Kleine Gruppen von Menschen sitzen auf einem Platz

Die Nähe und Distanz zu und in der Gesellschaft ist gerade ein großes Thema. © Darja Mitrovic under cc

Nähe und Distanz ist mit Blick auf Partnerschaften ein lohnendes Thema. Betrachtet man die Nähe und Distanz zur Gesellschaft ist das nicht anders.

Nähe und Distanz werden häufig als konflikthaft erlebt. Wenn beide Partner einer Beziehung sehr nah zusammen sein wollen und sich nichts schöneres vorstellen können, als dass der andere die ganze Zeit dabei ist, wo immer sie auch sind, dann kann das wunderbar sein. Treffen sich zwei Menschen, deren Vorstellung von Partnerschaft ist, einander maximale Freiheit zu schenken und sich von Zeit zu Zeit zu begegnen, glücklich und dankbar dafür, diesen anderen Menschen gefunden zu haben, der ihnen das gewährt, so ist das ebenfalls erfüllend.

Es ist jedoch fast der Normalfall, dass beides nicht optimal zusammen passt und man nach der Phase der Verliebtheit aushandeln muss, welche Grad an Nähe und Distanz man sich und dem anderen zugesteht, so dass man gut durchs gemeinsame Leben kommt.

Nähe und Distanz: Konflikt zur Gesellschaft

Etwas sehr ähnliches erleben wir in oder mit der Gesellschaft. Zur Gesellschaft hat man oft eine gewisse Distanz, ‚die Gesellschaft‘, das sind immer die anderen, nur dass alle anderen ungefähr dasselbe denken. Eine etwas ironische Definition wäre also, dass die Gesellschaft die Gesamtheit aller ist, mit Ausnahme jedes einzelnen.

Das zeigt aber schon, den Nähe-Distanz-Konflikt, denn so ganz wie die anderen möchte man ja doch nicht sein. Man schiebt sie innerlich weg. Die Gesellschaft, die Masse oder gerne mit spitzen Fingern angefasst, den Mainstream. So will man nicht sein und ganz gewiss ist man auch nicht so. So ganz allein will man aber auch nicht sein. Zwar sind wir vermutlich in einer Zeit, in der sich ein Hyperindividualismus oder Narzissmus zuvor nicht gekannten Ausmaßes breit macht, auf der anderen Seite ist das ‚ich bin anders‘ selbst schon wieder eine Massenbewegung und so ganz anders, als die anderen anderen will man dann ja doch nicht sein. Wenn die eigene Position attackiert wird, beruft man sich gerne auf Experten aus dem eigenen Lager, die das auch so sehen. Generell findet man Experten und Eliten zwar zweifelhaft, geht es um die eigenen, ist man sich sicher, dass diese eine Ausnahme sind, weil sie unbestechlich und nur der Wahrheit verpflichtet sind.

Dass diese Experten nicht immer den besten Ruf genießen stört wenig, denn ist man einmal überzeugt, zeigt einem, dass die eigenen Experten abgelehnt werden nur umso deutlicher, dass sie auf der richtigen Spur sind, denn die Mainstream-Experten und -Medien sind ja alle unaufrichtig und an Verwirrung und Volksverdummung interessiert, folglich müssen sie die integeren Wahrheitskämpfer ablehnen. Freilich ist auch die Tatsache, dass jemand von der Scientific Community abgelehnt wird noch kein echter Beleg für Wahrheit (oder nur nach der Konsenstheorie der Wahrheit), denn am Ende zählen die überzeugenderen Gründe. Aber, man beruft sich dann doch recht schnell auf seine Gemeinschaft.

Mich interessiert weniger, wer, wann Recht hat oder nicht, sondern, dass man dann doch wieder Zuflucht zu (s)einer Gruppe nimmt. Was man mit seiner Gruppe teilt ist eine verlässliche Sicht auf die Welt. Hier denken alle mehr oder weniger so wie ich, das verbindet uns.

Große und kleine Erzählungen

In einer gut funktionierenden Gesellschaft gibt es in der Regel eine große Erzählung, die alle Menschen mehr oder weniger verbindet. Auch hier ist es ähnlich wie in einer Partnerschaft oder kleineren Gruppe, man weiß oft gar nicht so genau welche Geschichte uns verbindet, es gibt kein strammes Narrativ, das immer herunter gebetet wird, aber wenn man dann nachfragt, können Paare doch erzählen, was sie eint. Bei Vereinen oder NGOs, die für einen sehr bestimmten Zweck gegründet wurden, ist das einfacher.

In der Gesellschaft sind diese Narrative oft verborgen, in den 1970ern existierte in Westdeutschland ein stilles Fortschrittsversprechen, die Gewissheit, dass es der nächsten Generation besser gehen wird, durch Fortschritte in Technik, Medizin, sozialen Errungenschaften, der Wirtschaft, den Arbeitsbedingungen. Es ging bei der Integration von marginalisierten Gruppen voran, kaum etwas wurde als schlechter werdend wahrgenommen, das prägte das Lebensgefühl dieser Zeit, brauchte nicht eigens betont zu werden – es war einfach so – und vielleicht wurde dieses Narrativ sogar erst im Rückblick klar, da wir wissen, dass es heute nicht mehr so ist.

Es gibt aktuell die eine große Erzählung für alle nicht mehr. Vielleicht ist der Zerfall nicht so dramatisch, wie manchmal behauptet wird, aber das worauf wir uns irgendwie doch noch alle berufen, wirkt bemüht, es fehlt die Begeisterung und Leidenschaft. Weil das so ist, haben kleinere, alternative Erzählungen Konjunktur, auch wenn sie fundamentalistisch sind, oder vielleicht gerade dann, weil hier die emotionale Wucht noch dabei ist.

Zu den Bedingungen dieser kleineren Erzählungen gehört, sich von der großen Erzählung abzugrenzen. Man empfindet sich als anders, will aber nicht als schlechter gelten, sondern oft als heimliche Elite, zwar oft verkannt, was aber nur daran liegt, dass die Gesellschaft schwerfällig, verschlafen oder verführt ist. So grenzen sich kleinere Gruppen oder Gesellschaftsschichten von der großen Erzählung ab, aber wenn man sich anschaut, wovon man sich da jeweils abgrenzt, so scheinen die Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft oder des Mainstream, im Spiegel der Abgrenzung doch sehr uneinheitlich zu sein.

Ist die Zeit der großen Erzählungen vorbei?

Vielleicht gibt es ja keine großen Erzählungen mehr, zumindest nicht bei uns. In manchen Staaten verbindet eine politische Ideologie die Menschen, wenn auch manchmal zwangsweise, noch immer haben Religionen einen sehr großen Einfluss, aber bei uns verfängt derzeit irgendwie jede Geschichte und daher bekommt niemand die eine Großerzählung hin und der stille Glaube an die bessere Welt für die nächste Generation ist Geschichte. Eher fragt man, ob die Kinder und Enkel das alles überleben werden.

Warum will man überhaupt eine Großerzählung etablieren? Der verständliche Gedanke dahinter ist oft, dass wir in einer friedlicheren Welt leben würden, wenn alle mehr oder weniger dasselbe denken und wollen. Verständlich, aber dennoch eher falsch, denn auch in Kulturen mit Einheitskleidung, Schuluniformen und dergleichen, grenzt man sich, dann eben durch subtilere Merkmale, von einander ab. Der Narzissmus der kleinen Differenzen, wie Freud ihn nannte, taucht gerade dann auf, wenn und wo man sich eigentlich nahe ist.

Man könnte akzeptieren, dass Menschen sich abgrenzen wollen. Nicht total, nicht für immer, wir sahen, dass auch Einzelkämpfer und Außenseiter sich doch gerne auf ihre Gemeinschaft berufen. Im Grunde ist das die Sicht des Pluralismus, der sich immer schon gegen die eine Erzählung für alle gewehrt hat und meinte, dass es eben viele mögliche Lesarten gibt, die alle gut und respektabel sind.

Die Stärke der vielen Ansätze und ihre Widersprüche

Zeichnet es uns nicht gerade aus, dass wir so verschieden sind? Als Individuen und auch als Weltgemeinschaft? Warum sich also darum streiten, wie andere leben sollten? Warum nicht vielmehr akzeptieren, dass alle anders sind, ihr Ansatz für sie aber gut und richtig ist? Alles andere ist eine Form vom Neo-Kolonialismus, Rassismus und einfach mangelnder Toleranz. Lasst die Menschen leben, wie sie leben wollen und alles ist gut.

Könnte man meinen, aber so ist es nicht. Ein pluralistisches Konzepte klappt nur, wenn die ganze Welt vom pluralistischen Gedanken beseelt ist, aber es gibt auch intolerante, totalitäre und unterdrückende Systeme auf der Welt. Sie deuten Toleranz und Freundlichkeit als Zeichen von Schwäche und Desorientierung, sie nehmen die Toleranz und Freiheit für sich zwar gerne in Anspruch, aber die gewähren sie den anderen nicht. Ein schroffe Asymmetrie.

Da Pluralisten oft eine Abneigung gegen Hierarchien haben und niemanden ausgrenzen oder demütigen wollen, meinen manche von ihnen, man müsse den unfreundlichen Zeitgenossen nur mit noch mehr Toleranz begegnen und irgendwann könnten sie dann gar nicht mehr anders als selbst tolerant zu werden.

Gewöhnlich ist die Toleranz der Pluralisten aber selbst sehr ungleich verteilt. Oft ist man übermäßig kritisch gegenüber der eigenen Kultur, Religion ist interessant so lange sie von anderswo kommt, das Christentum geht aber gar nicht. Man findet ein Verhalten bei fremden Männern bereichernd, was man den eigenen unter lautem Protest längst aberzogen hat. Man will die Stimmen derer, die Pluralismus doof finden und deren Toleranz heißt, ‚Na gut, wenn es denn sein muss‘ auch nicht gerne hören, sie sollten doch einfach mal die Klappe halten. Ihr Toleranzbegriff des maximalen Interesses am anderen sollte der Maßstab der Dinge sein.

Die Idee des Pluralismus wäre toll, wenn man sich trauen würde zu betonen, dass das einfach in vielen Fällen die bessere Idee ist, aber aus Angst jemanden zurück zu weisen, fordert man keine Symmetrie ein, man will nicht übergriffig sein, in der eigenen Gesellschaft ist man da in der Regel wenig zimperlich. Manche schaffen diese Schritte durchaus, doch andere bleiben in der Variante des Pluralismus hängen, die alle lieb haben und niemandem weh tun will, auch deshalb weil es für das eigene Ego sehr bequem ist, der oder die Nette zu sein. Man ist beliebt und wird gemocht, das tut gut.

Was vielen auf die Nerven geht

Doch nicht jeder will bei allen beliebt sein und sich mit allen gut verstehen. Manchen sind zu viele Kontakte auch eher unangenehm. Toleranz heißt auch diese Ansätze zu akzeptieren. Für manche ist die Welt zu wuselig, sie fürchten einen Verlust an Orientierung. Die verlässliche Enge ist für manche attraktiver, als die unsichere Weite der Freiheit.

Es gibt immer mehrere Optionen und Variablen im Leben. Das klingt so gut und frei, doch wie wir in Glück und Zufriedenheit (2) ausführten, hat das oft auch ein erschreckend überforderndes Element. Dennoch wollen wir auf immer mehr Vielfalt nicht verzichten, werden aber damit auch immer mehr Manager unseres Lebens und bestimmte Grundpfeiler des Lebens wackeln auf einmal auch. Früher war es nur für wenige Menschen eine Frage, ob sie männlich oder weiblich sind, heute ist das ein Faktor der Unsicherheit geworden, bei dem nicht ganz klar ist, ob das eher eine Modeerscheinung oder große Befreiungsbewegung ist, aber es vergrößert die Variablen bei der Orientierung im Leben.

Toleranz heißt aber auch nicht bunter werden zu müssen, sondern zur Not auch so Leben zu dürfen, wie man es vor 50 Jahren getan hat. Es heißt auch in Ruhe gelassen zu werden, wenn man das möchte. Was vielen auf die Nerven geht, ist, dass sie sich gegängelt fühlen. Sicher sind manche aus Prinzip gegen alles oder reagieren zumindest trotzig, aber viele möchten einfach eine bestimmte Art zu leben nicht übergestülpt bekommen.

Es ist ein klarer Missstand, wenn heute noch Frauen für die gleiche Arbeit weniger Lohn bekommen. Die Frage, ob wir noch immer in harter patriarchalen Strukturen in Deutschland leben, ist eher diskussionswürdig als eindeutig, der Trend sich irgendwie für Frauenfußball interessieren und sich irgendwie rechtfertigen zu müssen, wenn man das nicht tut, ist nach meiner Auffassung schon etwas drüber, auch wenn die Welt davon nicht untergeht. Natürlich sollen Frauen nach Möglichkeit überall auf der Welt das Recht haben jede Sportart auszuüben, die sie ausüben wollen, aber man sollte auch nicht dazu gedrängt werden, auch nicht subtil, das nun ganz begeistert angucken zu müssen.

Davon darf man sich genervt fühlen, aber er ganz sicher ist diese Frage wichtiger: Möchte ich eigentlich in einer Welt leben, in der es als Normalfall angesehen wird, dass Frauen sich unsicher und bedroht fühlen? Nähe und Distanz zur Gesellschaft sind ein ewiger Tanz, wie in Beziehungen auch. Es ist gut sich dafür zu inreressieren, was die anderen wirklich wollen. Vielleicht haben wir ja inzwischen genügend Solotänzer erlebt?