Auf die Frage, warum Männer nicht zum Arzt gehen, gibt es mehrere Antworten, die jeweils aus unterschiedlichen Lagern kommen.
Darüber hinaus kann man das Thema zu der Frage erweitern, wie Männer denn nun eigentlich sind. Da gibt es sehr unterschiedliche Antworten und das Thema gewinnt dann durchaus eine erhebliche Wucht. Das klingt etwas theoretisch, daher können wir es an einer konkreten Frage erläutern, nämlich der aus der Überschrift.
Warum gehen Männer nicht zum Arzt?
Natürlich ist das eine Zuspitzung, auch Männer gehen zum Arzt. Vor allem dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Nun gibt es aber auch bei den Männern keine homogene Grundgröße, die sie alle vereint. Zumindest ist das die Frage, ob es etwas gibt, was Männer zu Männern macht und damit von Frauen prinzipiell unterscheidet?
Es gibt drei Antworten darauf, die mit unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern in Verbindung stehen:
Das biologische Lager
Ja, es gibt klare Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die biologischer Natur sind und die man auch nicht wegdiskutieren kann. Diese betreffen viele Aspekte der biologischen Erscheinung. Es mag Bereiche geben, in denen einige Frauen manchmal ausgeprägtere männlichere Erscheinungsformen haben als einige Männer und umgekehrt, in denen es Männern so geht, dass sie weiblicher erscheinen als Frauen, aber am Ende bleiben in der Menge doch Unterschiede, die man nicht negieren kann.
Diese Unterschiede beziehen sich nicht nur auf rein körperliche Aspekte, sondern ebenso auf psychische Eigenschaften. Auch da gilt, dass es feminine Eigenschaften unter Männern und maskuline bei Frauen gibt, aber auch hier dominieren am Ende des Tages die geschlechtstypischen Unterschiede.
Das gendertheoretische Lager
Nein, es gibt keine letztendlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und das führt so weit, dass man eher zur Frau oder zum Mann gemacht wird, als es von Anfang an zu sein. Biologische Unterschiede existieren zwar auch für die meisten Gendertheoretikerinnen, aber sie gehen nicht so weit, dass man dazu berechtigt ist eindeutige Lager oder eben Geschlechter zu postulieren, vielmehr gibt es ein Kontinuum, das biologische und soziale Aspekte enthält und sich auf viele Komponenten erstrecken kann.
Dazu gehört die eigene Identifikation mit einem Geschlecht, die männlich, weiblich oder divers sein kann, die sexuelle Objektwahl. Die Art und Weise, wie oder als wer man sich fühlt, kann beträchtlich von der Zuschreibung durch andere abweichen, oder dem, wie man ’gelesen’ wird.
Das psychologische Lager
Hier lautet die Antwort: Einerseits …, andererseits … .
Es gibt kein letztliches psychologisches Lager das genau eine eindeutige Auffassung vertritt, auch kein biologisches oder gendertheoretisches, aber es gibt starke Tendenzen. Im psychologischen Lager gehen sie in die Richtung, dass man anerkennt, dass es sowohl biologische als auch soziokulturelle Aspekte unser individuelles Sosein gibt. Nicht nur, dass diese irgendwie in uns vermischt sind, sondern, dass diese miteinander wechselwirken. Das heißt es gibt eine Rückkopplung von biologischen, soziokulturellen und auch individualpsychologischen Faktoren, in der Psychologie sind diese lange schon unter Begriffen wie psychosomatisch und später dann biopsychosozial bekannt.
Dazu kommt, dass die biologischen und psychosozialen Faktoren so eng miteinander verbunden sind, dass sich eine klare ursächliche Zuordnung irgendwann nicht mehr sinnvoll durchführen lässt. Beide sind verwachsen und bilden ein Amalgam, so wie man Kaffee und Milch vielleicht noch theoretisch entmischen kann, aber praktisch nicht mehr.
Warum gehen Männer nicht zum Arzt?
Es gibt mehrere denkbare Begründungen, im Lichte der obigen Lager. Arztbesuche sind fast immer mit Stress verbunden. Man hat Schmerzen, ist hilflos und weiß nicht, wie die Ergebnisse ausfallen, bei Labor- oder Vorsorgeuntersuchungen. Dazu muss man oft warten und kann den Stress auch nicht ausagieren. Man muss ruhig bleiben, damit der Arzt untersuchen kann, kein Kampf oder keine Flucht ist möglich.
Der Paradefall ist hier der Zahnarztbesuch. Man liegt auf dem Rücken, ist bei Schmerzen zur Passivität verurteilt und gerade an den eigenen Waffen wird noch manipuliert, wenn man es archetypisch betrachtet. Hilfloser kann man sich kaum fühlen und das, so behaupten manche aus dem biologischen Lager, fällt Männern schwerer als Frauen, wenn nicht in allen Fällen, so doch wenigstens statistisch. Der Grund sollen die Hormone sein. Bei Gefahr will man sich wehren oder flüchten, zumindest aktiv sein, Passivität soll Frauen viel leichter fallen als den Männern.
Nun könnte man sagen, dass man doch weiß, dass der Arzt nur helfen will und im Grunde auf unserer Seite ist. Aber da kommt gleich die nächste Problematik ins Spiel, die typisch männlich ist. Zumindest wird das behauptet. Männer können Hilfe nicht besonders gut annehmen. Für Frauen soll es in Situationen, die sie selbst nicht bewältigen können, eine Auszeichnung sein, wenn ihnen jemand hilft, von Männern wird es eher als Demütigung empfunden. Auch hier wird biologisch argumentiert, nämlich mit dem Verhältnis von Testosteron, das bei Männern statistisch bei weitem stärker im Blut kreist und das steht neben Kampf auch für Konkurrenz. Das Hilfsangebot eines Mannes an einen anderen kann aus dieser Sicht auch eine Überlegenheitsgeste sein: Komm, ich helf‘ dir, du schaffst es sowieso nicht, ich kann oder weiß das viel besser.
Auf der anderen Seite steht das Oxytocin, das auch das Kuschel- oder Bindungshormon genannt wird und im Körper der Frauen in größeren Mengen vorkommt. Daher, die größere Fähigkeit sich anzupassen und die empfundene Aufwertung, wenn da jemand ist, der sich um mich kümmert.
Aus Sicht des biologischen Lagers sind Männer also doppelt schlecht dran, wenn sie zum Arzt gehen. Wenn sie gestresst sind, können sie nicht gemäß der biologischen Dispositionen agieren, Kampf und Flucht sind keine guten Optionen, und sich anzuvertrauen, vielleicht auch noch einem Mann, einem potentiellen Konkurrenten, das ist eine zusätzliche Herausforderung.
Archetypen und die Grenzen der Biologie
Nun ist an den Aussagen über den Hormonstatus aus allem möglichen Lagern Kritik geübt worden. Die feministischen und gendertheoretischen Einwände werden aus einen Reflex heraus oft abgetan, bei dem es aber eher um politische Zuspitzungen geht. Auch aus der biologischen Perspektive kann man Kritik an den oft zu großen Vereinfachungen üben, aber große Vereinfachungen sind eben griffig und bieten eine schnelle Orientierung. Schaut man genauer hin, wird es auch in der Biologie fisselig.
Biologische Erklärungen sind hilfreich, wenn sie in ein Gesamtkonzept eingebettet werden. Sie überschreiten die Grenze zum Biologismus, wenn sie die Deutungshoheit beanspruchen und das letzte Wort haben wollen. Dann wird Wissenschaft zur Ideologie.
Eine interessante Variante bringt die Rede von den Archetypen ins Spiel. In der Wissenschaft werden sie so gut wie nicht erwähnt, man kennt sie von Platos Philosophie und von Carl Gustav Jungs Psychologie. Aber auch im Dao de Jing oder indischen Religionen und Weisheitslehren geht es um archetypisch weibliche und männliche Formen.
Aber was sind nun eigentlich diese Archetypen? Die Antwort lautet, dass das nicht klar ist. Alles in allem gelten Archetypen als Muster, die die gesamte Wirklichkeit durchziehen, sowohl die physische, biologische, soziale und die der Gefühls- und Ideenwelt.
Wenn darüber diskutiert wird, wie Männer und Frauen denn eigentlich sind, wird häufiger auf archetypische Muster zurückgegriffen, als dies gewöhnlich bewusst ist. Biologische Erkenntnisse werden eher begründend eingeflochten, denn die Muster sind älter als die Fähigkeiten den Hormonstatus zu analysieren. So lautet denn auch die ernstzunehmende Kritik an der Vorstellung, wie Frauen und Männer denn sind und zu sein haben, dass es sich dabei letzten Endes um eine unablässige Wiederholung alter Stereotypen handelt, die von den damaligen, fast immer und überall patriarchalen Mustern geprägt wurden.
Die archetypischen Muster wären dann also gar nicht archetypisch, sondern historisch gewachsene Rollen und Strukturen, die dann zu ihrer eigenen Begründung herangezogen werden und das ist eine zirkuläre, also unzulässige Begründung. Dem kann man aber entgegenhalten, dass die Tatsache, dass das Patriarchat historisch so stark dominierte, ja durchaus auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinweist.