Um Verlustangst überwinden zu können, sollte man zunächst ihre Ursachen verstehen. Wenn wir wissen, woher etwas kommt, können wir es besser einordnen und einen besseren Umgang damit schaffen. Verlustangst gilt als die Angst, verlassen zu werden. Einerseits kann sich die Verlustangst darauf beziehen, dass eine Trennung in der Partnerschaft von dem anderen Menschen herbeigeführt wird. Andererseits kann die Verlustangst aber auch damit einhergehen, dass man eine nahestehende Person durch ein unvorhergesehenes Ereignis wie einen Unfall oder eine Erkrankung verliert. Um die Ursachen von Verlustangst ausmachen zu können, kann es, wie so oft, hilfreich sein, in die Kindheit zurückzublicken.
Verlustangst aus psychologischer Sicht
Verlustangst ist ein Begriff, der häufig so dahingesagt ist. Doch er kann für diejenigen, die von starker Verlustangst betroffen sind, mit einem großen Leidensdruck einhergehen. Betroffene von Verlustangst bleiben mitunter länger in toxischen Beziehungen, obwohl sie deren Problematik schon erkannt haben. Jedoch kommen sie einfach schwerer von einer anderen Person los. Ferner ist das ständige Sorgen machen, einem anderen Menschen könnte etwas passieren, ein Bestandteil der Verlustangst, der selbstredend einen enormen Leidensdruck mit sich bringen kann.
Worin zeigt sich Verlustangst?
Verlustangst zeigt sich nicht nur vor dem Hintergrund von sozialen Beziehungen, sondern sie kann sich auch auf Gegenständliches beziehen. Sie kann auf einzelne Lebensbereiche gerichtet sein wie zum Beispiel den Beruf. Die Angst davor, den Job zu verlieren, bringt unter Umständen eine Existenzangst mit sich, die sich stark beeinträchtigend anfühlen kann.
Außerdem fallen gegebenenfalls heftige Gefühle der Eifersucht oder die starke Angst davor, sobald das Kind als Erwachsener später aus dem Haus ist, ebenfalls in den Wirkungsbereich von Verlustangst.
Manchmal kann die Verlustangst zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, nämlich wenn genau das eintritt, was man schon die ganze Zeit befürchtet hatte. Ein klassisches Beispiel ist das der Eifersucht. Wenn die Angst, den anderen Menschen zu verlieren, dazu führt, dass man ihn einengt, eifersüchtig ist, kontrollierend und übergriffig, dann kann am Ende eventuell genau das eintreten: Die Beziehungsebene wurde durch das Verhalten des Betroffenen so zerstört, dass die Partnerschaft letzten Endes zerbricht.
Etwas Verlustangst ist normal
Eine gewisse Portion Verlustangst ist normal. Verlustangst ist eine Emotion der Bindung, die aus evolutionärer Sicht sinnvoll ist, da soziale Bindungen das Überleben sicherten. Gerade bei den Kindern ist es evolutionär verankert, dass sie auf ihre Eltern orientiert sind. Vereinfacht ausgedrückt: Hätte die Steinzeit-Familie das Kind im Wald zurückgelassen, hätte es alleine wahrscheinlich nicht überlebt.
Doch wie kommt es in der heutigen Zeit zu einer übermäßig starken Verlustangst?
Verlustangst überwinden: Ansätze bei den Wurzeln finden
Nicht wenige Betroffene von starker Verlustangst haben als Kinder mitunter einschneidende Erfahrungen gemacht, bei denen sie einen Verlust oder eine Zurückweisung erlebt haben oder fürchten mussten. Ereignisse wie Scheidung, der Tod oder die schwere Krankheit eines Familienmitglieds können zu einer seelischen Belastung beim Kind führen, die für das Kind psychisch nicht bewältigbar ist und nicht selten auch ein traumatisches Erleben mit sich bringen kann.
Ein anderes Beispiel für eine Ursache von Verlustangst kann sein, dass die Bezugspersonen aufgrund bestimmter Verhaltensweisen, Gefühlslagen oder Konstellationen kein sicherer Hafen für das Kind waren. Ansonsten kann Liebesentzug oder bestrafendes Schweigen bei den Kindern zu einer starken Verlustangst führen. Das Gefühl, einem anderen Menschen nicht vertrauen zu können oder sich weniger liebenswert zu fühlen, wiegt schwer.
Mögliche Ursachen der Verlustangst in der Kindheit finden
Die Verlustangst kann auf ein Wechselspiel aus einer genetischen Veranlagung zu einer erhöhten Ängstlichkeit und entsprechenden Umweltbedingungen zurückzuführen sein. Zusammengefasst haben wir einige Ursachen in der Kindheit aufgeführt, die zu einer stärkeren Verlustangst im Erwachsenenalter beitragen können. Wer für sich eruiert, worauf die eigene Verlustangst fußt, schafft es mitunter, sich von den prägenden Erfahrungen abzugrenzen und die Verlustangst zu überwinden.
Gefühle der Verlassenheit
Möglicherweise hast du schmerzhafte Verluste in der Kindheit erlebt. Vielleicht hast du sogar deine Mutter an eine schwere Krankheit verloren und warst als Kind mit den Konsequenzen des Todes selbstredend überfordert. Der Umgang mit den Gefühlen der Verlassenheit überwältigte dich, da du ein Kind warst.
Vielleicht hast du beispielsweise durch die Scheidung deiner Eltern erfahren müssen, wie dieses einschneidende Ereignis dazu beitrug, dass du tatsächlich ein Elternteil weniger gesehen hast und die Bindung weniger intensiv wurde.
Eventuell hattest du auch starke Verlassenheitsgefühle, weil du für eine längere Zeit in einer Fremdbetreuung warst, wie zum Beispiel einem vorübergehenden Heimaufenthalt. Oder du warst einfach insgesamt in deiner Kindheit oft allein oder fühltest dich einsam und nicht verstanden.
Verlustangst überwinden: Differenzierung zwischen Kindheit und Heute
Es gibt viele Gründe, warum Kinder sich zurückgelassen und vereinsamt fühlen können. Die damaligen Empfindungen als Kind sind in unserem Gehirn abgespeichert. Was einst übermächtig wirkte, empfinden wir heute noch so, obwohl wir in vielen Fällen damit heute als Erwachsene besser umgehen könnten. Doch wir glauben, wir könnten es nicht. Sich diese Differenzierung bewusst zu machen, zwischen der Kindheit und dem Heute, kann ein Ansatzpunkt zum Überwinden von Verlustangst sein.
Den eigenen Gefühlen überlassen
Möglicherweise wurdest du in deiner Kindheit oft den eigenen Gefühlen überlassen, nicht aufgefangen und niemand zeigte dir, wie du mit Trauer, Angst oder Verzweiflung umgehen kannst. Oft sind Bezugspersonen, die mit eigenen emotionalen Unzulänglichkeiten zu kämpfen haben, überfordert von den Gefühlen der Kinder. Sie werden dann innerlich unterkühlt oder strafend oder verbieten die Gefühle, weil sie im Grunde die Gefühle des Kindes nicht aushalten und innerlich auf Abstand gehen müssen.
Verlustangst überwinden: Mit Gefühlen umgehen lernen
Haben Menschen solche Erfahrungen in der Kindheit gemacht, müssen sie in ihrem späteren Leben lernen, mit den Gefühlen und Ängsten gesund umzugehen. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt zum Überwinden von Verlustangst. Es gilt, die Emotionen anzunehmen, zu fühlen und wie auf Wölkchen vorüberziehen zu lassen.
Minderwertigkeitsgefühle
Vielleicht wurde dir in der Kindheit suggeriert, nicht gut genug zu sein oder etwas für die Zuneigung deiner Bezugspersonen tun zu müssen. Das muss nicht immer bewusst geschehen sein. Viele Eltern werden sicherlich versucht haben, ihr Bestes zu geben. Allerdings können problematische Erziehungskonzepte oder eigene seelische Belastungen dazu geführt haben, dass die Eltern sich nicht immer so verhalten haben, wie sie es hätten tun sollen.
Natürlich gibt es auch extremere Fälle von seelischer und physischer Gewalt und Vernachlässigung seitens der Eltern, die sich auf die kindliche Seele auswirken. Emotionale Gewalt ist diesbezüglich nicht zu unterschätzen. Bloßstellungen, Beschimpfungen, ambivalentes und unvorhersehbares Verhalten der Eltern, eventuell sogar die Androhung einer Trennung („Wir geben dich ins Heim“), kann neben anderen starken psychischen Belastungen und Erkrankungen eben auch zu Verlustängsten führen.
Verlustangst überwinden: Eigenen Wert erkennen
Zu wissen, dass das Verhalten der Bezugspersonen nichts mit dem eigenen Wert zu tun hat, kann dabei helfen, die eigene Verlustangst zu überwinden. Das Verhalten anderer sagt nur etwas über sie aus und nichts über dich.
Überbehütung und keine Erprobung
Sind die Eltern stark überbehütend, erproben sich die Kinder nicht in dem altersangemessenen(!) Aushalten von Trennungssituationen. Sie lernen nicht, dass die Situation vorübergeht und sie es aushalten können. Sie haben eventuell keine Möglichkeit, sich in ihrer Eigenständigkeit zu erleben. Eine ängstlich-unsichere Bindung ist von weniger Autonomie geprägt. Eine stabile-sichere Bindung bietet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Geborgenheit sowie der Entwicklung von Eigenständigkeit.
Verlustangst überwinden: Korrigierende Erfahrungen
Ein Ansatzpunkt, um die Verlustangst zu überwinden, kann es sein, für sich erfahrbar zu machen, dass man Trennungen überstehen und emotional aushalten kann. Es bedarf also korrigierender Erfahrungen. Wir können es schaffen, uns von Menschen, die uns nicht guttun zu trennen. Wir können Verluste überstehen. Die Erkenntnis, allein sein zu können, lässt uns stärker werden.
Eigene Bedürfnisse zurückstellen
In vielen dysfunktionalen Familien, wenn die Eltern oder andere Geschwister viel Aufmerksamkeit forderten aufgrund von eigenen seelischen Problemlagen, haben manche Kinder gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Von der Kindheit an mussten sie eher auf andere Personen orientiert sein, darum bemüht, die Harmonie zu wahren, und haben nie gelernt, sich auf sich zu konzentrieren. Das ging zu Lasten der Entfaltung des eigenen Lebens und der Individualität, zu Lasten der Autonomie, was wiederum die Verlustangst verstärken kann.
Verlustangst überwinden: Eigenes Leben in den Fokus
Sich auf die eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren und das eigene Leben mehr in den Mittelpunkt zu rücken, birgt einen Ansatz, um Verlustangst überwinden zu können. Durch die Konzentration auf dich lernst du, dich in deinem Leben und in dir selbst zu Hause zu fühlen.
Negative Erfahrungen: kumulierende Wirkung
Negative prägende Ereignisse und traumatische Erfahrungen können sich aufsummieren und die spätere psychische Last erhöhen. Viele Studien untermauern, dass frühere stressvolle Ereignisse bis hin zu Traumatisierungen (siehe chronische Traumatisierungen in der Kindheit) das Risiko erhöhen, nachfolgende traumatische Erfahrungen schwerer bewältigen zu können. Insbesondere von Menschen ausgelöste Traumata können mitunter das Risiko für eine psychische Erkrankung wie PTBS im Vergleich zu einem umweltbezogenen Trauma erhöhen. Neben der Schwere des Ereignisses ist es immer auch ein Zusammenspiel aus seelischen Belastungsfaktoren und seelischen Schutzfaktoren, das bestimmt, wie wir mit belastenden Ereignissen umgehen.
Ansatzpunkt für mehr Resilienz
Ein Ansatzpunkt für mehr seelische Widerstandskraft ist es, die seelischen Schutzfaktoren zu erhöhen. Natürlich kann man nicht einfach die Resilienz stärken und dadurch schwerwiegende traumatische Erfahrungen besser verarbeiten. Gerade wenn einem Schlimmes widerfahren ist, ist eine psychotherapeutische Unterstützung unbedingt empfehlenswert.
Trennung kann traumatische Erfahrung sein
Auch die Trennung von einer Partnerschaft kann mitunter eine traumatische Erfahrung sein. Wird das Ereignis als katastrophal wahrgenommen und löst eine seelische Überforderung und Verzweiflung aus, ist eine subjektive Traumabelastung gegeben. Mitunter kann ein früheres traumatisches Erleben in der Kindheit (bspw. Erfahrung von Verlassenheit und Ausgeliefertsein) in Verbindung mit einem neuen traumatischen Ereignis (bspw. eine Trennung im Erwachsenenalter) reaktiviert werden. Natürlich ist das nicht zwingend der Fall. Dennoch kann damit auch eine extreme Verlustangst einhergehen, weshalb wir es an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen.
Additive Wirkung: selbst bei einzelnen nicht traumatischen Ereignissen
Kumulative Traumata sind nicht außer Acht zu lassen. Sie beziehen sich auf eine Addition von Ereignissen, bei denen jedes einzelne vermutlich keine Traumatisierung ausgelöst hätte, die aber in der Häufung zu einer Traumatisierung führen können. Klassische Beispiele können Mobbingerfahrungen, Beschämungen und Bloßstellungen sein. Sie können zu Gefühlen der Minderwertigkeit führen. Damit verbunden kann eine Angst vor dem Verlassen werden sein, weil man eben aus der eigenen Sicht „nicht gut genug ist, um ein wertvoller Bestandteil einer Beziehung zu sein“.
Subjektives Erleben entscheidend
Bei der Verarbeitung von negativen Ereignissen geht es zuvorderst nicht um die „objektiv eingeschätzte“ Belastung durch das Ereignis. Entscheidend ist auch die subjektiv empfundene Belastung, also wie groß der empfundene Einschnitt ist, den ein Ereignis individuell auf die Psyche hat. Verlustangst kann demnach auf eine Anhäufung verschiedener negativer Erfahrungen, die seelisch nicht bewältigbar waren, zurückgehen.
Zusammenfassung: Verlustangst überwinden
Um Verlustangst überwinden zu können, kann man sich vergegenwärtigen, woher die Verlustangst kommt. Oft bewerten wir mit den einstigen Erfahrungen und Gefühlslagen aus der Kindheit die Befürchtungen und Erlebnisse von heute. Wir haben Angst, dass wir die seelische Belastung einer Trennung nicht aushalten können, weil wir uns an die damalige emotionale Ohnmacht in der Kindheit erinnern. Obwohl wir erwachsen sind und längst im eigenen Leben stehen, fühlt es sich emotional so an, als würde uns zum Beispiel eine tatsächliche oder antizipierte Trennung den Boden unter den Füßen wegreißen.
Ein Ansatz, um die Verlustangst zu überwinden, kann es sein, sich klarzumachen, dass die emotionale Interpretation des Erlebten noch auf der früheren Sicht eines Kindes beruht. In der Regel sind die damaligen Gefühle der Überwältigung heute als erwachsener Mensch aushaltbar. Eine korrigierende Erfahrung kann uns demnach zeigen, dass wir ein solches Ereignis nebst allen Verlassenheitsgefühlen bewältigen können. Die Gefühle zu durchleben (nicht zu verdrängen) und, trotz aller Ängste, Tränen und Zweifel, stärker daraus hervorzugehen, kann dem Überwinden von Verlustangst dienlich sein. Ansonsten wird von unserer Seite wie immer dazu geraten, sich eine begleitende Unterstützung durch eine Psychotherapie heranzuziehen, da psychologische Texte im Internet lediglich allgemeine Sichtweisen verdeutlichen und niemals auf den Einzelfall bezogen werden können.