Wenn Erziehung scheitert, empfiehlt sich in naheliegender Weise das komplette Gegenteil: Nicht zu erziehen. Doch damit ist nicht die totale Anarchie gemeint, sondern neben der Freiheit und dem respektvollen Umgang auf Augenhöhe auch ausreichend Struktur und Eigenverantwortung. Ich stelle eine Behauptung auf, die nicht wenige überraschen dürfte: Kinder sind von Natur aus kooperativ und emphatisch.

Kinder sind kooperativ und emphatisch

Wenn sie sich sträuben und gegen andere stellen, dann häufig deshalb, weil sie sich missverstanden fühlen, weil man sich ihnen gegenüber übergriffig verhalten hat, weil man ihnen suggeriert hat, nicht gut genug zu sein. Das muss nicht zwangsläufig im Elternhaus geschehen sein. Auch in der Schule oder generell unter Gleichaltrigen kann es zu solchen Verletzungen der individuellen Souveränität kommen, welche aus dem Selbstschutz heraus beim Kind in unschönem Verhalten münden können. Manchmal ist den Kindern auch einfach langweilig, sie wissen nicht, wohin mit sich und ihren Eindrücken und Gefühlen, manchmal sind sie erschöpft oder überreizt. Genauso wie bei uns gibt es tausend Gründe, warum man übellaunig sein kann. Wieso glauben wir, ihnen diese Empfindungen absprechen zu können, indem wir sie »erziehen«? Besser ist es, ihnen einen Rahmen zu geben und ihnen vorzuleben, wie man mit diesen Unstimmigkeiten im Inneren umgehen kann.

Und gleichzeitig bestätigte sich die These, dass die meisten Menschen gute Leute waren, wenn man sie nur gut behandelte …

Michelle Obama, »Becoming«

Wenn Erziehung scheitert: SOS-Erziehungstipps

Wir werden hier keine Wenn-Dann-Formulierungen vornehmen, sondern an die Eigenverantwortung der Eltern appellieren. Auch Sie sollten sich trauen, Fehler zu machen, auch Sie sollten sich im Umgang mit Ihrem Kind korrigieren dürfen, auch Sie sollten sich Unsicherheiten eingestehen – und Sie sollten das ganz offen und authentisch mit Ihrem Kind teilen. Denn genau das ist das Leben! Wir brauchen unseren Kindern nicht mit Urlauben und Geschenken zeigen, wie schön das Leben und wie erstrebenswert Geld sein kann. Das können wir auch tun, doch es sollte nicht zuvorderst geschehen. Zuvorderst müssen wir unseren Kindern zeigen, wie der ganz normale Alltag mit allen Komplikationen und Stimmungen zu bewältigen ist.

Authentisch sein

Kind auf Papas Arm erschöpft

Nach einem anstrengenden Tag hilft Unterstützung. © Nicolas Alejandro under cc

Erziehung scheitert immer dann, wenn man nicht authentisch ist. Authentizität ist das Wichtigste im Umgang mit den Kindern. Kinder sind klug, sie merken, wenn man ihnen etwas vormacht. Das heißt nicht, dass Sie ins Kinderzimmer rennen und all Ihre Probleme mit dem Nachwuchs besprechen sollen. Oder dass Sie vor Ihrem Kind mit Ihrem Partner streiten sollen. Kinder dürfen Kinder sein und haben ein Recht auf eine unbelastete Kindheit. Es heißt lediglich, dass Sie Ihrem Kind authentisch vorleben, wie man dieses Leben zu seinen Bedingungen authentisch meistert. Dazu gehört, dass man manchmal keine Lust hat morgens aufzustehen und es nur wegen des Geldes macht. Dazu gehört, sich abends erschöpft auf das Sofa fallen zu lassen, weil man einfach Ruhe braucht. Einfach stumpf aufs Handy schauen oder den Fernseher laufen lassen. Auch das machen wir! Wem wollen wir etwas vormachen? Unseren Kindern, die mit uns tagtäglich zusammenleben und uns beobachten?

Wir können auch Erschöpfung und Übellaunigkeit kommunizieren, ohne den anderen dafür direkt oder indirekt in die Verantwortung zu nehmen, und uns deshalb zurückziehen (wenn das Kind ein entsprechendes Alter hat). Man sagt: »Ich bin heute nicht gut drauf. Ich werde mich heute etwas mehr zurückziehen.« Kinder ab einem gewissen Alter werden dafür Verständnis haben, umso stärker sie auch gewohnt sind, dass man ihre Grenzen respektiert.

Kommunikation ist alles

Ja, manchmal hat man das Gefühl, man würde quatschen wie ein Wasserfall, doch die angehenden Schulkinder löchern weiter mit Fragen, manchmal werden sie sogar knatschig dabei. In dem Fall ist es vielleicht ratsam, nach einigen gegebenen Antworten einfach mal zuzuhören. Gegenfragen zu stellen, was die Kleinen glauben, wie die Antwort auf ihre Frage lautet. So lernt man dahinterliegende Sorgen, Ängste und Motive kennen. Eventuell kann man auch Gespräche auf die Abendbrotzeit verschieben und dadurch einen Kompromiss zwischen den Alltagsanforderungen und den kindlichen Bedürfnissen finden. Glauben Sie mir, Kinder werden merken, wenn man sie für voll nimmt und ihnen wahrhaftig auf Augenhöhe begegnet. Und sie werden es zu schätzen wissen.
Man kann erklären, warum diese oder jene Situation jetzt notwendig ist. Zudem kann man Alternativen anbieten, um Kompromisse zu erarbeiten. Man kann kindgerechte Zeitpläne oder Lernziele oder Verabredungen erarbeiten, an denen Kinder und Eltern (!) sich orientieren sollten.

Falls es nicht gleich klappt: Who cares?!

Bahnhofsuhr Dach

Unser Leben ist von Zeit bestimmt. © Lukas Pohlreich under cc

Wie oft haben Sie sich schon mal etwas vorgenommen und es nicht eingehalten? Oft, oder? Öfter, als man sich eingestehen möchte. Bitte gestehen Sie diese Hin-und-Wieder-Nachlässigkeiten auch Ihren Kindern zu. Es gibt Zeitpläne oder Lernziele, die man unbedingt einhalten sollte, und welche, bei denen es mehr Freiheitsgrade gibt und an denen man üben kann. Für die Eltern gilt: Vorausschauender Planen und Pufferzeiten berücksichtigen.

Fehler passieren

Wenn Sie googeln, werden Sie unzählige psychologische Artikel darüber finden, wie man mit Fehlern am besten umgeht und nicht in die totale Selbstabwertung verfällt. Warum ist das so?

Den Minderwert nicht füttern

In einer Lern- und Leistungsgesellschaft haben wir verlernt, natürlich mit Misserfolgen umzugehen. Erst in den letzten Jahren beginnt man, Fehler als wertvolle Lernerfahrungen zu betrachten. Fehler bestimmen nicht über den Wert einer Person. Seien Sie also der notwendige Schutzwall zwischen der gesellschaftlichen Leistungsbewertung und dem empfindsamen Gemüt Ihrer Kinder. Gehen Sie ehrlich damit um. Sagen Sie, dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen. Sagen Sie, dass Sie auch nicht fünf aktive Vulkane Europas kennen (siehe die Schulaufgabe in Teil eins dieser Artikelserie) und gestehen Sie ruhig auch scherzhaft, dass Sie auch nicht wissen, warum man solches Wissen für das Leben bräuchte. Sicherlich ist es interessant, das mal gehört zu haben, aber werden wir es behalten? Vermutlich nicht. (Und wenn, dann nur insoweit, weil ich in diesem Artikel dieses Beispiel immer wieder heranziehe und Sie diese Vulkane googeln wollen.) Oder wie oft mussten Sie im Laufe Ihres Erwachsenenlebens die chemische Formel von Salpetersäure aufsagen? Die Schule zeigt uns auf, welche Vielfältigkeit das Leben auf dieser Erde für uns bereithält, und das ist großartig! Aber wir werden kein schlechterer oder wertloserer oder dümmerer Mensch sein, nur weil wir kurz darauf das Meiste wieder vergessen haben.

Leistungsdruck rausnehmen

Teenager Mädchen Schulbücher Stift

Für den Moment das Beste geben und mit Misserfolgen umgehen können, reicht völlig aus. © CollegeDegrees360 under cc

Kinder lernen viele Sachen für Tests. Man weiß aus Studien, dass bereits ein gutes Jahr nach dem Abitur etwa 60 Prozent des Lernstoffes aus den Köpfen der Heranwachsenden entschwunden ist. Oder war es sogar noch mehr? Keine Ahnung. Obwohl ich diese Studie sehr spannend fand, habe ich die Prozentangabe vergessen. Bei Interesse können Sie es gerne googeln. :)

Insgesamt zeigen psychologische Studien zu den Vergessenskurven des deutschen Psychologen Hermann Ebbinghaus, dass je nach individuell eingeordneter Wichtigkeit der Lernstoff mal weniger und mal mehr vergessen wird. Feststehende Gesetzmäßigkeiten werden besser behalten und weniger vergessen als beispielsweise Gedichte oder sinnlose Silben, welche man nach etwa 30 Tagen nahezu vollständig vergessen hat.
Fazit: Je mehr Tage verrinnen, desto mehr wird der Lernstoff vergessen. Und je sinnloser man den Lernstoff einordnet, desto schneller wird vergessen.

Keine Ängste schüren

Menschen lernen von Natur aus, was sie zum Leben brauchen. Es beginnt mit dem Sprechen und dem Laufenlernen im Kleinkindalter. Dahingehend vertrauen wir auf die Fähigkeiten des Kindes. Wir erfreuen uns an den Fortschritten und ermuntern sie mit einem Lächeln oder motivierenden Worten dazu. Sobald Kinder in die Schule kommen, wird das Lernen weniger intuitiv angesehen. Mehr und mehr werden Lerninhalte explizit angeboten, weil natürlich auch die Themen ganz andere sind. Die Angst davor, dass das Kind in der Leistungsgesellschaft nicht bestehen kann, versetzt uns in Panik. Und damit machen wir mehr kaputt in der Psyche des Kindes, als wir erahnen.
Ab dem Schulalter vertrauen die meisten Eltern nicht mehr darauf, dass die Kinder für sich lernen werden, was sie für wichtig erachten. Warum entziehen wir ihnen plötzlich die Eigenverantwortung, die wir ihnen beim Laufenlernen zugestanden haben, schüren stattdessen Ängste und Leistungsdruck? Warum entmündigen wir unsere Kinder plötzlich? Weil wir unsere eigenen Ängste auf sie übertragen.

Kinder sind nicht dafür da, unsere Ängste auszuhalten

Linienblatt viele Nos ein Yes

Wenn Erziehung scheitert: Warum es mehr Jas und weniger Neins geben sollte. © *_Abhi_* under cc

Entzieht man den Kindern die Eigenverantwortung, suggeriert ihnen ängstlich, nur mit großer Anstrengung genügen zu können, ist es zur Selbstaufgabe und zum pubertären Verhalten eines Heranwachsenden nicht mehr weit. Dann scheitert Erziehung. Geben Sie Ihren Kindern die Souveränität als Menschen zurück. Eigenverantwortliche Kinder und Teenager werden eher für sich selbst Sorge tragen wollen und den Lernstoff für den Test pauken als solche, welche mit katastrophisierendem Denken, Angst, Minderwertigkeitsgefühlen, drohendem Kontrollverlust und Druck dahin gebracht werden.

So scheitert Erziehung nicht: Freiheit bedeutet Selbstfürsorge und Eigenverantwortung

Zum Abschluss dieses Artikelteils möchte ich Ihnen ein Zitat meines elfjährigen Sohnes mit auf den Weg geben, er kam soeben zu mir ins Zimmer und sprach:

Ich habe mir den Anime vorher auf japanisch angesehen. Dann habe ich gegoogelt und doch noch eine Version auf Englisch gefunden. Nun verstehe ich mehr von der Geschichte.

Und das, obwohl er rein deutschsprachig aufgewachsen ist und meine Englischfähigkeiten trotz 13 Jahren Schulausbildung eher moderat sind.

Gehen Sie bitte gedanklich kurz in sich. Sobald Sie selbst etwas als nicht wichtig erachten, werden Sie es weder gut lernen noch behalten können. Gleichermaßen können Sie sich bei Ihren Kindern Kopf stellen. Wie jeder Mensch entscheiden Kinder selbst, was sie wichtig finden und was nicht. Alles, was Sie als Eltern dazu beitragen können, ist Ihren Kindern/Teenagern die schulischen Lerninhalte vernünftig und ehrlich einzuordnen – nämlich, dass ihnen dadurch wichtige Dinge über die Welt nährgebracht werden und sie es für Tests lernen müssen, weil sie es im Rahmen ihrer Selbstfürsorge für einen Schulabschluss brauchen. Mehr nicht. Viele dieser Lerninhalte werden die Kids für das spätere Leben nicht brauchen – und vergessen. Das ist Fakt. Ihre Kinder werden erleichtert sein, das zu hören, und mit mehr Lockerheit an den Stoff herangehen. Ansonsten können Sie angemessen zum Alter des Kindes einen zeitlichen Rahmen für die Bearbeitung des Lernstoffes ansetzen.

Interessen nicht bewerten

Wenn Sie die Interessen Ihrer Kinder nicht bewerten und in sozial erwünscht oder unerwünscht einordnen, sondern die Kinder in deren Freizeit tatsächlich weitestgehend machen lassen (natürlich empfiehlt es sich bei den Medieninhalten ein Auge darauf zu haben), dann werden Sie überrascht sein, wozu Ihre Kinder fähig sind.
Wenn Sie Ihren Kindern die Angst vor dem Versagen oder den Misserfolgen nehmen, indem man Fehler als menschlich deklariert, wird dies Ihren Kindern lebenslang von Vorteil sein. Denn etwas anderes besitzen Kinder ebenfalls von Natur aus: Den innewohnenden Wunsch, sich verbessern zu wollen. Wir müssen ihnen lediglich mit Kooperation, Zuspruch und Vertrauen begegnen. Seien Sie gewiss, Ihre Kinder wollen ganz intuitiv überleben. Sie streben keine Drogenkarriere auf der Straße an. Vertrauen Sie ein bisschen darauf und bestärken Sie Ihr Kind in der Eigenverantwortung und Selbstfürsorge. Dann scheitert Ihre Nicht-Erziehung nicht.

Im nächsten und letzten Teil unserer Reihe zu den SOS-Erziehungstipps, wenn Erziehung scheitert, werden wir weitere Punkte, wie man »NICHT« erzieht, herausarbeiten: Umgang mit ungehorsamen Kindern? – SOS-Erziehungstipps (3).