Polizist von hinten in Menschenmenge

Polizeipräsenz als Zeichen für und Hilfe gegen die Verunsicherung. © Konrad Lembcke under cc

Blickt man auf Deutschland in der Frühphase 2015, dann dominiert anscheinend ein Gefühl: die Verunsicherung. PEGIDA und Islamismus, Kalter Krieg 2.0, Krieg in der Ukraine und Eurokrise, Fragen nach Klimawandel, Energiewende, Rente, Kapitalismus, wie umgehen mit Demokratie und Menschenrechten, um nur manches anzureißen. Insofern auch ein Thema für uns, verbunden mit der Hoffnung, ein Verständnis für diese Prozesse zu ermöglichen, statt Schuldprojektionen hin und her zu schicken.

Plötzlich und unerwartet?

Bricht die Verunsicherung über einen oder über eine Region oder Gesellschaft herein, hat man oft das Gefühl, dies käme wie der Blitz aus heiterem Himmel. Eben war doch noch alles so ruhig und entspannt und nun das. Spannungen überall und das Gefühl, dass die Welt irgendwie langsam verrückt wird, man selbst kann dem Schauspiel nur hilflos zuschauen.

Doch gleichzeitig ist das die Stunde der vereinfachenden Welterklärer. Sie sind es, die das alles schon längst haben kommen sehen. Sie haben gleichzeitig Recht und Unrecht, nur oft anders, als sie selbst meinen. Sie sind überzeugt, dass sie inhaltlich auf dem richtigen Dampfer sind und genau das stimmt oft nicht. Ihre Deutungen sind häufig fundamentalistisch, aber so simpel sie sein mögen, es sind immerhin Angebote und so einseitig der inhaltliche Aspekt oft ist, in einem anderen Punkt liegen auch Fundamentalisten und Extremisten richtig: Erklärungen helfen.

Dabei ist der Inhalt der Erklärungen fast schon nachrangig, wichtig ist, dass man eine Erklärung hat. Dem Einzelnen gibt es das Gefühl, die Orientierung zurückzugewinnen und die Verunsicherung zu dämpfen. Problematisch ist, dass man dabei schnell in massenpsychologische Regressionsphänomene rutscht. Innerhalb einer Masse werden die vorhandenen Spannungen durch eine kollektive Regression abgebaut, in der auf einmal relativ schlichte Parolen, auch auf intelligente und gebildete Menschen, absolut überzeugend wirken.

Das Individuum fühlt sich besser, weil die Welt nun wieder einfach und geordnet ist. Man hat wieder einen klaren Feind und selbst wenn er Ängste auslöst, so ist doch wenigstens klar, wer er ist, wo die Guten und wo die Bösen sitzen. Das hilft dem Einzelnen.

Allein die Probleme sind so gut wie nie auf eine Ursache zu reduzieren und so sind auch die Antworten der Extremisten und Verschwörungstheoretiker zwar subjektiv hilfreich, aber oft genug nicht geeignet um die Probleme der Gesellschaft tatsächlich zu lösen. Dazu kommt, dass es immer eine andere Seite gibt, die ebenfalls ihre übervereinfachenden Antworten hat, das führt zu dem manchmal eskalierenden Streit.

Orientierungslosigkeit

Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Welt weitaus geordneter als das heute der Fall ist. Und wenn sie es nicht war, so schien sie zumindest so, man war überzeugt, in einer zu leben. Noch vor 30 Jahren ging man mit dem Gefühl in die Schule, dass man alle Zeit der Welt hatte und wer sein Studium nach 34 Semestern abbrach, galt nicht als gescheiterte Existenz, man hatte das Gefühl, dass es noch genügend andere Möglichkeiten gibt.

Dieses gehetzte Gefühl von Leistungsdruck, Praktika in den Ferien und einer diffusen Konkurrenz, die überall lauert, war einfach nicht vorhanden. Nachhilfe war den Lernschwachen vorbehalten und diente eher nicht dazu, um von einer guten zu einer sehr guten Schulnote zu gelangen.

Kurz, die Angst vor dem sozialen Abstieg war nicht vorhanden. Psychologisch ist das Gefühl, das was man hat, sei es wenig oder viel verteidigen zu müssen, etwas vollkommen anderes, als das wenn man ein wenig oder viel gewinnen könnte. Menschen, die das Gefühl haben auf dem aufsteigenden Ast zu sein, werden wagemutig, Menschen mit Verlustangst werden konservativ.

Wer allein mit trockenen Zahlen argumentiert, geht oft über die psychologische Situation der Menschen hinweg, die man erkennen und erklären muss. Es ist vor allem die Angst vor dem sozialen Abstieg, vielleicht noch stärker als von dem finanziellen, die gefürchtet wird, es ist die Angst nicht nur der Ränder, sondern des Mittelstandes.

Arm und Reich

Die weniger gute Nachricht: Die Angst ist durchaus berechtigt. Ein Symptom ist, dass wir eine zunehmend depressive Gesellschaft werden. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, sowohl in Deutschland, als auch weltweit und auch wer Arbeit hat, ist zuweilen arm.

Projektion statt Solidarisierung

Logisch und psychologisch ist nicht immer dasselbe, so auch hier. Man sollte meinen, dass es eine große Solidarität zwischen denen gibt, die Abstiegsängste haben, und denen, die es schon erwischt hat. Doch das ist nicht der Fall, denn psychologisch ist es viel leichter die anderen, die irgendwas falsch gemacht haben müssen, die Schuld für ihren Zustand zuzuschreiben, dann hat man selbst die Möglichkeit, es durch eigene Klugheit besser zu machen und sieht sich weniger bedroht.

Das Grundgefühl, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird, ist der Sorge gewichen, ob sie es noch halbwegs so gut hat, wie heute. Soeben wurde die Uhr des Weltuntergangs wieder auf einen Stand gestellt, wie seit 30 Jahren nicht mehr. Gut fühlt sich das nicht an und es ist die Angst einer sich bedroht fühlenden Mittelschicht.

Die Wende und das Ende des Aufstiegs

Zeitlich, aber vermutlich nicht inhaltlich, fiel die deutsche Einheit mit dem Ende des Aufstiegs zusammen. Aus der Korrelation wurde (fälschlich) eine ursächliche Verknüpfung gestrickt, auch hier waren aus Sicht vieler die Schuldigen schnell gefunden: die Ossis. Jahrzehntelang in ihrem kommunistischen Käfig eingesperrt, bekamen sie aus Sicht vieler Wessis von der Welt ohnehin nichts mit, waren teuer und obendrein auch noch undankbar.

Diesen Staffelstab, das Gefühl Menschen zweiter Klasse und teuer zu sein, geben einige Ostdeutsche – und ebenso sich bedroht fühlende Westdeutsche – aktuell an die Muslime weiter. Doch psychologische Erklärungen hin oder her, auch das Gefühl eines so oft zitierten diffusen Unbehagens muss man ernst nehmen, kann man nicht übergehen. Wie das Unbehagen jenseits radikaler Lösungen aussehen könnte, darüber muss politisch und gesellschaftlich gestritten werden, hilfreich für alle wäre eine Positivliste dessen, was man nun eigentlich genau erreichen möchte und für wen das gelten soll.

Die demografische Entwicklung in Deutschland und Europa

Doch das eigentliche Problem des sozialen Abstiegs könnte an ganz anderer Stelle liegen, nämlich im demografischen Niedergang Europas, der insbesondere auch Deutschland erfasst. Damit die Zahl der Nachkommen stabil bleibt, braucht eine Gesellschaft statistisch gesehen 2,1 Kinder pro Frau. Derzeit liegen die Zahlen bei 1,4 bis 1,6 Kindern und sind stabil niedrig. Um das ganze Problem zu verstehen, ist der Blick in die angrenzenden Länder wichtig. Der Trend geht klar dahin, dass Europas demografische Entwicklung in die Richtung einer Schrumpfung und Alterung geht. 40 Millionen weniger Einwohner werden 2050 in Europa erwartet, ob das gut oder schlecht ist, wird kontrovers diskutiert.

Der Hinweis darauf, dass unsere Gesellschaft ja nicht nur älter, sondern auch immer fitter wird, ist nur eine Momentaufnahme, die sich jederzeit ändern kann. Es ist vollkommen ungeklärt, warum so viele Menschen heute dement werden und Fitness und Erfahrungsvorsprung werden womöglich dadurch aufgefressen, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt. Niemand weiß, ob das einfach eine Alterserscheinung ist – aber so schnell sind nicht so viele Menschen älter geworden -, ein Slow-Virus, ein Stressgeschehen, soziale Ausgrenzung vieler alter Menschen oder eine Vergiftung. Einer der besten Lösungsansätze derzeit scheint aus der Naturmedizin zu kommen und heißt Johanniskraut.

Detailproblematiken müssen wir ausblenden, wie etwa die, dass das Potential älterer Menschen zwar immer wieder besprochen, aber nicht genutzt wird.

Verunsicherung: Gefordert oder überfordert?

Jenseits der demografischen und politischen Probleme ist auch das Individuum immer mehr gefordert. Man muss in immer mehr Dingen kompetent sein, näheres dazu in „Die Kraft der zehn Prozent„. Der eigene Anspruch an Perfektion wird immer größer, dabei das Gefühl von Zeit haben und Autonomie immer geringer. Auch hier eine merkwürdige Paradoxie. In schöner Regelmäßigkeit erweisen Untersuchungen, dass wir eigentlich mehr Zeit haben als je zuvor und doch fühlen wir uns immer gehetzter.

Gefühlte Not hin, echte her, selbst wenn man heute formulieren würde, dass die Demografie ein Problem ist und Morgen ein Plan zur Änderung hätte, der umgehend erfüllt würde, greifen könnte das erst in 20 oder 25 Jahren. Und es würde heute mehr kosten, wäre aber für die Zukunft richtig. Und das ändert noch nichts am Klima oder anderen Problemen. Gibt es einen Ausweg? Aus meiner Sicht, ja.

Eine Frage des Bewusstseins

Es gibt gerade auf der politischen Ebene eine merkwürdig rigide Auffassung darüber, dass es bestimmte Probleme gibt, die einzig und allein kollektiv gelöst werden können.

Ein Essay in der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung bringt Hannah Beitzer als Thesen:

„Drei Lehren aus Pegida:

  • Wir alle leben in Parallelgesellschaften.
  • Der Rückzug ins Private führt zu einem politischen Integrationsdefizit.
  • Professionelle Akteure wie Politiker und Medienvertreter können den politischen Diskurs nicht alleine führen.“

So sehr man dem dritten Punkt zustimmen mag, Punkt zwei appelliert zu einer Rückkehr ins öffentliche Spiel, der womöglich stimmt, aber was macht man mit denen, die weg sind und längst resigniert haben? Die Antwort, dass man diese Menschen für den Diskurs und ein Interesse für die Gesellschaft zurückgewinnen muss, ist so richtig wie billig, denn wie soll das genau und ganz praktisch gehen?

Die Antwort ist hier weniger politisch, als vielmehr vom Individuum zu leisten, aber dieses reife Individuum muss erst einmal zu Interesse und einer eigenen Meinung gelangen. Nur gegen den Mainstream zu sein, ist zu wenig, ist einfach die noch immer unerwachsene Verweigerung dessen, was die anderen machen, weil die anderen es machen. Man ist aus Prinzip dagegen. Freiheit hieße selbst entscheiden zu können, welche Teile des Mainstream man für sich attraktiv findet und welche nicht, das eine zu tun und das andere zu lassen.

Aber der Weg in die Freiheit der eigenen Entscheidung ist der Weg über die zuvor erlernte Anpassung, das sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie seit etlichen Jahrzehnten. Diese Anpassung muss nicht sklavisch sein, aber was die Gesellschaft nun scheinbar von rechts am Kopf trifft, ist der Bumerang, den man nach links geworfen hat und der oft genug einen Verzicht aller Einschränkungen und Biederkeit forderte.

Doch anders als Vertreter konservativer Systeme, für die bei law and order eigentlich Schluss sein könnte, würden die meisten Entwicklungspsychologen betonen, dass konventioneller Gehorsam allenfalls eine frühe Zwischenstation ist. Die Reise geht weiter und beginnt jetzt überhaupt erst richtig spannend zu werden, hin zu jenem Individuum, dem man nicht verordnen muss, kann und braucht. Für oder gegen was es nun zu sein hat, sondern, das sich in die Lage versetzt sieht, eigenverantwortlich und klug zu entscheiden.

Diese Persönlichkeiten sind sicher nicht immer stromlinienförmig und unproblematisch, aber sie sind es, denen wir mit einigem Recht und begründeter Hoffnung mehr als den meisten Institutionen vertrauen können. Sie wissen von sich aus, wann es Zeit ist die Stimme zu erheben, sie sind selten bereit sich und andere für platte Ideologien verheizen zu lassen.

Mehr oder weniger Verunsicherung? Ein Wettlauf

Es wird nicht leicht, um nicht zu sagen vermutlich eng, aber es besteht eine realistische Chance, da wir derzeit – und ich glaube auch in nächster Zukunft – ein durchaus spannendes Wettrennen erleben. Es wird nicht nur eine Spaltung von Arm und Reich geben, diese Spaltung bringt auch mehr Spannungen und relative Armut hervor und damit mehr schwere Persönlichkeitsstörungen. Das wiederum heißt weniger Empathie, weniger Entwicklung, eine Affinität zu flacheren, perfektionistischen und sadistischen Weltbildern.

Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der Bildungsangebote, Austausch über Länder hinweg und Spezialwissen so frei und gut verfügbar sind, wie nie zuvor, so dass einzelne Individuen die Möglichkeit haben, etwas für ihre Persönlichkeitsentwicklung zu tun.

Statistisch werden sich mehr Menschen den seichteren Angeboten zuwenden, aber zugleich kann es immer mehr Menschen geben, die den Sprung auf eine weitgehend unideologische und im besten Sinne pragmatische (aber nicht folgsam angepasste) Ebene der Entwicklung schaffen. Diesen Menschen gehört die Zukunft, weil sie ihre Nischen finden und sich dennoch ein Gefühl für eine Verantwortung gegenüber dem Großen und Ganzen erhalten. Vertreter dieser zweite Gruppe können die Gesellschaft lenken (in allen Positionen der Gesellschaft, gar nicht mal als Politiker), neue und kreative Antworten auf die vielen Fragen unserer Zeit finden und helfen, die Verunsicherung zu dämpfen.

Jeder kann etwas tun

Die vielleicht beste Nachricht inmitten der kollektiven Verunsicherung ist, dass diese Möglichkeiten zum Durchstarten jedem zur Verfügung stehen. Unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und gesellschaftlichem Status, ist der Wille etwas aus sich zu machen, nicht zu bremsen. Das fängt mit Kleinigkeiten an, aber diese Bewegung hat kein prinzipielles Ende, möglicherweise aber das Potential Religion und Atheismus, Glauben und Vernunft zu versöhnen, eine Versöhnung, die auf der Ebene von Philosophie und Wissenschaft, wie auf der Ebene von Gesellschaft und Politik, vor allem aber in den Köpfen und Herzen von immer mehr Menschen stattfinden muss.

Der so oft geschmähte Rückzug ins Private ist da durchaus auch ein Teil des inneren Entwicklungsweges, ein Unterwegssein, eine Ruheinsel des Privaten, zu der man immer wieder zurückkehrt. Wenn Menschen, die oftmals unter Überforderung und Verunsicherung leiden, nun auch noch gesagt bekommen, sie sollten sich noch mehr öffentlich engagieren, verbessert das weder ihre Lage, noch ihre Stimmung. Entwicklung kann sehr wohl im Privaten stattfinden, da ein Reifen immer auch Zeit und Ruhe braucht.

Gleich wie resigniert, verbittert oder wütend jemand ist, Wut ist immer auch eine Energie, die positiv genutzt werden kann, und wer sich allein gelassen fühlt, kann eben durchaus versuchen, es alleine anders und besser zu machen. Die Verunsicherung besteht auch darin, dass viele etablierte Wege wegbrechen, doch das war immer schon eine Chance es anders zu machen. Neue Bündnisse, neue Eliten, neue Wege und Ideale formieren sich, gerade jetzt.

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