir uns verbessern, so sagten sie. Aber stimmt diese gängige Annahme? Lernt man aus Fehlern? Steigert Kritik, selbst wenn es konstruktive Kritik ist, tatsächlich unsere Lernerfolge? Es scheint nicht ganz so einfach zu sein, wie die jüngere psychologische Forschung herausgefunden hat.

Verbessern wir uns durch Fehler?

Die Psychologinnen Lauren Eskreis-Winkler und Ayelet Fishbach von der University of Chicago fanden in fünf Studien an über 1.600 Probanden heraus, dass man offenbar nicht aus Fehlern lernt. Im Gegenteil: Rückgemeldete Fehler scheinen sogar den Lerneffekt zu verhindern.

Die Psychologinnen ließen die Probanden einen Fragebogen mit jeweils zwei Antwortmöglichkeiten absolvieren. Variiert wurde im Anschluss, ob man den Probanden die korrekten Antworten oder die falsch gegebenen Antworten als Rückmeldung gab, also ob man ihnen ein Feedback hinsichtlich ihrer Erfolge oder Misserfolge zukommen ließ. Dadurch dass bei den jeweiligen Fragen immer nur zwei Antwortmöglichkeiten existierten, erhielten in beiden Varianten die Probanden direkt bzw. indirekt über die Fehler die Informationen zu den richtigen und falschen Antworten. So konnten sie ihr Fazit für zukünftige Aufgaben ziehen und sich verbessern.

Wir lernen weniger aus Fehlern …

Text Mistakes are a part of

Fehler machen ist wichtig. Aber müssen wir unbedingt negatives Feedback zurückgemeldet bekommen oder reicht eine allgemeine Testauswertung der Antworten? © Ron Mader under cc

Überraschenderweise zeigte sich in einem später durchgeführten Follow-up-Test, dass die Probanden weniger aus dem Fehler-Feedback gelernt hatten als aus dem Feedback, bei dem ihnen ihre richtigen Antworten bestätigt wurden. Probanden, welche ihre Fehler zurückgemeldet bekommen hatten, machten im Follow-up-Test mehr Fehler als Probanden, denen die Erfolge zurückgemeldet worden waren. Diese Ergebnisse konnten auch in anderen beruflichen und sozialen Kontexten, unter anderem mit Mitarbeitern eines Call-Centers, repliziert werden.

Was hat der Selbstwert damit zu tun?

Eskreis-Winkler und Fishbach erhoben in ihren Studien zudem das Selbstwertgefühl der Studienteilnehmer. Wenn die Probanden negatives Feedback zu ihren gemachten Fehlern erhielten, sank ihr Selbstwert im Anschluss ab. Erhielten die Studienteilnehmer dagegen das positive Feedback zu den richtigen Antworten, hatte dies auch positive Auswirkungen auf deren Selbstwert. Sie waren motiviert, in die nachfolgenden Aufgaben zu starten.

Lernt man aus Fehlern anderer?

In der Studie zeigte sich weiteres Verblüffendes. Die Probanden konnten zudem die gemachten Fehler anderer Probanden einsehen. Auch aus diesen lernten sie für sich selbst und die Bewältigung zukünftiger Aufgaben.

Eskreis-Winklers und Fishbachs Studienergebnisse zeigen, dass die Probanden anhand ihrer eigenen gemachten und zurückgemeldeten Fehler am wenigsten dazulernten. Dagegen lernten sie deutlich mehr anhand ihrer eigenen zurückgemeldeten Erfolge genauso wie anhand der gemachten Fehler der anderen. Fazit: Man lernt aus Fehlern, wenn sie den eigenen Selbstwert nicht bedrohen.

Der Fehler als Bedrohung für den Selbstwert

Mann Nahaufnahme Gesicht schwarz weiß

Auch im Erwachsenenalter sorgt negatives Feedback für eine Selbstwertverletzung. © syam under cc

Die Ergebnisse lassen gemäß der beiden Forscherinnen den Rückschluss zu, dass eigene Fehler nicht selbstwertdienlich sind. Demzufolge setzen sich psychologische Kompensationsstrategien beim Menschen in Gang, welche den Selbstwert schützen und wieder stabilisieren. Folglich neigen die Personen dazu, in die Verdrängung des negativen Feedbacks zu gehen. Kritik, selbst wenn sie konstruktiv ist, scheint demnach nicht annähernd so hilfreich für jemanden zu sein wie ein Lob oder ein Schulterklopfer für die erreichten Erfolge beziehungsweise ein eher allgemeines Aufzeigen der Fehler.

Was bedeuten diese Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung nun für unser Bildungssystem?

Feedback im Schulsystem

Im derzeitigen Schulsystem erhalten die kleineren und größeren Kinder ein Feedback zu ihrer Leistung über die Noten und die angestrichenen Fehler. Nicht nur von uns selbst sondern auch von anderen wissen wir, dass ein solches Feedback nicht selbstwertdienlich ist. Die Kinder »abzuhärten« oder »anzuspornen«, indem sie lernen, mit schlechten Noten umzugehen, funktioniert nicht unbedingt. Denn die durchgeführten Studien wurden an Erwachsenen vorgenommen und wie sich zeigt, verhalten sie sich bei Fehlerrückmeldung ganz und gar nicht so, als wenn sie abgehärtet sind geschweige denn angespornt.

Auch im eigenen Freundeskreis hört man hin und wieder: »Ich war ein schlechter Schüler.« Oder: »Ich bin nicht gut in Mathe.« Sätze, die man früher einmal in der Schule eingeimpft bekommen hat und die einen ein Leben lang prägen. Vielleicht wäre aus jemandem, der früher in Physiktests schlechter abschnitt, dennoch ein guter Physiker geworden? Womöglich hatte er lediglich versucht, bis ins Detail die Zusammenhänge zu begreifen, und hat deshalb etwas länger beim Verstehen der Theorien gebraucht? Und eventuell wäre aus einem solchen Schüler später ein weltbekannter theoretischer Physiker geworden, der bis dato angenommene, physikalische Grundsätze hinterfragt, zu neuen Erkenntnissen und theoretisch bahnbrechenden Ufern aufbricht und einen Paradigmenwechsel herbeiführt? Wir werden es nie erfahren, denn das Urteil, dass dieser junge Mensch nicht gut in Physik sei, wurde bereits während seiner Reifung gefällt.

Praktische Umsetzung im Bildungssystem

Schule gruene Mauer Kachelwand

Sollten wir die Art des Leistungsfeedbacks für unsere Kinder überdenken? © justine warrington under cc

Würde man anhand der replizierten Studienergebnisse von Eskreis-Winkler und Fishbach Veränderungen im Leistungsfeedback der Schüler anstreben, könnten diese wie folgt aussehen:
Zum einen wäre es möglich, die Stärken der Kinder zu betonen, ihnen zurückzumelden, was sie richtig gemacht haben und was sie besonders gut können. Zum anderen könnte man dann für die gesamte Klasse den Test noch einmal durchgehen und sagen, was im Durchschnitt falsch gemacht wurde bzw. wie viel Prozent der Schüler diesen Fehler gemacht haben. Anschließend ließe sich der Fokus darauf legen, wie es inhaltlich richtig sein müsste. Vielleicht müssen wir unser Verständnis von konstruktiver Kritik überdenken. Es könnte doch sein, dass Feedback nur dann konstruktiv ist, wenn es nicht selbstwertbedrohlich ist.

Im Laufe ihres jüngeren Entwicklungsalters streben Kinder auf natürliche Art danach, laufen und sprechen zu lernen. Warum können wir nicht darauf vertrauen, dass Kinder und Erwachsene auch im übrigen Leben auf ganz natürliche Art danach streben werden, sich in anderen Leistungsbereichen fortwährend zu verbessern? (Hinderlich wäre dabei nur, wenn sie im Laufe ihrer Kindheit bereits das Selbstbild von sich erhalten haben, nicht gut genug zu sein.)

Auf Kompetenzen vertrauen

Die Studienergebnisse von Eskreis-Winkler und Fishbach sind aus schulpsychologischer Sicht unbedingt beachtenswert. Sie zeigen uns auf, dass wir keinem das innewohnende Streben nach Verbesserung absprechen sollten. Stattdessen könnten wir darauf vertrauen, dass ein jeder die allgemein zurückgemeldeten Testergebnisse für sich selbst auswerten kann und wird – und seine eigenen Rückschlüsse und Lernerfahrungen daraus zieht.

Wie es scheint, lernt man aus Fehlern hauptsächlich, wenn man sie im Stillen für sich resümieren kann, ohne sie direkt aufgezeigt zu bekommen. Als Mitglieder einer westlichen Leistungsgesellschaft wurde uns schon in der Kindheit vermittelt, uns über unsere Leistungen zu definieren. So lange das so üblich ist, wird auch im Erwachsenenalter unser Selbstwert über unsere Leistungen beeinflusst und selbstwertregulatorische Prozesse in Gang gesetzt, die das Lernen erschweren.