Die verborgene Macht der Bewusstseinsentwicklung
Es geht nichts ohne Bewusstseinsentwicklung! Die Menschheit ist extrem anpassungsfähig und genau deshalb zu allem bereit und in der Lage. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass jahrzehntelanger Krieg genauso möglich ist, wie lang währender Frieden. Der Mensch kann hoch empathisch sein oder vollkommen rücksichtslos, egoistisch oder altruistisch, so dass man Ende die Frage übrig bleibt, wie man die eine Eigenschaft stärkt und die andere abbaut.
Die neuen Themen Energiewende, neue Formen des Konsums, ein Wandel im Renten- und Medizinsystem funktionieren nur, wenn man die Menschen auch erreicht und mitnimmt. Dass dies keinesfalls ein Selbstläufer ist, müssen Pressevertreter derzeit schmerzlich lernen. Doch auch der deutschen Politik laufen konstant die Wähler davon, ein Trend, der seit Jahrzehnten stabil ist und parallel geht mit einem Bedeutungsverlust weiterer, kollektiv sinnstiftender Instanzen wie Religion und Wissenschaft.
Doch nicht nur die Unterschicht wendet sich von der Gesellschaft ab, es gibt immer mehr Bürger, die den etablierten Institutionen den Rücken kehren, aber dennoch gesellschaftlich hoch engagiert sind.[2] Die verborgene Macht der Bewusstseinsentwicklung ist vielleicht die größte aller Mächte, denn nicht nur wer die Jugend in schierer Zahl hat, hat die Macht, kurzfristiger Machtgewinn zwingt immer auch dazu, den neuen Einflussbereich zu versorgen.
So einflussreich die Bewusstseinsentwicklung auch ist, so kompliziert ist sie auch. Explizit ist Ken Wilber dieser Erforschung nachgegangen und hat versucht in seinem integralen Ansatz ein Modell und Praktiken zu finden, die dieser Komplexität gerecht werden und die Entwicklung des Bewusstseins fördern, in allen Quadranten, Stufen, Linien, Typen und Zuständen.
Ein Individuum entwickelt sich nicht isoliert, sondern immer schon in einer Umgebung, nicht nur von Bäumen, Tischen und Nahrung, sondern auch von Sprache, Werten, Normen und Praktiken. Zunächst saugt das Individuum die Werte seiner Umgebung (in der Interpretation des eigenen Elternhauses) passiv wie ein Schwamm auf, doch beginnt schon das Kind in der Trotzphase mit seiner Macht zu spielen und zu experimentieren. Die Autonomie des Kindes wird im günstigen Fall im Laufe seiner Entwicklung immer größer, aber es ist eine Autonomie, die der Gemeinschaft ebenfalls nützt, wenn das Ich kreativ zu seiner ungehemmten Entfaltung kommt.
So zumindest der antizipierte Idealfall. Im Grunde gibt es zwei (oder noch mehr) Arten von Autonomie, eine schwache und eine starke:
- Schwache Autonomie ist die Fähigkeit (analog der Willensfreiheit) aufgrund selbstgewählter Prämissen zu entscheiden. Wie intensiv man dabei über das was man will reflektieren muss ist dabei nicht gesagt.
- Starke Autonomie umfasst ein tieferes, reflexives Durchdringen: Die Autonomie, die ich für mich einfordere, ist jene, die ich anderen ebenfalls gewähren muss.
Reflexion(svermögen), Empathie und anderes kann man aber nicht einfordern, aber kultureller Druck, Psychotherapie, spirituelle Ansätze wie Tonglen oder das moderne Mondo Zen können helfen, dass Individuen sich entwickeln und da gibt es inzwischen allen Grund zur Hoffnung für die, die wollen, wenn man im Hinterkopf behält, dass Entwicklung auch immer etwas mit Reifung zu tun hat und kein Sprint ist.
Die Gesellschaft hat es dann mit immer mehr reifen Individuen zu tun, die über das was sie wollen und ablehnen tatsächlich reflektieren können und es auch tun. Nahezu alle Systeme der Bewusstseinsentwicklung kommen relativ übereinstimmend zu dem Befund, dass dem reifen Individuum die anderen nicht mehr egal sind. Ob der Buddhismus oder Epikur, Kant oder Habermas, alle entlarven die, die nur bei sich bleiben, als kurzsichtige Vertreter.
Im Moment steht vieles auf der Kippe und man weiß nicht, wo die Reise hingeht. Es gibt eindeutig regressive und narzisstische Tendenzen in weiten Teilen der Bevölkerung, auf der anderen Seite gibt es progressive Kräfte, die effektiver sein sollen, als die Individuen vorangehender Stufen. Da wäre ich zurückhaltend, eine zu allem entschlossene mythischen Gemeinschaft, kann ebenfalls sehr effektiv sein und es ist eine der großen Herausforderungen (und Kränkungen) unserer Zeit, dass wir erkennen müssen, dass unsere so haushoch überlegen scheinenden Wertememe inzwischen an ihre Grenzen geraten. Von der Durchsetzungskraft der effektiven integralen Meme ist in der Praxis längst nicht so viel zu sehen, wie es theoretisch der Fall sein müsste, obwohl ich der integralen Bewegung durchaus zugeneigt bin.
Worin liegt die verborgene Macht?
Letzten Endes ist meine Position nach langer theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit dem Thema Bewusstseinsentwicklung die, dass man als Individuum davon tatsächlich profitiert. Es wäre vielleicht zu simpel zu sagen, dass ein reflektiertes Leben ein besseres Leben ist, aber es ist tiefgründiger. Wie alles ist auch das eine Gefahr. Vielleicht grübelt man manchmal zu viel, vielleicht neigt man zur Überheblichkeit und es wird eine Zeit lang schwer, wenn man nicht mehr die gleichen Interessen hat, wie die Mitwelt. Das ist wirklich eine Krisenzeit, weil man sich einsam fühlen kann und oft auch seinen über Gebühr auf die Nerven geht.
Und doch ist die Fähigkeit den Blick nach Innen und nach Außen richten zu können eine Bereicherung, umso mehr, wenn man Zusammenhänge zu erkennen glaubt. Wir brauchen vermutlich zum einen so etwas wie einen neuen Mythos, gemeint ist eine gemeinsame tragende Idee oder Vision für die Welt, für uns alle, damit wir ein Ziel im Leben haben und nicht nur unseren Wohlstand krampfhaft verteidigen. Am Extremismus mag man kritisieren, dass er nur Kümmerversionen anbietet, aber er bietet wenigsten welchen an, wir schauen oft in dein Röhre und werden Zeugen von frustrierendem Gemurkse. Zum andere müssen wir uns trauen auch das vordergründig gut Gemeinte unserer Zeit infrage zu stellen. Transparenz und Sharing bedienen öfter Voyeurismus und mehr Konsum, als der Grundgedanke meint.
Der Konformismus hat viele Gesichter, nicht nur das des alten, konservativen Spießers oder das des überkorrekten Gutmenschen. Durchschaut man einmal das Prinzip des Konformismus – einfach gesagt, eine feste Meinung aber keine Begründung dafür zu haben –, kann man die vielen Spielarten erkennen und sich selbst von dem Muster frei machen. Die andere Seite ist dennoch eine Heimat zu finden, die viele so dringend suchen. Der Weg ist individuell, doch die Versionen die sich bewährt haben, heißen Gemeinschaft und (Familie oder Wahlverwandtschaft) und Spiritualität, sie geben einem das Gefühl als autonomes Individuum Teil eines größeren Ganzen zu sein. Vieles spricht dafür, dass das eine sehr befriedigende Lösung ist.
Quellen:
- [1] Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht: Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Orell-Füssli 2003
- [2] Stephan Klecha, Stine Marg, Felix Butzlaff, Wie erforscht man Protest? Forschungsdesign und Methodik, in: Franz Walter u.a., Die neue Macht der Bürger: Was motiviert die Protestbewegungen?, Rowohlt 2013, S.15