Kind in Wasserfontänen

Neugierig, vergnügt und unbeschwert: so ist ein Teil der Kindheit. © GollyGforce under cc

Um das beste Lebensalter ranken sich Erfahrungen und Vorteile. Aber ist die Formel goldene Jugend, graues Alter wirklich zutreffend? Immer wieder müssen oder dürfen wir unser Bild modifizieren. Die Erkenntnisse, die man über das Leben gewinnt, sind in aller Regel solche aus der Rückschau. Wie auch sonst, könnte an fragen, alle paar Jahre oder Jahrzehnte zieht man vermutlich mehr oder weniger intensiv Bilanz über sein Leben. Dadurch kommen, im fortgeschrittenen Alter, die Projektionen ins Spiel, jene einer freien und unbekümmerten Kindheit. Ihnen wenden wir uns gleich detaillierter zu.

Der andere Punkt ist, dass man bei Rückblicken schon allein dadurch viel verzerrt, weil man sich an vieles aus der Kindheit nicht erinnert und zusätzlich, weil die Kindheit, im Gegenteil zu ihrer Würdigung, immens dicht ist. Überlegen Sie mal kurz, wie eine typische Biographie eines berühmten Menschen aussieht. Es werden die Eltern porträtiert, oft ist der Blick in die Kindheit nur kurz und dann geht das Leben los, was uns Leser wirklich interessiert, nämlich wie dieser Mensch so und zu dem geworden ist, den wir so interessant finden, dass wir seine Biographie lesen möchten. Das spielt dann alles in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter, die Wurzeln wurden oft jedoch in der Kindheit gelegt.

Oder simpler: Wenn wir uns irgendwo bewerben und unseren Lebenslauf einreichen, beginnt dieser in aller Regel mit der Grundschule und beinhaltet die Information, dass wir da waren, in der Regel vier Jahre lang. Eine individuelle Färbung bekommt unser Lebenslauf, wenn überhaupt, erst sehr viel später.

Wenn wir auf die Entwicklungsstufen blicken, dann finden wir in praktisch allen Ansätzen und Modellen diverse große Veränderungen und bedeutende Schritte in den ersten 10 Lebensjahren, während für die restlichen Jahrzehnte, in der Regel, eine, manchmal zwei Veränderungen stattfinden. Da wird uns an viele dieser Stufen, samt ihres Erlebens aber schlicht nicht oder nur in Fragmenten erinnern können, kommt sehr häufig so eine merkwürdig verklärte Version der Kindheit heraus.

Perinatal: Die Monate, um die Geburt

Wenn es einen Kandidaten für die beste Zeit gibt, dann liegt der sehr früh im Leben, nämlich noch in der Zeit, wo das Kind im Mutterleib ist. Bei gleichbleibender Temperatur schwebt das Kind im Mutterleib, muss weder essen, noch atmen, hört die vertraute Stimme der Mutter, sieht ein gedimmtes Rot und ist noch weitgehend eins mit der Mutter. Deren Stimmungen bekommt das Kind allerdings zu einem großen Teil auch mit, das Kind hat überdies eigene Empfindungen, denn es reagiert auf Reize und kommt ja, was das angeht ‚fertig‘ (zu affektiven Reaktionen fähig) auf die Welt. Ist dieser ozeanische Zustand und das maximale Umsorgtsein nun das Paradies, jenes, in das sich religiöse Menschen, in einem Irrtum, wie viele meinen, wieder zurücksehnen?

Das hängt vermutlich davon ab, ob man den Zustand maximaler Versorgung oder maximaler Autonomie eher als das Paradies empfindet. Nichts tun zu müssen, heißt auch, nichts tun zu können, außer zu sein. Doch auch bei aktiven und freiheitsliebenden Menschen werden Imitationen des Mutterleibs, in Samadhi-Tanks, beim gemeinsamem Schweben im körperwarmen Wasser oder bei anderen Zuständen des Nichtstuns, nach einer Phase der Gewöhnung, als ausgesprochen entspannend empfunden, allerdings zumeist als kurze Phase. Die Idee, dass der Organismus stets zu einem Zustand des Nichtstuns strebt, ist Irrtum, aus einer Zeit, in der man Körper als thermodynamische Einheit interpretierte.

Das Ereignis der Geburt kann für das Kind nicht schön sein, wir neigen zu der Auffassung, dass das Kind davon zwar viel mitbekommt, dies aber nicht speichern kann, da das hierzu notwendige Nervensystem noch nicht ausgebildet sei. Obwohl das Ereignis annähernd traumatisch sein kann, ist man nicht der Auffassung, dass Kinder, die per Kaiserschnitt auf die Welt kamen generell im Vorteil sind, sondern viele denken, diesen Kinder fehle etwas, sicher in Teilen auch eine ideologische Diskussion.

Danach verbringen Kindern einen großen Teil des Tages damit zu schlafen und Muttermilch zu trinken und manche spirituelle Traditionen sagen, die Kinder seien in diesen frühen Phasen im Schlaf noch auf den „ziehenden Wolken der Herrlichkeit“ unterwegs, in erleuchtungsähnlichen Seligkeitszuständen. Kann sein, auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, wie herzzerreißend und mitunter ausgedehnt Babys weinen und schreien und das tun sie nicht, wenn sie sich pudelwohl fühlen, so dass man glauben mag, dass die Herrlichkeit durch tiefe Verlassenheits- und vielleicht auch Ohnmachtsgefühle ausgeglichen sind.

Die glückliche Kindheit?

Wenn von der glücklichen Kindheit die Rede ist, ist jedoch in aller Regel nicht die Zeit um die Geburt gemeint, sondern es sind die Jahre des Aufwachsens mit den Eltern, in der Familie gemeint, in der nach Auffassung vieler die Welt noch in Ordnung war. Wenn man mal fragt, welche Zeit denn jene ist, in die man sich zurück sehnt, so ist das bei vielen die Zeit ihrer Kindheit, die nicht selten als eine glückliche beschrieben wird. Seltsamerweise auch dann, wenn die Eltern alles andere als fürsorglich und liebevoll sind, heißt es oft noch, früher seien sie aber anders und alles in Ordnung gewesen.

Vermutlich eine komplexe Mischung, einer verzerrten Erinnerung, die mehrere Elemente beinhaltet. Da unser Gedächtnis ein überwiegend sprachliches ist und große Teile dessen, was wir nicht in Begriffe fassen können, weil wir zu dieser Zeit noch nicht sprechen oder Sprache verstehen konnten, daher weg sind. Zudem gibt es die umstrittene Auffassung, dass noch nicht alle zur Ich-Empfindung nötigen Ich-Strukturen ausgebildet sind und das Gedächtnis in den ersten zwei Lebensjahren noch keine Ich-Repräsentationen ausbildet. Sind diese ausgebildet, fällt das, was man davor erlebte, sozusagen unter den Tisch und das Ergebnis ist die sogenannte infantile Amnesie, das heißt an die ersten beiden Lebensjahre haben wir keine Erinnerung.

Aber dann geht es los, mit der Erinnerung an die schönen Kindertage. Gemeinsame, unbeschwerte Erinnerungen an Ereignisse mit den Eltern, an Weihnachtsfeste, vielleicht Geburtstage, Ausflüge, Kuchen backen, mit Mama schöne Kleider ansehen, mit Papa in Stadion oder einfach die Möglichkeit selbstvergessen irgendwo zu sitzen und zu spielen, während man wusste, dass die Welt prinzipiell in Ordnung ist. Schön, wenn Kinder das erleben und kein Wunder, das man sich dahin zurück sehnt. Ausgeblendet werden dabei die weniger schönen Kindheitserinnerungen, die Verstörungen und Versagungen, die Verbote, die manchmal merkwürdigen Phantasien, die Kinder quälen, weil sie eben wie Kinder wahrnehmen. Typisch dafür ein Kind, das bitter weinte, obwohl es keinen offensichtlichen Grund gab. Als es endlich mit der Sprache rausrückte, war der Grund zunächst, dass das Kind nicht erwachsen werden wollte. Dann wurde klar, dass das Kind sich aus einer Bemerkung zusammen reimte, dass, wenn es erwachsen sei, es kein Kind mehr sei und es schloss daraus, dass es dann auch keine Eltern mehr hätte und daraus, dass diese sterben oder verschwinden würden. Nun, ein Fehlschluss, den wir vielleicht mit einem Lächeln quittieren, aber was für eine existentielle Katastrophe sind diese Gedanken für ein kleines Kind, dessen Eltern die einzigen Bezugspersonen sind. Auch Alpträume, in denen man nach Katastrophen der einzige Überlebende ist, sind in dieser Zeit nicht selten, was keinesfalls ein Glücksfall ist, sondern die eigentliche Katastrophe. Man ist allein, niemand mehr da, der einen schützt.

Wenn die Eltern sich streiten oder ungerecht strafen, nehmen Kinder das oft zum Anlass den Fehler bei sich zu suchen, da sie existentiell darauf angewiesen sind, dass die Eltern, wenn nicht gottgleich, dann doch mindestens fehlerfreie Superhelden sind, sind sie es nicht, büßen sie auch ihre Schutzfunktion ein. Die Eltern müssen als stark und fehlerfrei erlebt werden und zu diesem idealisierten Erleben der Eltern gehört, dass, was immer passiert, die idealen Eltern erhalten bleiben, das bedeutet, dass ungerecht oder willkürlich agierende Eltern nicht infrage gestellt werden, sondern die kindliche Deutung ist, dass man die Strafe verdient hat und von Grund auf böse oder verdorben ist. Ansonsten währen die Eltern mangelhaft und das wäre die größere Katastrophe.

Erziehung ist punktuelle Zerstörung der heilen Welt

Von dieser idealisierenden Weltsicht werden die Kinder schrittweise entwöhnt, wenn sie erzogen werden. Erziehung ist zum großen Teil ein punktuelles Zerstören dieser heilen Weltsicht. Wenn wir den Kindern beibringen, nicht einfach über die Straße zu gehen, bei fremden Hunden aufzupassen und vor spitzen und heißen Gegenständen warnen, dann bringen wir ihnen bei, dass die Welt nicht heil und nicht prinzipiell gefahrlos ist. Und zu diesen Ent-täuschungen im wörtlichen Sinne gehört auch, dass die Kinder ertragen lernen, dass auch die Eltern nicht perfekt sind und es auch nicht sein müssen, wenn alles halbwegs glatt geht.

Draußen spielen, Streiche machen, unendliche Neugier, sich ausprobieren, Spiele mit den Eltern, tolle Fernsehsendungen, Märchen hören, das ist dennoch das, was bei vielen in einer romantisierten Version von der Kindheit übrig bleibt. Wenn wir vieles auch verdrängt haben, vielleicht ist manchen noch die Erinnerung an die merkwürdig andere Zeiterfahrung der Kindheit präsent. Wenn wir hören, in ein paar Wochen passiere dies und das, ist das oft sehr nahe, für ein Kind unfassbar weit weg. Es hat noch keinen Begriff von ein paar Wochen und prozentual ist das in einem frühen Leben ein riesiger Anteil. Was ist schon ein Jahr? Wenn man zwei ist, die Hälfte des Lebens und mit acht noch immer ein sehr großer Teil mit 36 oder 78 sieht das deutlich anders aus.

Diese Zeit der Kindheit ist oft gefüllt mit Einsamkeit, Langeweile und Leerlauf. Man will sich bewegen und ist verdonnert, viel zu früh am Tag, Stunden in der Schule, oft gegen den eigenen Willen zuzubringen. Als Schlüsselkind sitzt man allein zu Hause, heute gibt es allgegenwärtige Computer, aber erstaunlicherweise ändern die nicht viel an der Grundstimmung. Für einen Kandidaten für das beste Lebensalter keine gute Voraussetzungen.

Aber meine Kindheit war schön, wird dennoch das Resümee vieler Menschen sein, das ist irgendwie auch tröstlich und schön, weil es zeigt, dass unsere Psyche es gut mit uns meint, wenigstens die Vergangenheit haben viele als einen Ort in sich, zu dem sie in Erinnerungen, wenn auch nur phantasierten und romantisierten fliehen können, etwas, was sogar dementen Menschen zu einem großen Teil erhalten bleibt. Wenn wir mitnehmen, dass wir die Kindheit, sofern nicht gewaltig etwas schief gelaufen ist, was leider auch öfter vorkommt, als schön erinnern, was aber nicht unbedingt stimmt, da wir geneigt sind die schönen Erlebnisse eher etwas besser zu erinnern und die schlechten zu verdrängen, dann haben wir das Muster erkannt, nach dem es im Grunde auch weiter geht.