Neben sich stehen. Sich innerlich wegbeamen. Nicht wissen, wo die Zeit geblieben ist, obwohl man eigentlich nichts unternommen hat. Erinnerungslücken. Das alles können Anzeichen von Dissoziation im Alltag sein. Doch nicht immer ist damit eine klinisch auffällige Symptomatik verbunden. Dissoziative Symptome variieren in ihrem Schweregrad und der Behandlungsbedürftigkeit. Nicht selten sind sie jedoch auch ein Schutzmechanismus aufgrund vergangener Traumata.

Dissoziative Phänomene: Ein Kontinuum

Der Schweregrad bei Dissoziationen ist auf einem Kontinuum angesiedelt. Leichtere Ausprägungen hat nahezu jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Neben sich stehen, das kennt jeder nur zu gut. Bei Belastungen im Alltag, emotionalen Konflikten oder Stress in der Partnerschaft »beamen« sich viele Menschen gedanklich weg. Sind die Herausforderungen so stark, wähnt man sich nicht selten in einer Art »Außen-vor-Position«. Es wird lediglich agiert, ohne dass derjenige vollständig mit seiner Wahrnehmung im Hier und Jetzt ist.

Aber auch bei Tätigkeiten, die automatisiert sind, neigen wir zum Abdriften. So sind einige Menschen bei einer entspannten Autofahrt auf der Landstraße gedanklich nicht mehr im situativen Kontext. Sie sind nicht mehr richtig »bei der Sache«. Die Gedanken und Gefühle werden dann nicht mehr im Einklang mit der aktuellen Wahrnehmung erlebt. Sie sind voneinander getrennt. Auch das ist rein faktisch eine Dissoziation, jedoch besteht bei dieser in der Regel keine klinisch relevante Auffälligkeit.

Klinisch relevante Dissoziationen

Insel im See mit Uferböschung und Bäumen, schwarz-weiß

Im weitesten Sinne zählt auch das gedankliche Abdriften zu den Anzeichen von Dissoziation im Alltag. © rossomoto under cc

Dissoziationen können soweit gehen, dass es zu einer schweren Symptomatik kommt, die zu starkem subjektivem Leiden und einer Beeinträchtigung im Leben führt. In Zusammenhang mit beispielsweise einer Borderline-Symptomatik, einer Posttraumatischen Belastungsstörung, Psychosomatischen Erkrankungen oder bei Depressionen können dissoziative Störungen auftreten. Diese kennzeichnen sich durch einen Verlust der psychischen Integration des Erlebens und Handelns. Betroffene empfinden keine Ganzheitlichkeit der eigenen Person mehr. Diese Phasen können von unterschiedlicher Dauer sein. Sie können sich auf Phasen des aktuellen Lebens oder auch rückblickend auf Erinnerungen beziehen.

Bei traumatischen Erlebnissen dient die Fähigkeit zur Dissoziation als Schutz, als Überlebensmechanismus. Zum Beispiel wenn ein Kind anhaltenden, schweren sexuellen Missbrauch erlebt, kann das dazu führen, dass es sein emotionales und kognitives Erleben von der aktuellen Wahrnehmung in der Situation abspaltet.

Unterschiedliches Erleben je nach Schweregrad

Professor David Spiegel von der Stanford University School of Medicine beschreibt im MSD Manual den Unterschied im dissoziativen Erleben je nach Schweregrad und klinischer Auffälligkeit so:

»Gelegentlich hat jeder leichte Probleme, seine Erinnerungen, Wahrnehmungen, Identität und Bewusstsein in Einklang zu bringen. Zum Beispiel kann es passieren, dass Menschen eine Fahrt unternehmen und dann feststellen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können. Es ist möglich, dass sie sich nicht erinnern, weil sie in persönliche Gedanken, eine Radiosendung oder in ein Gespräch mit einem Beifahrer vertieft sind oder einfach nur tagträumen. Solche Probleme, die man als normale Dissoziation bezeichnet, stören den Alltag typischerweise nicht

Versus:

»Demgegenüber können Menschen mit einer dissoziativen Störung Aktivitäten, die sich über Minuten, Stunden oder manchmal viel längere Zeiträume ereignet haben, vollkommen vergessen. Sie können das Gefühl haben, dass ihnen die Erinnerung an einen Zeitraum fehlt. Darüber hinaus fühlen sie sich möglicherweise von sich selbst, das heißt, von ihren Erinnerungen, Eindrücken, ihrer Identität, ihren Gedanken, Gefühlen, ihrem Körper und ihrem Verhalten losgelöst (dissoziiert). Oder sie fühlen sich von der Welt um sich herum losgelöst. Ihr Identitätsgefühl, ihre Erinnerung und/oder ihr Bewusstsein ist also bruchstückhaft

Welche Anzeichen von Dissoziation im Alltag?

Do not enter-Schild im Parkhaus mit Truck

Dissoziationen können ein Schutz sein. Sie verhindern beispielsweise im Gedächtnis den Zugang zu vergangenen traumatischen Erfahrungen. © tara hunt under cc

Zwischen den beiden Polen von verhältnismäßig harmlosen Dissoziationen im Alltag und klinisch relevanten mit der Beeinträchtigung des gedanklichen und emotionalen Erlebens und Funktionsniveaus im Alltag gibt es eine Grauzone.
Viele Menschen sind in dysfunktionalen Familienverhältnissen aufgewachsen, erwägen womöglich auch eine Psychotherapie, um zu heilen, sind allerdings nicht so stark beeinträchtigt, dass beispielsweise eine klinische Diagnostik nach ihrer Ansicht dringlich angeraten beziehungsweise eine engmaschige Betreuung oder ein stationärer Aufenthalt vonnöten wäre.

Dissoziative Alltagsphänomene

Um diese Grauzone der Dissoziationen im Alltag zu beschreiben, haben wir einige Aspekte zusammengetragen, die für dissoziative Phänomene stehen können. Diese können uns anzeigen, dass wir möglicherweise stärker belastet sind aufgrund von aktuellen Lebensumständen oder in Bezug auf die Aufarbeitung vergangener negativer Erfahrungen bzw. traumatischer Erlebnisse, als es uns auf den ersten Blick erscheinen mag. Kurzum, die nachfolgenden Punkte können eine Hilfestellung sein, um das eigene psychische Erleben und die Belastungen besser einzuordnen.

Anzeichen für Dissoziationen im Alltag können beispielsweise sein, wenn du …

  • … Schwierigkeiten hast, dich an alltägliche Aktivitäten zu erinnern.
  • … körperlich anwesend bist, aber mental nicht in der Situation zugegen bist. Manchmal fühlst du dich verwirrt, weil Gedanken und Realität zu verschwimmen scheinen. Du bist dir unsicher, ob etwas real gerade passiert ist oder du nur in Gedanken versunken warst. Auch Tagträume können für ein gedankliches Wegbeamen stehen.
  • … bestimmte Zeitfenster am Tag nicht mehr erinnern kannst. Die Zeit scheint wie im Fluge zu vergehen und du weißt nicht mehr, was du eigentlich gemacht hast.
  • … abdriftest, wenn dein Gegenüber etwas erzählt. Du nimmst gedanklich nicht mehr an dem Gespräch teil und hast Schwierigkeiten, dich wieder einzufinden.

Sei achtsam im Umgang mit dir

Ob die Anzeichen für Dissoziation im Alltag eine psychotherapeutische Diagnostik und Intervention anraten, das kann nur jeder für sich entscheiden. Niemand kennt deine persönliche Lage. Demzufolge dienen die genannten Anzeichen von Dissoziation im Alltag keiner Empfehlung, ob oder ob nicht eine Psychotherapie hilfreich sein könnte. Sie dienen lediglich als eine erste Einordnung, um zu verstehen, wie sich Anzeichen von Dissoziation im Alltag zeigen können.

Fallbeispiel: »Ich habe mein Dissoziieren nicht bemerkt«

Paula (Name von der Redaktion verändert) hat Psychologie studiert und ihr Studium an einer renommierten Universität mit einer Bestnote abgeschlossen. Im Anschluss machte sie eine psychotherapeutische Zusatzausbildung und arbeitet seitdem Teilzeit als psychologische Psychotherapeutin in einer Praxis. Außerdem ist sie im Bereich der klinischen Forschung an einer Universität tätig. Vom fachlichen Standpunkt her besitzt Paula also die besten Voraussetzungen, um über das Phänomen des Dissoziierens Bescheid zu wissen. Und dennoch blieben ihr ihre eigenen Dissoziationen für eine lange Zeit verschlossen.

Paulas Kindheit

Paulas Kindheit war von einem emotional missbräuchlichen Verhalten der Eltern geprägt. Teilweise wurden auch körperliche Bestrafungen eingesetzt. Viel schlimmer, so sagt sie, waren für sie jedoch die seelischen Schmerzen, wenn die Eltern sie ignorierten und ausgrenzten, weil Paula sich nicht nach ihrem Sinne verhielt. Lange Zeit hatte sie in der Kindheit oft das Gefühl, die Eltern wären auf der einen Seite eine eingeschworene Einheit und sie als Kind auf der anderen Seite allein und ausgegrenzt. Das wechselte ab und zu, etwa wenn Vater und Mutter sich stritten. Dann wurde Paula von beiden Konfliktparteien hofiert. Ihre Kindheit war also unter anderem vom ambivalenten Verhalten emotional unreifer Bezugspersonen und dem Ringen um Zuneigung geprägt.

Immer wieder abdriften

weißes Papier als Wellen gefaltet

Blickt Paula auf ihren Arbeitstag zurück, hat sie immer wieder weiße Lücken, bei denen sie nicht erinnert, was sie gemacht hat. © Robbert Bremer under cc

Als Erwachsene driftet Paula tagsüber gedanklich immer wieder weg. Die Arbeit stresst sie und sie hat ständig das Gefühl, die Zeit wäre ihr zu knapp, um die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Sie schafft einfach nicht so viel wie andere. Das ist ihr Eindruck. Wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt, fragt sie sich am Ende eines Arbeitstages oft, was sie eigentlich überhaupt geschafft hat. Wo die Zeit hin ist? An manchen Tagen läuft es gut, da schafft sie genug. An anderen Tagen ist ihre Arbeitsleistung für sie unverständlich minimal. Für das Lesen eines kurzen Fachartikels braucht sie an »schlechten« Tagen manchmal einen ganzen Vormittag, weil sie gedanklich immer wieder abwesend ist.

Der Arbeitstag: von weißen Lücken durchbrochen

Denkt sie am Abend an ihren Arbeitstag zurück, ist dieser »von weißen Lücken durchbrochen«, so sagt sie. Lücken, bei denen sie einfach nicht weiß, was sie gemacht hat oder ob sie überhaupt konzentriert bei der Arbeit war. Dementsprechend traut sie ihrer eigenen Arbeitsleistung nicht, kontrolliert ihre Arbeitsschritte immer wieder nach und wiederholt Arbeitsschritte, was zu weiteren Verzögerungen führt. Bei ihr entwickelt sich ein zwanghaftes Verhalten, stets prüft sie alles mehrere Male nach. Beispielsweise liest sie über ihre eigenen Sätze bei einem geschriebenen Text an die zehn Mal rüber. Sie weiß einfach nicht wirklich, was dort steht und ob das Geschriebene einen Sinn ergibt. Und das ist nicht etwa eine Seltenheit bei Paula, sondern es entwickelt sich zu einer häufigen Arbeitspraxis.

Demzufolge muss Paula immer größere Zeitfenster für ihre Arbeitsaufgaben planen. Weil sie ihrer eigenen Wahrnehmung und ihrer Konzentration zunehmend weniger traut, wiederholt sie stets die Arbeitsschritte, um einigermaßen gewiss sein zu können, dass ihr Arbeitsergebnis gut sein wird.

Paula wünscht sich mehr Konzentration und Leichtigkeit bei der Arbeit. Erst wenn die Angst kommt, zum Beispiel weil eine Deadline zur Abgabe verpflichtet, treibt sie die Angst dazu, sich stark zu konzentrieren und die Aufgabe endlich abzuschließen. So ergeht es ihr immer wieder. Diese Phasen wechseln einander ab: Gedankliches Wegdriften bei der Arbeit nebst Verzögerungen, gefolgt von der Angst, die sie antreibt, die Aufgabe abzuschließen. Selbstredend führen diese Phasen auf lange Sicht aufgrund der Anspannung zu chronischer Erschöpfung.

Die Konzentration auf das Heute: anstrengend

Auch bei ihren Patient:innen muss Paula sich immer öfter regelrecht zwingen, zuzuhören. Denn bei bestimmten Auslösern, wenn die Patient:innen ihr aus ihrem Leben berichten, ploppt bei Paula im Kopf etwas auf und sie driftet ab. Im Nachhinein kann sie sich an nichts mehr erinnern. Das Zeitfenster der vergangenen Minuten scheint nicht mehr existent zu sein. Paula weiß weder, was die Patient:innen ihr berichteten, noch weiß sie, ob sie selbst an etwas gedacht hat. Auch ist sie unsicher, ob sie die vergangenen Minuten überhaupt auf ihrem Stuhl gesessen hat. Diese Zeitfenster sind dann wie gelöscht in ihrem Kopf. Sie ist nicht wirklich da, nicht wirklich im Hier und Jetzt. Sie muss dann immer wieder nachfragen, um sich bezüglich des Erzählten zu vergewissern, damit sie ihre Arbeit gewissenhaft ausführen kann. Weil sie ihren Patient:innen nicht mehr gerecht werden konnte und zunehmend ineffizienter bei der Arbeit war, fühlte Paula sich ungenügend und ausgelaugt. Sie entschloss sich zu einer Therapie.

Therapeutische Aufarbeitung brachte Klarheit

Im Zuge ihrer eigenen therapeutischen Aufarbeitung lenkte die Diagnose Burnout auch den Fokus auf die Dissoziationen und eine traumatherapeutische Intervention. Jetzt wurde Paula klar, dass ihre Lücken im Tagesablauf Dissoziationen waren.

Seit der therapeutischen Aufarbeitung sind zwei Jahre vergangen. Heute kann Paula konzentriert arbeiten. In Momenten der Anspannung, in denen sie früher häufiger gedanklich abdriftete, ist sie heute vielmehr im Reinen mit sich und kann aufkommende Gedanken ad acta legen, weil sie diese bereits in der Therapie bearbeitet hat. Im Allgemeinen hat sich ihr Geist viel mehr beruhigt. Sollte sie Anzeichen von Dissoziation bemerken, schafft sie es, sich in die Gegenwart zurückzuholen und behält die Kontrolle über ihre Gedanken. Sie vergisst weniger und ist sich vollständig gewahr bei dem, was sie tut.

Ansonsten sorgt Paula für einen regelmäßigen Ausgleich mit genügend Entspannungsphasen im Alltag. Insgesamt ist sie viel mehr im Hier und Jetzt angekommen. Es fühlt sich für sie so an, als wäre sie endlich vollständig »da«.

Solltest auch du Anzeichen von Dissoziation bemerken, scheue dich nicht, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sei achtsam im Umgang mit deiner psychischen Gesundheit. Alles Gute von Herzen für dich!