Sind Freiheit und Manipulation nur Erfindungen?
Nein. Man muss sich davor hüten, Freiheit und Manipulation als bloße Erfindungen abzutun, denn das wir der Rolle und Relevanz von sozialen Konstruktionen in unserer Gesellschaft in keiner Weise gerecht. Es ist ein noch immer verbreitetes naturalistisches Vorurteil, dass man die Welt in einen realen und echten Anteil aufteilen kann, der aus mehr oder weniger Gegenständlichem besteht und in eine Welt sozialer Konstrukte, die wenn überhaupt so eine Realität zweiter Klasse darstellt. Immer mehr Forscher erteilen dieser Sichtweise eine Absage, eine der schönsten ist vielleicht die von Robert Brandom, die wir hier zitiert haben. Fakten, und der Verwiese auf sie, werden in Sprachspiele und Begründungen eingebunden, nicht umgekehrt. Sprachspiele und ihre Inhalte, die Kraft der Gründe und Argumente können naturalistisch überhaupt nicht erklärt werden, genauso wenig wie der Verweis auf Naturgesetze uns bei der Frage weiter hilft, ob Frauen wählen sollten oder wie man mit Homosexualität umgeht.
Wir müssen ein Bewusstsein für das Zusammenspiel von natürlichen und sozialen Konstrukten erlangen und hier spielen physikalische, soziale, formallogische und numerisch-mathematische, sowie fiktionale und eventuell noch spirituelle Fakten eine Rolle. Hieraus entwickelt sich jedoch sogleich ein neues Problem, denn wer sagt uns denn, wer im Chor der Meinungen und Stimmen nun Recht hat? Wann hat man denn seine Eigentlichkeit, Ursprünglichkeit, die wahre Quelle, das Ziel, sein Bestimmung oder wahre Natur gefunden und woran merkt man das? Oder alles in eine Frage gegossen:
Wann bin ich eigentlich nicht manipuliert?
Und woran erkenne ich das? Merkt man es daran, dass man sich subjetktiv gut fühlt? Das wäre ein schöner Indikator, schon wegen der prima facie Berechtigung, die man hat, wenn es um einen selbst geht. Aber gerade bei der Manipulation ist das ja so eine Sache. Stellen wir uns vor, jemand gerät in Kontakt mit einer sogenannten Sekte. Für die meisten ist das der Gipfel der Unfreiheit und Manipulation, doch gerade hier kann man sich im Selbsterleben angenommen und angekommen fühlen (oft allerdings nur in der ersten Zeit).
Oder man könnte Drogen nehmen, die einem eine wunderbares Gefühl vermitteln, doch ob man hierdurch bei sich ankommt, darf zumindest hinterfragt werden. Ob man manipuliert ist, kann in der Bewertung also nicht nur vom Einzelnen abhängen. Andererseits ist eine Sekte auch nichts anderes als eine Art Verkaufsgespräch. Nur die Bezahlungsart ist mitunter anders, das Reisebüro oder der Autohändler will nicht unbedingt die Persönlichkeit eines Menschen verändern, sondern nur dessen Geld haben, Mitglieder einer Sekte verlangen oft nach beidem.
Ist man nicht mehr manipuliert, wenn man zu seinen ursprünglichen Antrieben zurück gefunden hat? Oder diese zum ersten Mal gefunden oder erkannt hat? Aber auch hier: Warum müssen wir die Definitionen von Freud oder Fromm, Habermas oder dem Papst, Rousseau oder Kant oder sonst jemandem glauben, der meint in Gott, der Natur, der Gemeinschaft oder der Vernunft nun die absolute Quelle gefunden zu haben? Zumal die einen sagen, wir sollten zurück zur Natur, die anderen zur Vernunft, zu Gott oder dazu, die Religionen so schnell es geht hinter uns lassen.
Ursprünglicher muss nicht besser sein. Triebe und primäre Affekte sind sicher sehr ursprünglich. Aber ist es wünschenswert herrlich unverkrampft ihnen allen freien Lauf zu lassen, wo immer sie sich bemerkbar machen und gleich welcher Art sie sind? Dass das gesellschaftlich problematisch ist, wird man schnell erkennen, aber vielleicht macht es das Individuum froh? Man darf auch das bezweifeln. Menschen die sich hier nicht bremsen können, haben keine Impuls- oder Affektkontrolle und das sind in der aller größten Zahl der Fälle, Menschen, die nicht sonderlich glücklich erscheinen es wohl auch nach eigenem Empfinden nicht sind.
Es ist ja auch nicht so, dass ein Glockenton erklingt oder ein Licht brennt, wenn man endlich nicht mehr manipuliert ist. Man muss gar keine absurden Beispiele konstruieren. Wenn die Familie seit Generationen ein Handwerk ausübt oder Ärzte sind und die Nachkommen auch in diesem Bereich tätig werden, was ist das dann? Die Pflege einer Tradition? Ein willkommenes Sprungbrett? Oder Manipulation, weil man schon seit man auf der Welt ist mehr oder weniger in Richtung Dachdecker oder Zahnärztin geschoben wurde?
Wenn die junge Zahnärztin die elterliche Praxis übernimmt und beteuert, der Beruf hätte sie immer schon fasziniert, darf man ihr das glauben, oder merkt sie selbst einfach nur nicht, dass sie diesen Einflüsterungen subtiler Art erlegen ist, der nicht ihr ureigener Wunsch, sondern nur eine verinnerlichte elterliche Selbstverständlichkeit ist? Kann ein Mensch, der in den Dimensionen eines kapitalistischen Systems aufwächst mit diesem auch einverstanden sein, oder muss man den Kapitalismus verachten? Wir kommen darauf zurück.
Eine Frage der Logik
Vorstellungen und Ansichten gibt es viele. Wir haben einige davon und ihre Gegenargumente kennen gelernt. Es gibt bestimmte Deutungen, die in einem Zeitfenster oder einer Region mehr und mal weniger Gewicht haben. Aber gibt es davon abgesehen Wege die Güte von Argumenten unabhängig vom Zeitgeist zu erkennen?
Ja, es ist die Logik, die, wenn sie sich auf Aussagen bezieht, eine Art Vorauswahl leisten kann. Logik ist eine formale Wissenschaft und das heißt, sie bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern nur auf die Struktur einer Aussage. Wurde hier konsistent, also folgerichtig, argumentiert, oder ist das nicht der Fall? Das findet man mit der Logik schnell heraus und eine Argumentation, die hier versagt, muss man inhaltlich nicht mehr prüfen. Als Argument ist sie erledigt. Sofern eine genügend große Anzahl von Menschen sich in der Logik auskennen.
Aber etwas was logisch richtig ist, muss nicht zwingend stimmen.
Prämisse 1: Wenn es regnet, weinen die Engel.
Prämisse 2: Es regnet.
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Konklusion: Die Engel weinen.
Dieser Schluss ist logisch vollkommen richtig, dennoch glauben wir (in der Mehrzahl) nicht an die Existenz von Engeln. Die nächste Aufgabe wäre also die Prämissen zu prüfen und die Aussage von Prämisse 1 würden wir bezweifeln, weil wir für die Existenz von Engeln keine Gründe und Belege haben, die die Mehrheit überzeugt. Andererseits, welche Mehrheit muss denn überzeugt werden?
Deutungshoheit und Hierarchie
Vor einigen Jahrhunderten war der Einfluss von göttlichen Kräften auf alltägliche Ereignisse nicht nur denkbar, sondern sogar eine gültige Erklärung. Ist das nur ein Wechsel der Ansichten und Moden, so wie man eben mal diese mal jene Kleidung trägt? Die meisten Menschen heute glauben daran, dass unsere Zeit besser und fortschrittlicher in ihrem Wissen ist. Der Grund dafür ist, dass man in Überzeugung hat, mit der Wissenschaft ein System zu haben, was, anders als in der Ära des Mythos auch die eigenen Prämisse hinterfragt. Der Wissenschaft ist im besten Sinne nichts heilig, sondern sie ist ein System, das sich ständg selbst verbessert und optimiert.
Zumindest in der Selbstdarstellung. De facto werden die Prämissen der Wissenschaft und die supernaturalistischen oder metaphysischen Wurzeln des Naturalismus dann doch nicht so radikal hinterfragt, so dass man eine eigenartige Mischform findet, in der die Anhänger des wissenschaftlichen Weltbildes zu einer Art Glaubensgemeinschaft versammeln. Dieses mythisch-rationale Weltbild haben wir bereits vorgestellt.
Sind wir also doch manipuliert? Gaukelt man uns eine Objektivität und Redlichkeit vor, die es gar nicht gibt? Jein. Wir müssen die Wissenschaft als Ideal und die die Wissenschaft in ihrer täglichen Anwendung und Praxis trennen. Im Ideal ist das System Wissenschaft, wenn es nicht allein auf Naturwissenschaft verengt wird, erfolgreich und gut, wir alle profitieren davon. In der Praxis ist das System anfällig, weil die darin arbeitenden Menschen eben ideologischen Einflüsterungen ausgesetzt, von Geldgebern abhängig und normalen menschlichen Eitelkeiten ausgesetzt sind.
Sind wir alle manipuliert? Manipulation hieße, dass jemand es besser weiß, dass jemand weiß, dass etwas eigentlich nicht so ist und es bessere, zumindest aber andere plausible Erklärungen gibt und diese beispielsweise unterdrückt. Ich glaube, dass das nur selten der Fall ist. Viele Wissenschaftler sind im besten Sinne Überzeugungstäter und glauben an das, was sie tun. Wer aber in der Überzeugung lebt, dass er Recht hat und uns, aus seiner Sicht, etwas vom Gipfel der vermuteten Erkenntnis mitteilt, der ist eher Missionar, will aufklären, nicht im engen Sinne manipulieren. Doch die Wirtschaftselite und intellektuelle Elite sind in vielen Fällen nicht kongruent und dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten der Manipulation.
Die höchste Kunst der Manipulation
Das Weltbild des aufgeklärten Westens ist, wenn man es von der Elite der Scientific Community aus betrachtet, ein wissenschaftliches. Wer sich also auf Vernunft und den Gipfel der Erkenntnis beruft, der braucht heute keinen göttlichen Segen, sondern wissenschaftlichen. Wenn der Glaube an das bestmögliche Ergebnis mit dem Glauben an die wissenschaftliche Erklärung zusammenfällt, trifft das Ideal vieler Menschen in unserem Kulturkreis und unserer Zeit mit der Realität, dem Ritterschlag, „wissenschaftlich geprüft“ zusammen.
Die Werbung richtet sich in relativ plumper Weise danach, indem sie, wenn es seriös erscheinen soll, den Wissenschaftler oder Arzt im weißen Kittel auftauchen lässt. Damit kann man die Mehrheit derer beeinflussen, die an die Wissenschaft glaube, ohne sie zu verstehen aber es gibt auch Menschen die kritisch sind und auch die will man bewerben und manipulieren. Auf plumpe Aussagen und Fakestudien fallen diese Menschen nicht rein, wenn die Aussagen in einem genügend seriösen Kontext daher kommen, nicht nur auf Hochglanzbroschüren, sondern in den führenden wissenschaftlichen Journalen. Zum einen tun das Cyberkriminelle, um bewusst zu betrügen, zum anderen ist es aber auch eine Strategie, Studien so zu frisieren, dass sie in führenden wissenschaftlichen Magazinen erscheinen können.
Andere Zeitschriften schreiben aus diese Quellen lediglich ab, so dass die höchste Kunst der Manipulation in einem wissenschaftlich geprägten Weltbild die ist, ganz oben, am Gipfel der Erkenntnis und den diese Erkenntnis verkündeten Organen selbst anzusetzen. Einigen Herausgebern dieser Journale ist das schmerzlich bewusst und so versuchen sie ständig die Qualität zu verbessern und nehmen Kritik, auch am Peer Review Verfahren, an und ernst.
Das Gegenmittel gegen Manipulationsversuche
Manipulationsversuche und Redlichkeit ringen ständig mit einander. Man kann also nie vollkommen sicher sein, dass nicht versucht wird zu manipulieren. Aber es gibt ein Mittel dagegen und das heißt Reflexion. Hilfsmittel sind eigenes Nachdenken, die Aussagenlogik und ihre Regeln, gesunder Menschenverstand, die Prüfung von Prämissen und von Quellen. Kritisch in alle Richtungen zu sein, ohne dabei paranoid zu werden, ist gut. Skeptiker sind oft nur selektiv kritisch, ihr eigenes Glaubenssystem (von dem sie oft nicht wissen, dass es sich um ein Glaubenssystem handelt) hinterfragen sie nicht.
Das führt uns zur letzten Frage, wo ein eventuelles Ende aller Fragen liegt.