Begriffe verändern sich im Laufe der Zeit und das gilt auch für den Begriff der Dekadenz, der so ziemlich alle Wendungen mitgemacht hat. Alle paar Jahre taucht er wieder auf. Einige werden sich noch an den Ausspruch des damalige FDP Vorsitzenden Guido Westerwelle erinnern, der schrieb: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“[1] Ein hoch unglücklicher Zusammenhang, den Westerwelle später bereute, denn die Hartz IV Realität hält den Vergleich mit Dekadenz nur im Angesicht der Slums und Elendsviertel der Welt aus.
„Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff Dekadenz oder dekadentes Verhalten überwiegend gleichgesetzt mit Schwächlichkeit, Verkommenheit und/oder Verschwendung sowie im Sinne eines sozial schädlichen (vorwiegend moralisch-ethischen) Abweichens von einer gesund-natürlichen Lebensform verwandt. Oft wird der Begriff kritisch gegen das Verhalten von Personen mit angesonnener Vorbildaufgabe, also Personen des öffentlichen Lebens, Medienstars u. ä. gekehrt.“[2]
Extremistische Kreise sehen vor dem Hintergrund ihrer Ideologie den Westen gerne pauschal als dekadent an, weil er zu weichlich und individualistisch ist, manche betonen auch eine sexuelle Verkommenheit, aber häufig und ideologisch unschuldiger steht Dekadenz für hemmungsloses Prassen, Überkonsum, oder etwas zu machen, einfach, weil man es kann, ohne das Gefühl zu haben, sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Die Party auf der ausladenden Privatyacht vor Monaco, mit den unvermeidlichen Zutaten: reiche Männer, schöne Frauen, Kaviar und Champagner, so unbeschwert, kann das Leben sein. Der Privatclub für junge Milliardäre. Der glasige Blick, auf die steigenden Aktienkurse, die man selbst beeinflusst hat, solche Bilder mögen aufsteigen.
Aber oft sind es nicht mal die Reichen, Schönen und Mächtigen die – nicht selten als Projektionsfläche – die Wut auf sich ziehen, sondern der gedankenlose Nachbar, der alles falsch macht und stellvertretend für all das steht, woran die Welt untergehen wird.
Spielverderberei ist nicht der richtige Ansatz
So verständlich die Wut und manchmal auch nur der Neid sein mag, so wenig wird in der Regel damit erreicht. Moral ist eine wichtige Komponente der Persönlichkeitsentwicklung, aber Moralismus ist dann ätzend, wenn er eine selbstgefällige Pose ist, die sich zur Schau stellt. Der Punkt an dem viele abschalten, ist, dass ein mehr oder weniger willkürlich ausgewählter Bereich des Lebens nicht in seiner Symbolik erfasst wird, sondern frontal angegangen und zum wichtigsten Thema der Welt aufgeblasen wird; und dieser Einstellung haben, nach Meinung des Moralisten, gefälligst alle zu folgen, schließlich macht er das auch. Mit dem SUV die 200 Meter zum Bäcker fahren, gedankenlos Plastiktüten verschwenden, falsch heizen und beleuchten, an den Folgen von Übergewicht leiden, Intensivmedizin für Haustiere oder eben die Coffee to go Becher, mit dem Flieger in den Urlaub oder gar die Kreuzfahrt, die inzwischen für fast jeden erschwinglich ist, jeder hat was anderes, was er grauenhaft findet.
Gerechtigkeit ist auch dann erreicht, wenn es allen gleichmäßig schlecht geht, aber man darf schon die Frage stellen, ob man das als übergeordnetes Ziel ausgeben sollte, denn eigentlich ist der bessere Ansatz, den Wohlstand oder besser noch das Glück, zumindest aber die Zufriedenheit zu mehren, freilich so, dass uns der Planet nicht um die Ohren fliegt. Das wird als die große Aufgabe unserer Zeit angesehen, nur wird dabei gerne mal vergessen, dass man jemandem nicht vorschreiben kann, wann er glücklich ist oder womit er glücklich zu sein hat. Die Lust an Verboten, bis hin zum liebäugeln mit Diktaturen ist immer wieder ein verlockender Ansatz, er klingt so schrecklich vernünftig.
Härte, Disziplin und Verzicht als Gegenmittel?
Für manche ist die Lösung ganz einfach, man muss sich eben in Disziplin üben. Manche Menschen sind stolz darauf, dass sie nur zwei Stunden geschlafen haben, weil sie darum so ungeheuer produktiv und gnadenlos erfolgreich sind. Immer aktiv, immer leistungsbereit und immer ganz weit vorne, wenn es darum geht, 120% zu geben, yeah. Manche Lebensansätze sind ihre eigene Bestrafung, aber wer sich chronisch großartig, perfekt und überlegen fühlen muss, der ist eben nicht wirklich frei.
Dabei soll der Marshmallow-Test es an den Tag bringen und tut es auch mehr oder weniger verlässlich. Wer sich bremst, gewinnt und in der Tat zeigt sich, immer wieder, dass Impulskontrolle Vorteile bringt, die sich auch darin manifestieren, dass man es in der Schule bessere Leistungen zeigt und die Karriere besser gelingt. Aber ist das allein schon Glück? Nein, das würden wohl auch die Anhänger zugestehen, aber es kann eine Grundlage für das Glück sein, denn Erfolg, Wohlstand und soziale Anerkennung sind Bausteine des Glücks.
Nur hat man gelegentlich das Gefühl, dass die Superehrgeizigen und -diszipinierten nicht so gut den Schalter umgelegt bekommen und sich dann auch mal gönnen können faul zu sein, sich gehen zu lassen und ja, ein kleines bisschen genießen zu können, denn auch dort hört der ehrgeizige Wettstreit oft nicht auf. Alles muss noch größer und pompöser werden, die Party wird zur Inszenierung, das Leben mehr und mehr zur Show, die Fähigkeit zu genießen degeneriert allmählich und man braucht die anderen nur noch als Zeugen, für die eigene Großartigkeit oder um sie zu dominieren. Ein Eigentor.
Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden
Diese Zitat von Oscar Wilde klingt nach purer Dekadenz, aber wenn wir genauer hinschauen, wird es komplizierter. Denn dann wird die Frage virulent, was denn das Beste ist. Wer hat darüber zu urteilen? Ist das beste Auto nun das Modell superschneller Flitzer oder der supersichere Panzer oder klein, wendig, stadttauglich, der repräsentative Straßenkreuzer oder das sparsame Ökoauto der Zukunft? Hängt davon ab, wo man lebt, wie man lebt und was man für Ideale hat.
Und so geht es weiter, der beste Wein, die beste Musik, die besten Bücher, Schuhe, Handtaschen, Maler klar, da gibt es Annäherungen, einen bestimmten Kanon, aber was, wenn einem das alles nicht zusagt, weil man anders sozialisiert wurde oder die Qualität noch gar nicht nachvollziehen kann? Als eines der besten Studioalben gilt Kind of Blue von Miles Davis, auf youtube kann man es hören. Ob all unsere LeserInnen spontan dahinschmelzen?
Wir sind ja längst an anderes angepasst, an den Massengeschmack und sind irritiert bis enttäuscht, wenn wir mal etwas bekommen, was von dem abweicht, das wir kennen. Wir erkennen Qualität keinesfalls immer. Die Supermarktweine werden – wenn man überhaupt Wein trinkt und nicht viel lieber Limo oder das gängige Szenegetränk, gerne die Kombination aus süß und alkoholisch anregend – als lecker empfunden, wenn sie bestimmte Erwartungen bedienen: Breit und schwer für den Roten, Apfel mit Bonbon für den Weißen. Die Tafel Schokolade aus echter Spitzenproduktion, 60 Stunden gerührt und aus besten Zutaten, kann oft einpacken gegenüber der überzuckerten Billigmarke, die man aus der Kindheit kennt.
Viele versuchen angestrengt das Beste als das zu empfinden, was führende Experten als herausragend anpreisen. Manche können, wenn sie sich die Mühe machen, dann auch noch artig referieren, was man davon zu halten hat und warum dieses Theaterstück, diese Modemarke, dieser Parfümduft als das Nonplusultra gilt, was man selbstverständlich genauso empfindet. Ein Leben, bei dem man gezwungen ist, das überragend finden zu müssen, was gerade als trendy deklariert wird und der manchmal angestrengte Versuch, den eigenen Geschmack stets in diese Richtung zu dressieren.
Finde Deinen eigenen Geschmack und Stil?
So durchschaubar das für manche ist, so leicht tappt man aber auch auf der anderen Seite in die Falle. Ist das wahre Gute zu finden, wenn ich ganz eigentlich, ursprünglich und authentisch werde? Alle Einflüsterungen abstreife und ganz zu mir selbst finde? Wer aber ist dieses wahre Selbst jenseits aller Einflüsse? Wir sind Wesen, die in Beziehungen leben und durch diese geprägt werden und sogar unser Selbst verdanken wir zu einem großen Teil den anderen, oder wie Jürgen Habermas es ausdrückt:
„Mir hat es nie eingeleuchtet, dass das Phänomen des Selbstbewusstseins etwas Ursprüngliches sein soll. Werden wir uns nicht erst unter den Blicken, die ein Anderer auf uns wirft, unserer selbst bewusst? In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich mir nicht nur meines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft.“[3]
Es kann nicht darum gehen, eine Ursprünglichkeit vor aller Erfahrung zu finden, weil wir Erfahrungen und Begegnungen gar nicht aus unserem Leben aussperren können, sondern Authentizität heißt, wenn überhaupt, eine Position jenseits der Einflüsterungen und Vorschläge zu finden und langsam zu etablieren. Oder anders: Man wird nicht als der geboren, der man ist, sondern wird erst zu diesem Menschen. Dann allerdings könnte sich ein eigener Stil, eine eigene Art mit den Dingen umzugehen herausbilden.
Aber das heißt in den seltensten Fällen, sich naserümpfend vom Mainstream abzuwenden, da dies ebenfalls oft nur eine Pose ist und damit die andere Seite des Mainstream gefesselt bleibt, nur eben auf negative Art, in dem man ihn verachten und drüber stehen muss. Das snobistische Gehabe derer, die wissen, was sie nicht wollen, aber eben nicht, was sie wollen, weil sie sich selbst nie kennen gelernt haben.