Das Ende hat auch seine reizvollen Seite. © 9Bubblé under cc

Gibt es ein Ende der Geschichte, wenigstens der menschlichen Entwicklung? Und gibt es Verschmelzungen und Einheitserfahrungen, die nicht nur ungefährlich, sondern vielleicht sogar gesellschaftlich und individuell progressiv sind?

Wenn es stimmt, dass Verschmelzungen und Einheitserfahrungen kein, leider noch nicht ganz überwundener Quatsch sind, sondern das Salz in der Suppe, die Kirsche auf der Sahne, dann sollten wir verstehen, was sie dazu machen und ebenfalls, wie wir sie erreichen können. Im ersten Teil hatten wir verschiedene Wege zu diesen Erfahrungen vorgestellt: Drogen, Sex, Flow-Erfahrungen in Hobbys, beim Sport, aber auch der Schlaf oder die vielen Tagträume sind Wege, die uns das Leben versüßen, aber gleichzeitig gesellschaftlich nicht hoch im Kurs stehen.

Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen, zu viel davon ist sowieso nicht gut. So meinen es viele zu wissen. Wer Glück als Lebensziel hat, der ist ein Phantast, ein Spinner, eine, mit der was nicht stimmt. Da scheint es einen Bruch zwischen Gesellschaft und Individuum zu geben. Die Psychologie kennt diesen Bruch sehr gut, in einer seiner kraftvollsten Schriften formulierte Sigmund Freud, was ‚Das Unbehagen in der Kultur‘ ausmacht, es ist der stille Handel zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem der individuelle Triebverzicht die Eintrittskarte in die Gesellschaft ist, die sich imit Schutz und Zugehörigkeit erkenntlich zeigt.

Aber irgend etwas geht da nicht mehr auf, der Handel scheint nicht mehr so gut zu funktionieren. Oder es gibt noch einen anderen Bruch? Die Wege zu Einheit und Verschmelzungen zu erfahren beschränken sich nicht auf das Individuum allein, sondern auch auf Erfahrungen in der Gruppe oder Masse. In der Kooperation mit anderen kann man die beglückende Erfahrung machen, wie es ist mit anderen an einem Strang zu ziehen und gemeinsam Probleme zu lösen, Ziele zu erreichen. In der milden Entspannung mit anderen, im Konzert oder Stadion oder bei einet Liveübertragung kann man gemeinsam für eine Zeit regredieren. Man findet in dieser Zeit Entspannung vom Ich und steht als Einzelner nicht im Fokus und kann in diesem Rahmen Dinge tun und sagen, die am nächsten Tag, bei der Arbeit oder im Supermarkt hochgradig auffällig wären. Beim Länderspiel kann man so richtig aus sich rausgehen, aber umarmen Sie mal jemanden jubelnd im Geschäft, weil er die Suppe gekauft hat, die Sie auch so gerne mögen. Doch die Regression in der Masse kennt weitere Stufen und auch das Gefühl Teil einer besonderen Schicksalsgemeinschaft zu sein, kann erhebend sein. Verkannt und vielleicht umstellt von Idioten und Aggressoren, aber gerade deshalb ist man ja anders, nämlich auserwählt, besonders. Diese Einstellung ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht so toll, aber für den Einzelnen ein durchaus vitalisierendes Gefühl. Quasi über Nacht zählt man zur Elite, weil einem die Augen geöffnet wurden und man nun endlich erkennt, wie die Dinge wirklich laufen. Das fühlt sich super an und dass andere denken, man hätte eine Schraube locker, gehört dazu: Man versteht ja ihren Irrtum. Man war ja auch so.

Wenn also Verschmelzungen und Einheitserfahrungen das sind, was wir einerseits dringend brauchen, aber nicht alle Formen davon wirklich toll sind, dann lohnt es sich vielleicht darauf zu schauen, von welchen denn das Individuum und die Gesellschaft profitieren. Gesucht werden also Wege, die dem Individuum mehr oder weniger regelmäßigen Zugang zu bestimmten entspannenden, Sinn und Orientierung gebenden Empfindungen geben, wenn nicht sogar zu Gipfelerfahrungen. Am besten solche, die der Gesellschaft (oder sogar der Weltgemeinschaft) nicht schaden, sondern nutzen. Drogen und Faschismus wären also vielleicht keine idealen Kandidaten.

Das Ende der Geschichte 1.0

Das Ende der Geschichte war der Titel eines Buches des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, in dem er darzustellen versuchte, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft als die weltweit überlegenen Strategien erweisen werden. Das Ende der Geschichte ist aber inzwischen Geschichte. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung würde in der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft optimal befriedigt, wesentliche Neuerungen seien daher nicht mehr zu erwarten.

Gerade der Verlust sozialer Rollen und Anerkennung ist aber eklatant in unserer Zeit, die Gesellschaft zersplittert zusehends in Subsysteme, man glaubt nicht mehr daran, dass die nächste Generation es mal besser haben wird. Vielen ist Anerkennung viel wert. Sie würden gerne auf Teile ihres Lohns verzichten, wenn sie nur mal gelobt, wertgeschätzt und überhaupt wahrgenommen werden würden. Ehrlich wertgeschätzt, nicht der flotte Spruch im Vorbeigehen.

Wertschätzung ist die Anerkennung einer Leistung oder Haltung eines Menschen, durch die Gemeinschaft oder deren exponierte Vertreter. Wertschätzung kann man sich verdienen. Die einfachste Form ist, wenn man so funktioniert, wie die Gesellschaft es wünscht. Dann ragt man zwar nicht heraus, aber das will auch nicht jeder, man fällt aber auch nicht durchs Gitter. Ausgestoßen zu sein, war für uns soziale Wesen schon immer eine der härtesten Strafen überhaupt. Das ist anstrengend, umso mehr, wenn man ein Gefühl des Defizitären oder Minderwertigen verinnerlicht hat oder gespiegelt bekommt.

Auch hier hilft Entspannung von dem Druck. Die liebe Regression, als Kontrast zur harten und kalten Realität. Bett, Badewanne, Fernseher, Alkohol, Sex und Träume, das sind Orte und Möglichkeiten des Rückzugs. Wie auch das Stadion. Man muss nichts Besonderes leisten, es reicht sich ein Stück weit mit dem Verein zu identifizieren. Analog in einer Religion. Ein bisschen geregelt ist auch das, ein echter Fan oder Gläubiger ist auch bereit Opfer zu bringen und das wird auch von der Gemeinschaft erwartet. Oder bei der Arbeit, wobei man sich hier schon wieder ordentlich abstrampeln muss und die Anerkennung, wie gesehen, keineswegs immer erfolgt.

Demokratie und Marktwirtschaft scheinen bestimmte Bedürfnisse und wohl vor allem die nach sozialer Anerkennung nicht sonderlich zu befriedigen. Diese werden aber von Menschen dringend gebraucht, leider wird immer mehr Menschen Anerkennung und Aufmerksamkeit oft kategorisch verweigert. Man gibt ihnen viel mehr das Gefühl überflüssig zu sein. Es ist auch sonnenklar, wie das geändert werden kann, nämlich, indem man Menschen eine wertgeschätzte Rolle zuspricht, die sie aufwertet. Extremisten haben das längst begriffen und tun genau das. Sie versorgen die gesellschaftlich Marginalisierten mit einem ganz anderen Rollenbild, in dem ein Attribut – oft sogar das, für welches sie ausgegrenzt werden – überhöht und idealisiert wird. Nicht obwohl man so und so ist, ist man ein besonderer Mensch, sondern weil.

Gibt es diese Möglichkeiten auch in nicht regressiver Form, dass man erlebt dazu zu gehören?

Der Mythos und das Wir-Gefühl

Der gemeinsame Glaube an etwas löst ein Wir-Gefühl aus. Klassisch resultiert diese Gemeinsamkeit eher aus dem, was man in dieser Gemeinschaft tut, als aus einer Idee. Habermas zitiert hier W.R. Smith und schreibt:

„[I]n fast allen Fällen leitete sich der Mythos aus dem Ritus ab und nicht umgekehrt, der Ritus aus dem Mythos; …“[1] Eine umstrittene Deutung, die nicht restlos aufzuklären ist, Habermas tendiert zu der Auffassung, „dass Mythen die erste Gestalt der Versprachlichung rituell verkapselter sakraler Gehalte darstellen.“[2]

Aber es sind auch Narrative, Überzeugungen und tradierte Siege und Traumata, die eine Nation verbinden. Bei uns war dies unter anderem ein stiller Fortschrittsmythos, in dem die Überzeugung vorhanden war, dass die nächste Generation es mal besser haben wird, was denn sonst? Diese Überzeugung ist nach und nach weggebrochen und hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, viele fragen sich ob ihre Enkel noch ein lebenswertes Leben führen können und die Enkel selbst tun es auch. Ein neuer Mythos muss wachsen, man kann ihn nicht verordnen. Wie wir sahen, kann er sogar aus der Praxis erwachsen, in dem Wir diejenigen sind und uns als solche verstehen, die etwas auf eine bestimmte Art machen.

Der Mythos hat den Vorteil ein Ziel zu haben, entweder ein Ideal oder ein real zu verwirklichendes Ziel, an dem man sich orientieren und ausrichten kann. Der Mythos ist mit dem Ritus assoziiert und sollte es auch sein, wieder Habermas:

„Wir müssen beides zusammen sehen: „Framing“, also die Kraft des Mythos zur sprachlichen Welterschließung […] geht Hand in Hand mit „re-enacting“, mit der periodisch wiederholten „Aufführung“ des Mythos. Diese verjüngende und verwandelnde Rückkehr zu einem ursprünglichen Ereignis macht für Mircea Eliade überhaupt des Kern des Sakralen aus: „[D]a die rituelle Rezitation des kosmogonischen Mythos die Reaktualisierung dieses primordialen Ereignisses bedeutet, so folgt daraus, dass der, für den man rezitiert auf magische Weise in ‚jene Zeit‘ projiziert wird, an den ‚Beginn der Welt‘. Es handelt sich also für ihn um eine Rückkehr zur Zeit des Ursprungs […].““[3]

Im Ritus, in der Praxis ist ein Element der Wiederauffrischung verborgen, man vergewissert sich im Ritual immer wieder, dass man Teil des Ganzen und der Gemeinschaft ist. Gleichzeitig kann man aber in diesen rituellen Begegnungen entweder gemeinsam auf die erste Stufe der Regression zurück fallen oder sogar progressiv mit anderen ein Gefühl der Einheit erleben, welches das Ich stärkt, nicht schwächt. So können auf einer kollektiven Ebene Verschmelzungen und Einheitserfahrungen ins Leben eingeflochten werden, zusammen mit Sinn und Orientierung. Doch auf diese kollektive Ebene sind wir in Teil 2 stärker eingegangen, hier soll es um die Möglichkeiten des Individuums gehen.