Verunsicherung: Gefordert oder überfordert?

Jenseits der demografischen und politischen Probleme ist auch das Individuum immer mehr gefordert. Man muss in immer mehr Dingen kompetent sein, näheres dazu in „Die Kraft der zehn Prozent„. Der eigene Anspruch an Perfektion wird immer größer, dabei das Gefühl von Zeit haben und Autonomie immer geringer. Auch hier eine merkwürdige Paradoxie. In schöner Regelmäßigkeit erweisen Untersuchungen, dass wir eigentlich mehr Zeit haben als je zuvor und doch fühlen wir uns immer gehetzter.

Gefühlte Not hin, echte her, selbst wenn man heute formulieren würde, dass die Demografie ein Problem ist und Morgen ein Plan zur Änderung hätte, der umgehend erfüllt würde, greifen könnte das erst in 20 oder 25 Jahren. Und es würde heute mehr kosten, wäre aber für die Zukunft richtig. Und das ändert noch nichts am Klima oder anderen Problemen. Gibt es einen Ausweg? Aus meiner Sicht, ja.

Eine Frage des Bewusstseins

Es gibt gerade auf der politischen Ebene eine merkwürdig rigide Auffassung darüber, dass es bestimmte Probleme gibt, die einzig und allein kollektiv gelöst werden können.

Ein Essay in der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung bringt Hannah Beitzer als Thesen:

„Drei Lehren aus Pegida:

  • Wir alle leben in Parallelgesellschaften.
  • Der Rückzug ins Private führt zu einem politischen Integrationsdefizit.
  • Professionelle Akteure wie Politiker und Medienvertreter können den politischen Diskurs nicht alleine führen.“

So sehr man dem dritten Punkt zustimmen mag, Punkt zwei appelliert zu einer Rückkehr ins öffentliche Spiel, der womöglich stimmt, aber was macht man mit denen, die weg sind und längst resigniert haben? Die Antwort, dass man diese Menschen für den Diskurs und ein Interesse für die Gesellschaft zurückgewinnen muss, ist so richtig wie billig, denn wie soll das genau und ganz praktisch gehen?

Die Antwort ist hier weniger politisch, als vielmehr vom Individuum zu leisten, aber dieses reife Individuum muss erst einmal zu Interesse und einer eigenen Meinung gelangen. Nur gegen den Mainstream zu sein, ist zu wenig, ist einfach die noch immer unerwachsene Verweigerung dessen, was die anderen machen, weil die anderen es machen. Man ist aus Prinzip dagegen. Freiheit hieße selbst entscheiden zu können, welche Teile des Mainstream man für sich attraktiv findet und welche nicht, das eine zu tun und das andere zu lassen.

Aber der Weg in die Freiheit der eigenen Entscheidung ist der Weg über die zuvor erlernte Anpassung, das sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie seit etlichen Jahrzehnten. Diese Anpassung muss nicht sklavisch sein, aber was die Gesellschaft nun scheinbar von rechts am Kopf trifft, ist der Bumerang, den man nach links geworfen hat und der oft genug einen Verzicht aller Einschränkungen und Biederkeit forderte.

Doch anders als Vertreter konservativer Systeme, für die bei law and order eigentlich Schluss sein könnte, würden die meisten Entwicklungspsychologen betonen, dass konventioneller Gehorsam allenfalls eine frühe Zwischenstation ist. Die Reise geht weiter und beginnt jetzt überhaupt erst richtig spannend zu werden, hin zu jenem Individuum, dem man nicht verordnen muss, kann und braucht. Für oder gegen was es nun zu sein hat, sondern, das sich in die Lage versetzt sieht, eigenverantwortlich und klug zu entscheiden.

Diese Persönlichkeiten sind sicher nicht immer stromlinienförmig und unproblematisch, aber sie sind es, denen wir mit einigem Recht und begründeter Hoffnung mehr als den meisten Institutionen vertrauen können. Sie wissen von sich aus, wann es Zeit ist die Stimme zu erheben, sie sind selten bereit sich und andere für platte Ideologien verheizen zu lassen.

Mehr oder weniger Verunsicherung? Ein Wettlauf

Es wird nicht leicht, um nicht zu sagen vermutlich eng, aber es besteht eine realistische Chance, da wir derzeit – und ich glaube auch in nächster Zukunft – ein durchaus spannendes Wettrennen erleben. Es wird nicht nur eine Spaltung von Arm und Reich geben, diese Spaltung bringt auch mehr Spannungen und relative Armut hervor und damit mehr schwere Persönlichkeitsstörungen. Das wiederum heißt weniger Empathie, weniger Entwicklung, eine Affinität zu flacheren, perfektionistischen und sadistischen Weltbildern.

Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der Bildungsangebote, Austausch über Länder hinweg und Spezialwissen so frei und gut verfügbar sind, wie nie zuvor, so dass einzelne Individuen die Möglichkeit haben, etwas für ihre Persönlichkeitsentwicklung zu tun.

Statistisch werden sich mehr Menschen den seichteren Angeboten zuwenden, aber zugleich kann es immer mehr Menschen geben, die den Sprung auf eine weitgehend unideologische und im besten Sinne pragmatische (aber nicht folgsam angepasste) Ebene der Entwicklung schaffen. Diesen Menschen gehört die Zukunft, weil sie ihre Nischen finden und sich dennoch ein Gefühl für eine Verantwortung gegenüber dem Großen und Ganzen erhalten. Vertreter dieser zweite Gruppe können die Gesellschaft lenken (in allen Positionen der Gesellschaft, gar nicht mal als Politiker), neue und kreative Antworten auf die vielen Fragen unserer Zeit finden und helfen, die Verunsicherung zu dämpfen.

Jeder kann etwas tun

Die vielleicht beste Nachricht inmitten der kollektiven Verunsicherung ist, dass diese Möglichkeiten zum Durchstarten jedem zur Verfügung stehen. Unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und gesellschaftlichem Status, ist der Wille etwas aus sich zu machen, nicht zu bremsen. Das fängt mit Kleinigkeiten an, aber diese Bewegung hat kein prinzipielles Ende, möglicherweise aber das Potential Religion und Atheismus, Glauben und Vernunft zu versöhnen, eine Versöhnung, die auf der Ebene von Philosophie und Wissenschaft, wie auf der Ebene von Gesellschaft und Politik, vor allem aber in den Köpfen und Herzen von immer mehr Menschen stattfinden muss.

Der so oft geschmähte Rückzug ins Private ist da durchaus auch ein Teil des inneren Entwicklungsweges, ein Unterwegssein, eine Ruheinsel des Privaten, zu der man immer wieder zurückkehrt. Wenn Menschen, die oftmals unter Überforderung und Verunsicherung leiden, nun auch noch gesagt bekommen, sie sollten sich noch mehr öffentlich engagieren, verbessert das weder ihre Lage, noch ihre Stimmung. Entwicklung kann sehr wohl im Privaten stattfinden, da ein Reifen immer auch Zeit und Ruhe braucht.

Gleich wie resigniert, verbittert oder wütend jemand ist, Wut ist immer auch eine Energie, die positiv genutzt werden kann, und wer sich allein gelassen fühlt, kann eben durchaus versuchen, es alleine anders und besser zu machen. Die Verunsicherung besteht auch darin, dass viele etablierte Wege wegbrechen, doch das war immer schon eine Chance es anders zu machen. Neue Bündnisse, neue Eliten, neue Wege und Ideale formieren sich, gerade jetzt.

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