Irgendwie ist es angesagt, wenig zu schlafen. Spät ins Bett zu gehen und sich am Morgen mit der Aussicht auf einen Kaffee zum Aufstehen zu zwingen, zählt zu den ungeschriebenen Gesetzen unserer Work-Life-Balance-Kultur. Mittlerweile werden jedoch Forscherstimmen laut: Die Menschen in unserer westlichen Population bekämen zu wenig Schlaf.
Was ihr über den Schlaf wissen solltet, euch aber vermutlich noch nie gefragt habt. Vielleicht, weil ihr zu müde gewesen seid …

Wie wenig Schlaf ist zu wenig Schlaf?

Aus anthropologischen Studien weiß man, dass Menschen im Vergleich zu anderen Primaten deutlich weniger schlafen. Eine große Vergleichsstudie bezüglich der Schlafmuster von Primaten wurde kürzlich im »American Journal of Physical Anthropology« veröffentlicht. Anhand der biologischen sowie der Lebensstil-Faktoren erarbeiteten Charles Nunn von der Duke University und David Samson von der University of Toronto Mississauga statistische Modelle, um die nach der jeweiligen Spezies notwendige Schlafdauer vorherzusagen. Und tatsächlich hielten die meisten anderen Primatengruppen die in der Studie phylogenetisch vorhergesagte Schlafdauer ein. Der Mensch allerdings nicht. Er »entscheidet« sich dafür, umtriebiger zu sein.

Sieben Stunden oder besser länger?

Bettzeug, zerwühlt

Schlafen: für manche eine Notwendigkeit, für andere das Schönste auf der Welt © Maria Morri under cc

Die meisten Spezies (Primaten) schlafen zwischen neun und fünfzehn Stunden pro Tag. Menschen dagegen nur sieben. Gemäß der Analysen von Nunn und Samson müssten Menschen jedoch 9.55 Stunden täglich schlafen. Zu diesem Ergebnis kamen die Forscher unter Berücksichtigung unseres Body Mass Index, des Prädationsrisikos (Beute-Räuber), der Größe des Gehirns, unseres Bedürfnisses nach Nahrungssuche, der sexuellen Selektion und unserer Ernährung.

Mehr Rapid Eye Movement beim Menschenschlaf

Nunns und Samsons phylogenitische Prädiktion fand außerdem, dass Menschen einen unerwartet hohen Anteil an REM-Schlaf in Relation zur kürzeren Gesamtschlafdauer haben. Demzufolge vollführen wir weniger Non-REM-Schlaf (sog. Tiefschlaf). Der REM-Schlaf ist die Schlafphase, welche, nach Forschungskonsens, mit kognitiven Prozessen der Gedächtniskonsolidierung und dem Lernen in Zusammenhang steht sowie dem Abspeichern von Erinnerungen.

Erwägt man, welche Funktionen der REM-Schlaf hat, scheint der hohe Anteil von REM bei den menschlichen Schlafphasen nicht verwunderlich zu sein. Schließlich ist unser Gehirn enorm leistungsfähig und hat viel zu verarbeiten.
Aber welche Gründe könnte es geben für die allgemein kürzere Schlafdauer beim Menschen?

Weniger schlafen oder gefressen werden?

Nunn und Samson vermuten, dass die verkürzte Schlafdauer mit dem Schlaf auf dem Boden in Verbindung stehen könnte. Kurzum: Wir schlafen nicht mehr auf Bäumen. Demzufolge hat sich unsere Gefahr, als Beutetier herzuhalten, drastisch erhöht. Oder gar der Verlust des Lebens durch den Angriff von Artgenossen. Ergo: Weniger Schlaf.
Auf der anderen Seite, so die Forscher, ist weniger Schlaf auch eine Frage der Effizienz, bedenkt man, was man sonst in dieser Zeit alles machen könnte: lernen, innovativ sein, kreative Ideen umsetzen, sich sozialisieren … Fähigkeiten, die überlebensnotwendig waren und heute noch sind.

Unterschiedliche Schlafkultur

Frau schläft auf Tisch, daneben Kamera und Chips

Power Naps zählen in Japan zur Sorgfaltspflicht, damit man nicht zu wenig Schlaf bekommt. (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © Rick McCharles under cc

Anthropologische Studien unterstützen diese Annahme und zeigen, dass Schlafmuster interkulturell variieren können. Verglichen mit unserer westlichen Population, die sich zum Schlafen in sichere Häuser zurückzieht, hat die Jäger- und Sammlerkultur (am Beispiel der Hadza, einer Volksgruppe in Tansania), einen kürzeren (6.25 Stunden) Schlaf. Darüber hinaus soll der Schlaf der Hadza weniger »effizient« sein und nächtliche Unterbrechungen haben. Der Schlaf der Jäger- und Sammlerkultur ist als flexibel zu beschreiben, mit einer regelmäßigen morgendlichen Schlafperiode sowie Gelegenheitsnaps über den Tag verteilt. Die Flexibilität des Schlafes der Hadza sichert, so die Annahme der Forschergruppe um Samson, deren Überlebensvorteil.

Auch in Japan gehören Power Naps zum Alltag. Dort ist es gesellschaftlich akzeptiert, zwischendrin ein Schläfchen zu halten, und gilt als Erfüllung der Sorgfaltspflicht. Diese Naps können in der U-Bahn, im Park, sogar im Unterricht oder während eines Meetings getätigt werden. Vor dem Hintergrund des horrenden Arbeitspensums der Japaner scheinen die Naps allerdings nur ein kleines Zugeständnis an die Bedürfnisse des Organismus zu sein. Eher ein Trostpflaster.

Kaffee ist kein Allheilmittel

Es stimmt. Japan ist ein Extrembeispiel. Dennoch sollen es gemäß Nunn und Samson nun einmal 9.55 Stunden sein, anstatt der durchschnittlichen 7 Stunden pro Tag, die ein Mensch in unserem Zivilisationskreis »verschläft«. Schlafen wir in unserer auf Leistung und Hedonismus orientierten Gesellschaft demnach immer weniger? Oder können wir darauf vertrauen, dass sich unser Schlafrhythmus den jeweiligen Gegebenheiten anpassen wird? Regelmäßiger Kaffeekonsum sowie die Aufnahme anderer aufputschender Stoffe übertünchen den eigentlichen Schlafbedarf unseres Organismus, was auf die Dauer zu großen Defiziten führen kann.
Eine Antwort auf die Frage, ob wir zu wenig Schlaf bekommen, erhält man nicht nur aus der Anthropologie, sondern auch bei der Betrachtung möglicher Langzeitfolgen für Psyche und Körper. Forscher warnen, dass unsere Gesundheit ernsthaft in Gefahr zu sein scheint, wenn wir unserer Schlafstätte stets einen zu kurzen Besuch abstatten, wie im nächsten Artikel zu lesen sein wird.