Was ist ein Ritual?

Das Ritual ist der praktische Ausdruck des Mythos oder eines Kultes, der eine Gesellschaft verbindet. Oft waren die Rituale an die Jahreszeiten angepasst, wie das Erntedankfest, ein an sich christliches Fest, das aber eine lange Reihe geschichtlicher Vorläufer hat.

Weihnachten, kirchliche Hochzeiten und Beerdigungen sind christliche Rituale die es bis in die Gegenwart geschafft haben und in gewisser Weise sind auch Fußballübertragungen, Krankenhauseinweisungen und Tatort schauen Rituale des Alltags. Rituale waren in frühen Zeiten mit orgiastischen Festen verbunden, in denen zum Teil rituell Drogen konsumiert wurden, doch dies bildete stets nur einen Teil des Ganzen ab. Das ist etwas, was in unserer Zeit verloren gegangen ist, Rituale, wenn man diese kollektiven Zusammenkünfte so bezeichnen möchte, haben oft den Charakter von Spaß und Feiern und bilden so zwar eine willkommene Auszeit aus dem Alltag, aber sie sind nicht mehr auf ein Ziel hin ausgerichtet.

Spaß und Entspannung sind Selbstzweck geworden. Wo kollektive Rituale an Bedeutung verlieren und fehlen, nehmen teilweise private Ersatzrituale den Platz ein. Rituale der Gesundheit, meistens verbunden mit einer bestimmten Form der Ernährung, Sport und Askese, mit denen man versucht die Ängste vor Krankheit und Tod unter Kontrolle zu halten.

Zwänge sind verpfuschte Rituale. Sie sind ritualisierte Handlungen, die zum Selbstzweck mutiert sind. Man putzt, um zu putzen, ordnet, plant, schließt und sortiert und hat dabei jedes realistische Maß verloren. Handlungen, die das Leben einfacher machen sollten, machen es auf einmal komplizierter. Doch irgend etwas ist verloren gegangen bei den Zwängen und Ersatzhandlungen, nämlich der kollektive Gedanke und die Ausrichtung auf ein Ziel hin.

Der Rückzug ins Private und kollektive Empörung

Ich weiß nicht, ob die Zwänge in unserer Zeit tatsächlich zunehmen, für uns alle offensichtlich nimmt aber die Enttäuschung und Empörung in der Gesellschaft zu. Und hier begegnen wir ihr dann wieder, der kollektiven Idee. Aber in einer negativen Form. Wir sind momentan dabei uns zu schützen und zu bewahren, was wir haben, psychologisch eine defensive Position, eine, die unangenehm ist. Der drohende Verlust macht ängstlich und unglücklich, zumal wir heute davon überzeugt sind, dass mit dem Tod alles aus ist. Was es zu erleben gilt, muss also schnell erlebt werden und es ist nicht mal ganz klar, was es dringend zu erleben gibt. Worum geht es eigentlich in diesem Leben, was macht ein gelungenes, ein gutes Leben aus. Analog einem Zeitalter in dem jeder sein eigener Programmdirektor ist, ist es nicht leicht, dies alles zu managen.

Neben der Enttäuschung ist der Rückzug ins Private eine Reaktion, mit der man versucht sich eine kleine Insel des Glücks zu bauen, vielleicht rackern wir uns auch deshalb so ab und möchten alles perfekt haben. Das kann gelingen, aber die Gefahr des Scheiterns und der Enttäuschung ist groß und dann ist da keine Gemeinschaft, die einen auffängt, denn auch die anderen sind dabei am privaten Glück zu basteln. Der Narzissmus ist als Thema und als Problem mit dem wir alle zu tun haben, sei es in der Partnerschaft oder bei bestimmten Berufen inzwischen bekannt. Es ist gut, dass das jetzt verstärkt thematisiert wird, aber nun ist es an der Zeit auch Lösungen zu finden. Doch nicht selten wird einer Partnerschaft zu viel aufgebürdet, wenn sie zum Religionsersatz wird.[2]

Für den mythischen Menschen war erstens, klar, wo die Reise im Leben hin ging, zweitens, fand ein wesentlicher Teil des Ganzen oft im Jenseits statt, zumindest aber gilt das Individuum als Rädchen im System, dessen beste Möglichkeit es war, sich anzupassen und die Autorität des Mythos und seiner Vertreter zu akzeptieren. Das steht einen individualistischen, aber auch einem narzisstischen Lebensentwurf diametral gegenüber und doch und gerade darum könnte ein kollektiver Mythos für eine Zeit eines sich ausweitenden Narzissmus eine Lösung sein. Denn es ist der Weg vom Narzissmus zur Neurose, von der Scham zur Schuld, der hier beschritten wird, worauf auch Don Beck hinweist.[3] Wir haben uns der Bedeutung von Scham und Schuld bereits in dem Beitrag „Normales und krankes Gewissen“ gewidmet.