Ein klassisch archetypisches Motiv ist der Abstieg in die Unterwelt. Was in Märchen, Mythen und Heldensagen als äußeres Abenteuer dargestellt ist, ist oft genug ein nach außen gestellter innerpsychischer Prozess. Eine Art von Reflexion, eingekleidet in mythische Bilder, von denen man annahm, dass sie allen Menschen etwas zu sagen haben.
An den Abstieg in die Unterwelt sind stets verschiedene andere Assoziationen gebunden. Oft das Motiv des Alleinseins, des Ausgesetztseins, der Verirrung. „Hänsel und Gretel, verirrten sich im Wald…“ beginnt ein volkstümliches Märchen und Dantes Göttliche Komödie beginnt damit, dass er, in der Mitte des Lebens angekommen, in einem dichten Wald, vom rechten Weg abkommt.
Auch in „Der Herr der Ringe“ durchqueren die Gefährten dunkle Wälder und selbst im Zeitalter von Wegweisern und Navi ist dieses Motiv noch nachvollziehbar.
Der Abstieg ist ein archetypisches Symbol dafür, dass man sich verirrt hat, nicht mehr allein weiter weiß und obendrein die Konsequenzen zu erdulden hat, denn man befindet sich ja bereits in diesem Wald, es gibt nun kein Zurück mehr. Und es ist oft finster, bitterkalt, unheimlich, verwirrend, es drohen Gefahren von unbekannten Wesen. Wer die Reise in die Reiche des Unbewussten antritt, der begibt sich in Gefahr. An dieser Stelle wird vielleicht auch klar, dass Träume von Wäldern immer auch Träume vom Unbewussten, von Verirrung und antizipierten Gefahren sind.
Symbole der Unterwelt
Den Abstieg in die Unterwelt symbolisieren auch andere Übergänge ins Innere. Die Treppe in den Keller, mit Stufen aus knarrendem Holz oder durch die Jahre abgerundetem Stein, dorthin wo es dunkel ist und modrig riecht.
Der Brunnen, der in die Tiefe ragt, dessen Grund nicht zu sehen ist. Die Quelle, die aus dem Felsen entspringt, die Höhle und ihre verwirrenden Gänge. Aber auch die Nacht, das Dunkle, Unbekannte, das Grab, der Schatten.
Die Unterwelt wird oft mit der Natur assoziiert, allerdings mit den Aspekten, die wir nicht verstehen, nicht durch Aktivität und Willenskraft in den Griff kriegen. Das Dunkle, Unheimliche, Rätselhafte, Unbekannte ist daher auch immer ein archetypisch weiblicher Aspekt, denn Aktion und Verstand werden bei uns mit dem Männlichen assoziiert.
Doch es ist nicht allein die äußere Natur, es ist auch das Ende der Aktivität und des Wollens in uns, symbolisiert durch das Grab, den Schlaf, die Traumwelten, die Sexualität, Welten die man nur dann bewusst kennenlernt, wenn man sich hingeben kann, passiv wird, geschehen lässt.
Es sind die ambivalenten Bereiche, die verschlingenden Meerestiefen des Wassers und die lebensspendenden Bereiche der Feuchtigkeit. Einerseits ekelt uns das Feuchte, Glitschige, doch es ist auch gebährend und spielt bei der Sexualität eine erhebliche Rolle.
Erneut taucht hier das Motiv der Höhle und des Eingangs und Übergangs auf: im Mutterleib und seinem Ein- und Ausgang, der Vagina. Und wieder kann man sich bei diesen Abstieg in die Unterwelt, des Triebhaften und Emotionalen, verirren und den Verstand verlieren.
Vitriol
Vitriol, dieses Wort ist mehrdeutig. Zum einen symbolisiert es in einigen Zusammenhängen den Stein der Weisen in der Alchemie und deutet als Akronym, das in lateinischer Sprache „suche das Innere der Erde auf und durch Läuterung wirst du den geheimen Lapis finden“ besagt, den Weg zur Gewinnung dieses Steins an. Und wir dürfen davon ausgehen, dass das „Innere der Erde“ auch hier in einem doppelten Sinne des Inneren der Psyche, des Unbewussten, zu verstehen ist.
Das zeigt aber zugleich die Bedeutung, die dem Abstieg in die Unterwelt von jeher beigemessen wurde. Die Heldenreise war immer die Konfrontation mit dem eigenen Schatten, mit den Abgründen, aber auch den Verlockungen der eigenen Innenwelt.
Diese sind ein Grund, warum diese Reise immer wieder von Neuem begonnen wurde und wird. Der Lohn ist kein geringer, wenn man den Verlockungen widersteht, so wie der Buddha es tat oder in unserem Kulturkreis Odysseus, der sich weder becircen ließ, noch dem Sirenensang verfiel. Der Lohn ist der Stein der Weisen, ist Erleuchtung, doch zu gewinnen sind sie stets nur über die Konfrontation mit dem eigenen Schatten, den vorherigen Abstieg in die Unterwelt.